• S.

    Prof. Dr. Freud                       
    Berchtesgaden, Dietfeldhof

    4.8.08

    Sehr geehrter Herr College

    Ich habe soeben ein Zimmer für Sie 
    bestellt im Hotel Bellevue, nicht 
    zu weit von uns; nahe ist wegen der 
    isolierten Lage unseres Hauses nicht 
    möglich. Ich darf sagen, wir freuen uns 
    sehr auf Ihr Herkom̄en, obwol mir 
    durch veränderte Dispositionen ein 
    erwartetes Vergnügen gestört ist. 
    Ich muß nämlich am 1 Sept direkt nach 
    England reisen, wo mich die Familie 
    meines Bruders erwartet, u kann 
    nicht, wie ich mir vorgenom̄en, eine 
    Woche vorher Ihre Begleitung durch 
    einige Städte Hollands in Anspruch 
    nehmen. 

    Ich bin mit Schreibarbeit überhäuft, 
    finde alles schwerer u langwieriger 
    als ich mir vorgestellt u hoffe, Sie 
    werden mich gelegentlich herausreißen.

  • S.

    Bis jetzt habe ich wenig von den 
    Ferien gehabt. Meine Jungen 
    werden sich freuen, wenn Sie Hoch-
    tourist sind und eine beabsichtigte 
    Tour auf den Hochkönig mitmachen 
    wollen. Unser Haus steht Ihnen 
    offen, aber Sie sollen Ihre Freiheit 
    behalten u Sie werden sich nicht 
    wundern, wenn ich meinen Nötigungen 
    folge.

    Auf Wiedersehen 
    Ihr herzlich ergebener 
    Freud

    Anmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)

    Familie meines Bruders: Freuds Halbbruder Emanuel (1833-1914), Sohn Jakob Freuds (1815-1896) und dessen erster Frau Sally Kanner (?-1852?), seine Frau Marie (1836?-1923) und deren noch lebende Kinder Pauline (1856-1944), Bertha (1859-1940) und Soloman (Samuel) (1860-1945) in Manchester, wo Emanuel einen Tuchwarenladen führte. Das Ehepaar hatte bereits vier Kinder verloren: John (geb. 1855, verschollen nach 1875), Matilda (1862-1868), Harriet Emily (1865-1868) und Henrietta (1866-1866). Siehe auch 18 F, Anm. 1.

    Schreibarbeit: Freud arbeitete an der Endredaktion des "Kleinen Hans" (Freud 1909b), wahrscheinlich auch an der "Rattenmann"-Analyse (1909d) und am Artikel >Über infantile Sexualtheorien< (1908c) (vgl. Freud/Jung, 21.6., 18.7. und 5.8.1908, Briefwechsel, S. 177 und 183f.).

    Hochkönig: Hochalpiner Gebirgsstock in der Nähe Berchtesgadens.