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S.
6.I.25.
Dear Brill,
Diesen Brief schicke ich nicht durch die Post, sondern übergebe
ihn Dr. Rank zur Übersendung nach seiner Ankunft. Seien Sie nicht
erstaunt darüber. Etwas Unerwartetes, aber sehr Erfreuliches hat sich
zugetragen. Rank ist umgekehrt, ist wieder der Alte geworden und hat
mir überzeugende Beweise gegeben, dass er wieder unser volles Vertrauen
verdient.Es ist eine sehr merkwürdige Geschichte, die ich Ihnen brieflich
nicht aufklären kann. Fragen Sie ihn selbst, er wird bereit sein, Ihnen
mitzuteilen, was für Ihr Verständnis notwendig ist. Ich will Ihnen
bloss erzählen, dass er Ende November von neuem nach Amerika abreiste,
aber in Paris Kehrt machte und zur allgemeinen Überraschung nach
Wien zurückkam. Acht Tage später bat er mich um eine Unterredung, in
welcher er mir vollen Einblick in seinen Zustand und seine Motive gab.
Ich sah ihn in einer tiefen Depression und erfuhr, dass er die ganze
Zeit über in einer Art von manischer Ergriffenheit eine Unzahl von
Dingen gemacht hatte, die zu seinem Verderben führen mussten. Infolge
einer besonderen Verkettung kam er in Paris zu sich, wurde von Sehn-
sucht ergriffen, die Seinigen wiederzusehen und bekam in den nächsten
Tagen allmählich die Klarheit, die ihm bis dahin gefehlt hatte und die
um den Preis einer Verstimmung nicht zu teuer erkauft war. Wir haben
dann wiederholte Male zusammen gearbeitet, um die verhängnisvolle
Konstellation seiner Neurose zu entwirren und ich glaube, es ist ge-
lungen, er hat sein früheres Selbst wiedergewonnen, allerdings tief
beschämt und erschüttert. Ich meine, es ist jetzt Zeit, dass wir ihm die
Sympathie zeigen, die er sich durch fünfzehnjährige treue Arbeit ver-
dient hat und die Toleranz, die ein genesener Kranker beanspruchen darf. -
S.
Die Hauptabsicht seiner neuen Reise nach Newyork ist nun, gutzu-
machen, was er durch sein unentschiedenes oder suspektes Verhalten
angerichtet hat. Er bleibt auch dabei, dass seine Newyorker Analysierten
die Andeutungen, die er ihnen gemacht hat, übermässig übertreiben
und missverstehen. In Wirklichkeit dürften sie die unbewussten Absichten
richtig gedeutet haben, zu denen er sich selbst damals nicht offen
bekennen wollte. Jedenfalls kann sein direkter Widerspruch und seine
offenen Darlegungen jede Spur der Abfallsbewegung verwischen, die uns
zu drohen schien.Ich zweifle nicht, dass er eine schwierige Aufgabe vor sich hat,
rechne aber darauf, dass Sie ihn bei der Lösung derselben unterstützen
werden. Ihr eigenes Ansehen kann nur ausserordentlich dabei gewinnen,
wenn jetzt Rank selbst all das bestätigt, wofür Sie in seiner Abwesen-
heit zur Zeit, da er feindlich zu sein schien, eingetreten sind. Es
wäre vielleicht das Zweckmässigste, wenn Sie es ihm ermöglichen würden,
eine Reihe von Diskussionsabenden abzuhalten, an denen er Rechen-
schaft über seine frühere analytische Tätigkeit ablegt. Diese Diskussionen
müssten all denen, die er analysiert hat, ohne Honorar zugänglich sein.
Sie müssten ja nicht im Rahmen der Vereinigung stattfinden und ich
hoffe, Sie werden sich daran beteiligen. Scheint Ihnen dieser Weg nicht
zweckmässig, so erwarte ich, dass Ihre Geschicklichkeit einen andern
finden wird. Gewiss aber rechne ich darauf, dass Sie ihm die Hand
bieten werden, sich zu rehabilitieren und im Einvernehmen mit uns für
die richtige Analyse zu wirken.In Betreff seiner Theorie ist er jetzt noch zu keiner sicheren
Entscheidung gekommen. Er sieht ein, dass er sich in manchen Stücken
geirrt, in andern weit über das Ziel geschossen hat, aber er ist gegen-
wärtig noch nicht imstande, sich den Gegenstand – nach Überwindung -
S.
II.
seiner Komplexe – objektiv zu überlegen. Die
Entscheidung darüber, was und wieviel an
seinen Neuheiten richtig und brauchbar ist,
kann man ja ruhig der wissenschaftlichen
Diskussion überlassen, die nun bald ihren
Anfang nehmen wird.Ich bin natürlich sehr froh, dass es
so ausgegangen ist und rechne zuversichtlich
auf Ihre unentbehrliche Mithilfe, die arg
verwirrte Situation in Newyork in Ordnung
zu bringen. Die Gutmütigkeit, die wir alle
an Ihnen kennen, bürgt mir dafür, dass Sie
jetzt ebenso bereit sein werden, ihn zu
unterstützen, wie Sie vorhin gerüstet waren,
ihn energisch zu bekämpfen. Schreiben Sie
mir, bitte, bald, was für Eindrücke Sie
haben und wie es zugeht. ---Meinen kleinen Ernst, an den Sie sich
so liebenswürdig erinnern, habe ich in ein
Sanatorium (Dr. Pedolin) nach Arosa schicken
lassen, weil bei ihm das bekannte suspekte -
S.
Drüsenfieber aufgetreten ist. Die für ihn be-
stimmten 10 Dollar werden heute an ihn abge-
schickt. Hoffentlich überwindet er seine
Faulheit so weit, sich artig bei Ihnen zu be-
danken. Von uns anderen ist sonst nichts
Schlechtes zu berichten. Ich arbeite immerhin
6 Stunden im Tag und verfolge mit gemischten
Gefühlen die Zeichen von steigender Popularität,
die sich jetzt auch in Europa erkennen lassen.Sehr erfreut zu hören, dass es Ihnen allen
wohl geht. Grüssen Sie Ihre Frau auch von
mir! Ich erinnere mich noch immer an die grau-
schwarze Negerin, die uns seinerzeit bei der
ersten Mahlzeit in Ihrem Haus bedient hat, an
das Krokodil und die Gradiva. Aber jetzt sind
Sie ja in einer neuen Wohnung.Mit herzlichem Gruss und besten Wünschen
für 1925
Ihr
Freud