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    Prof. Dr. Freud
    Wien, IX. Berggasse 19.

    15 Dez 14

    Lieber Freund

    Neuer Beweis für die Kleinheit der Welt. Einer 
    meiner spärlichen Pat. war einige Tage vor Ihrem 
    Brief in Ihrem lieben Pápa und hat mir die 
    Abfahrtzeiten ¿¿¿ verraten, aber gemeint, es sei 
    nicht möglich an dem nämlichen Tage zurück-
    zukom̄en. Mein Besuch bei Ihnen ist durch 
    das energische Wiederauftreten meiner 
    chronischen Darmbeschwerden jetzt in Frage ge-
    stellt. Die Karlsbader Wirkung hält nun 
    schon das dritte Jahr durch 4 Monate an.

    Dafür geht es mit der Arbeit wieder gut. 
    Ich lebe, wie mein Bruder sagt, in meinem 
    privaten Schützengraben, spekulire u schreibe 
    und bin nach schweren Kämpfen durch die 
    erste Reihe der Rätsel u Schwierigkeiten 
    gut durchgekom̄en. Angst, Hy und Paranoia 
    haben kapitulirt. Wie weit sich die Erfolge 
    treiben lassen, werden wir ja sehen. Es 
    ist sehr viel Schönes dabei herausge-
    kom̄en, die Neurosenwal, die Regressionen 
    glatt erledigt. Ihre Introjektion hat sich als 
    sehr brauchbar erwiesen, in den Phasen 
    der Ichentwicklung einige Fortschritte. 
    Die Bedeutung des Ganzen hängt davon 
    ab, ob es gelingen wird, das eigentlich 
    Dynamische dh das Lust‑Unlustproblem 
    zu bewältigen, woran ich nach meinen 

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    Vorversuchen eigentlich zweifle. Aber auch ohne 
    dies darf ich mir sagen, daß ich der Welt bereits 
    mehr gegeben habe als sie mir. Ich bin von 
    der Welt jetzt und durch die voraussichtlichen 
    Folgen des Krieges auch später mehr isolirt 
    denn je und weiß, daß ich für 5 Leute 
    in der Gegenwart schreibe, Sie und die wenigen 
    anderen. Meine Sympathien als Analytiker 
    hat Deutschland nicht verdient, vom gemein-
    samen Vaterland wollen wir lieber 
    nicht reden.

    Nun ist auch mein Schwiegersohn Max in Hmbg 
    assentirt, wird allerdings erst in unbestim̄ter 
    Zeit einberufen. Im Frühjahr, wenn das 
    große Blutvergießen kom̄t, werde ich 
    3 oder 4 Söhne dabeihaben. Mein Vertrauen in die Zukunft nach dem Krieg ist sehr gering. Heute haben wir übrigens die Räumung des vor vierzehn Tagen mit soviel Spektakel besetzten Belgrad erfahren. Seit drei Monaten erzählt man uns von dem unvermeidlichen Zusammenbruch Serbiens. Es ist viel Ekelhaftes an der Art, wie wir die Sache betreiben.

    Ich kann nicht erwarten, daß Sie in Pápa viel arbeiten werden; vermute übrigens, daß Heller zu Neujahr die Einstellung unserer Zeitungen beantragen wird, wogegen sich nichts für ihn Triftiges sagen lassen wird, da es wenig Arbeiten, keine 

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    Leser und Abonnenten gibt. Die Abbröckelung ist nicht zu vermeiden. Er wird natürlich versprechen, sie nach dem Krieg wiederaufzunehmen. Aber ... der Verein ist ja auch tot und nicht mehr zu erwecken. Das +International* in unserem Titel können wir nicht halten.

    Rank hat unterdes das Homerproblem mit Hilfe einer ψα Voraussetzung reizend gelöst. Wir haben uns sehr amüsiert dabei, es war beinahe so lustig wie auf Brioni die Feuerforschung.

    Im Hause haben wir die jetzt herrschende Influenzaepidemie durchgemacht, auch meine 79 Jahre alte Mutter, zum Glück ohne Schaden. Zu Weihnachten wird vielleicht Ernst kommen, Martin kaum. Rechnen Sie nicht auch auf Weihnachtsurlaub

    Ich grüße Sie herzlich und erwarte Ihre Nachrichten.

    Ihr  
    Freud

     

    Anmerkungen Ernst Falzeder

    A In der Handschrift: Einiger.

     

       1    Drei dann nicht veröffentlichte metapsychologische Aufsätze; vgl. die EEditorische Einleitung zu den metapsychologischen Schriften von 1915D in Studienausgabe III, S. 71f.

       2    Das von Ferenczi in EIntrojektion und ÜbertragungD (1909, 67) erstmals eingeführte Konzept.

       3    Die damaligen fünf Mitglieder des Geheimen Komitees: Abraham, Ferenczi, Jones, Rank und Sachs.

       4    Max Halberstadt, der Mann von Freuds Tochter Sophie.

       5    Österr., veraltet; auf Militärtauglichkeit hin untersucht, gemustert.

       6    Am 15. Dezember mußte Belgrad kampflos geräumt werden.

       7    Zeitschrift und Imago. Erstere erschien noch 1915, der Jahrgang 1916/17 wurde erst 1918 gedruckt; die Imago setzte 1915 ihr Erscheinen aus, die folgenden Jahrgänge kamen 1916 und 1919, letzterer bereits im neugegründeten Internationalen Psychoanalytischen Verlag, heraus.

       8    Im Titel der Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse.

       9    Siehe 519 F, Anm. 4.

       10   Vgl. 469 Fer und Anm. 3 und 470 F.