• S.

    1

    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    23.XI.15

    Lieber Freund

    Was machen Sie? Warum höre 
    ich nichts von Ihnen? Ich will 
    Ihnen nur mitteilen, daß 
    Martin mit 10tägigem Urlaub 
    bei uns ist, sehr wol u heiter, 
    u Ernst gegenwärtig an einer 
    sicheren Stelle über Triest 
    bei einem Fliegerabwehr-
    Detachement. Er wohnt in einem 
    eingerichteten Haus, ist Kadett 
    u hat wenigstens die kleine 
    silberne Tapferkeit.

    Ich habe meinen Grant nicht 
    überwunden, habe mehr zu 
    thun, thue es ohne Vergnügen 
    u schreibe die Vorlesungen, 
    die ich halte (gegen 100 Hörer) 
    sukzessive auf, aber die 
    lange Kriegsdauer zermürbt 
    einen und das ewige 
    Siegen bei zunehmender 

  • S.

    2

    Not macht bedenklich, ob nicht 
    die perfide englische Rechnung 
    am Ende doch stim̄en könnte.

    Wissenschaftlich nichts Neues. 
    Die Lou hat eine schöne Arbeit 
    Anal u Sexual“, für die 
    Imago geschickt, Pfister
    Abraham rühren sich wieder.

    Olis Hochzeit steht nahe bevor, 
    wird durch das bevorstehende 
    Lebensende ihres Vaters 
    unbestim̄bar.

    Ich bin neugierig, wie Ihre 
    Arbeiten u Angelegenheiten 
    sich weiter entwickeln.

    Herzlichen Gruß 
    Ihr 
    Freud

    Anmerkung Ernst Falzeder:
    Englische Rechnung: Lord Kitcheners Voraussage bei Beginn des Krieges, er werde drei Jahre dauern (Jones II, S. 217).

  • S.

    1

    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    26.XI 15.

    Lieber Freund

    Mein Brief war voreilig. Am selben Tage kam Ihre Sendung an, leider nur eine, die andere, die Sie als +bessere*bezeichnen, auf die ich also sehr neugierig bin, ist noch ausgeblieben.

    Ich wußte gar nicht, daß mir Ihre Kritik von R[égis] und H[ésnard] zuerst nicht gefallen, glaube es nicht recht und bleibe damit auf Ihre Autorität angewiesen. Vielleicht hängt Ihre Behauptung mit meiner Gewohnheit zusammen, im vertrauten Verkehr die Ausstellungen immer voranzustellen.

    Zur Kritik von Mach muß ich aber einiges bemerken. Ich meine, sie entbehrt der Distanz, steht noch zu sehr unter dem frischen Eindruck der Lektüre, bedarf einfach der Anwendung Ihres Rezepts: prematur1[,] mit entsprechender Reduktion. Anfang und Ende sind sehr schön und zeugen für Ihre künstlerischen und poetischen Qualitäten wie seinerzeit die funktionale Ödipusdeutung2. Von Einwendungen habe ich zwei: Erstens soll man nie jemand für einen Analytiker erklären, der es nicht sein will, wie der Klosterbruder Nathan als Christen reklamiert3. Er weiß gewöhnlich nicht, daß man ihm eine Ehre erweisen will, und wird leicht grob zum Dank dafür. Auch macht es einen anlehnungsbedürftigen Eindruck. Von Mach weiß ich, daß er sich die Traumdeutung von mir schicken ließ, um sie kopfschüttelnd beiseite zu legen. Zweitens, und dies ist eine wirkliche Schwäche der Arbeit, daß Sie nicht in der Lage sind, ihm an Beispielen nachzuweisen, welche Aufklärungen er durch seine Unkenntnis der ΨA zu geben versäumt hat, bis auf ein Beispiel, das vom Tonkneten.4 Ich weiß freilich auch nicht mehr, aber [so] wird eben Ihr Bedauern beim Leser ohne Wirkung bleiben. Die Organprojektion5 hätte eine aktivere Verteidigung verdient. Haben Sie den Aufsatz in der Imago III von Giese, Sexualvorbilder bei einfachen Erfindungen6, nicht in Betracht gezogen? Dieselbe Imago läßt also um etwas Umarbeitung bitten. Rank wird Ihnen die Arbeit zurückschicken.

    Hier wenig Neues. Ich bin wieder besser in Gesundheit. Wissen Sie schon, daß es Verbrecher ausSchuldbewußtsein gibt, das natürlich vom Ödipuskomplex stammt7? Und Stotterer, die das Scheißen auf das Sprechen projiziert haben? Das hat mich ein neuer, sehr klarer Fall gelehrt.8

    Herzliche Grüße in Erwartung 
    Ihr

     

         4     Ferenczi 1919, 219; Schriften I, S. 291.

         5     Ib., S. 293.

         6     Fritz Giese (1890‑1935), ESexualvorbilder bei einfachen ErfindungenD; Imago, 1914, 3: S. 524-535. Giese war Lehrer an der Technischen Hochschule in Stuttgart.

         7     Vgl. den 3. Abschnitt aus Freuds Arbeit EEinige Charaktertypen aus der psychoanalytischen ArbeitD (1916d): `Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein@.

         8     Dieser Fall Freuds wurde von Ferenczi in ESchweigen ist GoldD (1916, 191) angeführt (Schriften I, S. 231).

         1     Ferenczi, ENonum prematur in annumD (1915, 162).  Der Titel bezieht sich auf Horazens `Nonumque prematur in annum@ (Dichtkunst 388) (`Und bis ins neunte Jahr muß es verborgen bleiben@ nämlich das Meisterwerk, an dem der Dichter so lange arbeiten soll).

         2     ESymbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-MythosD (Ferenczi 1912, 92).

         3     `Klosterbruder: Nathan, Nathan! / Ihr seid ein Christ! Bei Gott, Ihr seid ein Christ! / Ein beßrer Christ war nie!

    Nathan: Wohl uns! Denn was / Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir / zum Juden!@ (Gotthold Ephraim Lessing [1729-1781], Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen [1779], IV, 7). Vgl. auch Pfister an Freud, 29.10.1918, Briefwechsel, S. 64.