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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    26.XI 15.

    Lieber Freund

    Mein Brief war voreilig. Am selben Tage 
    kam Ihre Sendung an, leider nur eine, 
    die andere, die Sie als „bessere“ bezeichnen, 
    auf die ich also sehr neugierig bin, ist 
    noch ausgeblieben.

    Ich wußte gar nicht, daß mir Ihre Kritik 
    von R & H zuerst nicht gefallen, glaube 
    es nicht recht u bleibe damit auf Ihre 
    Autorität angewiesen. Vielleicht hängt 
    Ihre Behauptg mit meiner Gewohnheit 
    zusam̄en, im vertrauten Verkehr die 
    Ausstellungen immer voranzustellen.

    Zur Kritik von Mach muß ich aber Einiges 
    bemerken. Ich meine, sie entbehrt der 
    Distanz, steht noch zu sehr unter dem 
    frischen Eindruck der Lektüre, bedarf 
    einfach der Anwendung Ihres Rezepts: 
    prematur mit entsprechender Reduktion. 
    Anfang u Ende sind sehr schön u zeugen für 
    Ihre künstlerischen und poetischen Qualit-
    äten wie seinerzeit die funktionale 
    Oedipusdeutung. Von Einwendungen 
    habe ich zwei: Erstens soll man nie 
    jemand für einen Analytiker 
    erklären, der es nicht sein will wie 
    der Klosterbruder Nathan als Christen 
    reklamirt. Er weiß gewöhnlich nicht, 

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    daß man ihm eine Ehre erweisen will, und 
    wird leicht grob zum Dank dafür. Auch 
    macht es einen anlehnungsbedürftigen 
    Eindruck. Von Mach weiß ich, daß er 
    sich die Traumdeutg von mir schicken ließ, 
    um sie kopfschüttelnd bei Seite zu legen. 
    Zweitens, u dies ist eine wirkliche Schwäche 
    der Arbeit, daß Sie nicht in der Lage sind 
    ihm an Beispielen nachzuweisen, welche 
    Aufklärungen er durch seine Unkenntnis 
    der ΨA zu geben versäumt hat, bis auf 
    ein Beispiel, das vom Tonkneten. Ich 
    weiß freilich auch nicht mehr, aber wird 
    eben Ihr Bedauern beim Leser ohne 
    Wirkung bleiben. Die Organprojektion 
    hätte eine aktivere Verteidigg ver-
    dient. Haben Sie den Aufsatz in der 
    Imago III von Giese, Sexualvorbilder bei 
    einfachen Erfindgen, nicht in Betracht gezogen? 
    Dieselbe Imago läßt also um etwas 
    Umarbeitung bitten. Rank wird Ihnen 
    die Arbeit zurückschicken.

    Hier wenig Neues. Ich bin wieder besser 
    in Gesundheit. Wissen Sie schon, daß es 
    Verbrecher aus Schuldbewußtsein giebt, 
    das natürlich vom Oedipuskomplex 
    stammt? Und Stotterer, die das Scheißen 
    auf das Sprechen projizirt haben? Das 
    hat mich ein neuer, sehr klarer Fall 
    gelehrt.

    Herzliche Grüße in Erwartung 
    Ihr 
    Freud

    Bekommen Sie Urlaub zu Weihnacht?

     

    Anmerkungen Ernst Falzeder:
    funktionale Oedipusdeutung:
    Ferenczi 1919, 219; Schriften I, S. 291.
    Ib., S. 293.
    Fritz Giese (1890‑1935), „Sexualvorbilder bei einfachen Erfindungen“; Imago, 1914, 3: S. 524-535. Giese war Lehrer an der Technischen Hochschule in Stuttgart.

    Vgl. den 3. Abschnitt aus Freuds Arbeit EEinige Charaktertypen aus der psychoanalytischen ArbeitD (1916d): `Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein@.

    Dieser Fall Freuds wurde von Ferenczi in ESchweigen ist GoldD (1916, 191) angeführt (Schriften I, S. 231).

    Ferenczi, „Nonum prematur in annum“ (1915, 162).  Der Titel bezieht sich auf Horazens `Nonumque prematur in annum@ (Dichtkunst 388) (`Und bis ins neunte Jahr muß es verborgen bleiben@ nämlich das Meisterwerk, an dem der Dichter so lange arbeiten soll).

    Symbolische Darstellung des Lust‑ und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos (Ferenczi 1912, 92).

    Klosterbruder: Nathan, Nathan! / Ihr seid ein Christ! Bei Gott, Ihr seid ein Christ! / Ein beßrer Christ war nie!
    Nathan: Wohl uns! Denn was / Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir / zum Juden!@ (Gotthold Ephraim Lessing [1729-1781], Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen [1779], IV, 7). Vgl. auch Pfister an Freud, 29.10.1918, Briefwechsel, S. 64.