• S.

    19. X. 12

    Mein lieber Dr Brill

    Ich habe eben Ihren Brief erhalten. Er ist so,
    wie ich ihn von Ihnen, von Ihrem Urteil
    u Ihren persönlichen Gefülen für mich erwarten
    konnte, u ich bin stolz darauf. Es ist wirklich
    zu bedauern, dass NY soweit von Wien ist,
    u daß Sie heuer verhindert waren zu kom̄en.
    Der Sachverhalt ist ja schriftlich kaum darzu-
    stellen, ich muß ihn verkürzen u vergröbern.

    Sie haben mir selbst - wie auch andern - er-
    zält, daß es in seinem Verhalten gegen mich
    bereits einmal eine starke Schwankung
    gegeben hat. Nun hat sich ziemlich unvermittelt
    eine neue eingestellt. Die beiden Züge, die
    seinen Charakter enthalten, das ungebändigte
    Stück männlicher Brutalität u die Portion
    femininer Unverläßlichkeit u Coquetterie
    haben sich gegen mich gekehrt u mich
    endlich genötigt, den freundschaftlichen Ver-
    kehr durch einen rein objektiven zu ersetzen.
    Gleichzeitig sind seine schlecht unter-
    drückten antisemitischen Gefüle wieder
    zum Vorschein gekommen. Er ist in Wahr-
    heit in starker Neurotiker, hat eine
    floride Hysterie mit Krampfanfällen
    in der Pubertätszeit u noch später sonderbare 

  • S.

    Zustände gehabt, von denen er anderen erzält
    hat, aber nie mir. Er hat einen schlechten
    Vaterkomplex, den er jetzt an mir sättigt
    wie früher an Bleuler. Ich habe ihn leider
    schlecht behandelt, ihm zuviel geglaubt u
    nachgegeben. Es ist mir jetzt gut gelungen,
    mich im Gefül von ihm loszumachen.
    Daß er in Zürich Anhänger für seine
    neuen regressiven Ansichten gefunden
    hat, erklärt sich aus dem gemeinsamen
    Ausgangspunkt der ganzen Bewegung.
    Das war jene Zeitungskampagne, in der sich
    die Z Analytiker plötzlich aus der Gunst
    des Publikums geworfen sahen u sich sehr
    ungeschickt verteidigten. Da wurde ihnen
    angst u bange u sie begaben sich in die
    Vorsicht, Milderung, Sublimirung etc, ent-
    fernten sich zusehends von den beiden an-
    [...]stößigen Momenten, der Sexualität
    und dem Unbewußten. Jung hat diese
    Gelegenheit für die Erfüllung seiner
    ehrgeizigen Pläne genützt. Im Allgemeinen
    scheint es, dass der Wahrheitsenthusiasmus
    unserer Schweizer Freunde mit einem
    guten Stück bürgerlicher Vorsicht
    gefüttert ist.

    Alle Züricher und Jung selbst erschöpfen sich
    in Versicherungen, dass sie eine Sezession
    nach dem Muster Adler’s nicht wollen 

  • S.

    u eine rein wissenschaftliche Differenz
    in objektiver Weise austragen wollen. Diesen
    Boden können wir akzeptiren. Wir streben
    also danach die Differenz persönlich nicht
    zu vergrössern, wollen beisam̄en bleiben,
    damit unsere Organe nicht geschädigt werden
    u uns Zeit lassen, abweichende Meinungen
    kühl auf uns wirken zu lassen. Im Hinter-
    grunde ahnt uns natürlich nichts Gutes;
    die Schwierigkeit Juden u Christen unter
    einen Hut zu bringen, hat sich wieder
    einmal eklatant gezeigt. Zu denen, die
    durch die neuen Aufstellungen nicht im
    Geringsten erschüttert worden sind,
    gehören hier Ferenczi, Rank, Sachs
    und Jones, gewiß auch Abraham, den ich
    lange nicht gesprochen habe. Wenn ich Sie
    jetzt dazu rechnen darf, woran ich übrigens
    nicht einen Moment gezweifelt habe,
    so möchte ich Ihnen gegen Jung eine Politik
    raten, die sich mit den obigen Grundsätzen
    deckt. Persönlich sich ferne halten, weil
    ja gar nichts Freundschaftliches von ihm zu
    erwarten ist, wissenschaftlich kühl bleiben
    die Linie fortfahren, die Sie so richtig in
    der Diskussion getroffen haben. Daß man
    sich die Sache erst sehr genau überlegen
    müsse, ihm die Kenntnis seiner geheimen
    Motive nicht verraten, auch nicht versuchen, 

  • S.

    ihn durch Analyse oder Argumente abzubringen,
    vielleicht aber mit den greifbarsten wissenschaft-
    lichen Einwendungen nicht ganz zurückhalten.
    Ihre Aufgabe wird es dann sein, in der amerik.
    Gesellschaft kritisch zu wirken, daß Ansichten,
    die einen unzweifelhaften Rückschritt bedeuten
    nicht zuviel Anhänger gewinnen.

    Daß er mehrere Monate drüben bleiben
    will, habe ich nicht gewusst. Vielleicht nim̄t
    er den alten Plan zu übersiedeln wieder
    auf, das Geld hat ja für ihn einen
    ganz besonderen Reiz. Was mit dem
    nächsten Kongreß u der Praesidentenwal
    werden wird, weiß heute noch niemand.
    Ich bin gegen jeden Lärm u jede auffällige
    Veränderung. Vielleicht setzen Sie sich dann
    mit Ferenczi u Jones (dessen Frau ich behandle,
    u der mir sehr ergeben ist) darüber in
    Verbindung.

    Ich danke sehr für Ihre lieben Glückwünsche.
    Meiner Ältesten geht es wieder ganz gut;
    auch ich bin gesund u recht leistungsfähig. Über
    Mrs Liebmann schreibe ich Ihnen nächstens.
    Heute wollte ich Sie nur rasch informiren.
    Die Nachrichten über das Gedeihen Ihres Töchter-
    chens haben mich sehr erfreut. Ihrer Frau
    meinen herzlichen Gruß.

    Ich drücke Ihnen freundschaftlich die
    Hand
    Ihr getreuer
    Freud