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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    10.7.15

    Lieber Freund

    Es thut mir leid, daß Ihr heutiger Brief keine 
    besseren Neuigkeiten enthält und daß Sie 
    nicht in nächster Zeit nach Wien kom̄en 
    werden. Ich kann Sie auch nicht besuchen, 
    da diese letzten Wochen die ausgefülltesten 
    des Jahres geworden sind. Ich kann also 
    nur versprechen, wenn die Sept‑Unrast 
    über mich kommt, auch in Pápa aufzutauchen. 
    Versprechungen gelten aber in dieser 
    Zeit weniger als sonst.

    Das Stückchen Kriegsbericht über Ihr Rgmt 
    ist greulich, obwol man ja eigentlich auf 
    solche Vorfälle gefaßt sein muß. Wenn 
    dieser Krieg wie wahrscheinlich noch ein 
    Jahr dauert, dürfte eigentlich niemand 
    übrig sein, der seinen Anfang mitgemacht 
    hat. In der Nacht vom 8/9 dM hatte ich 
    einen prophetischen Traum, der ganz klar 
    den Tod der Söhne Martin voran, zum 
    Inhalt hat. Ich habe mir Mechanismus 
    und Anlaß des Tr sehr gut herausfr auf-
    klären können, er ist eine kecke Heraus-
    forderung der okkulten Mächte nach 
    der Lektüre eines Buches, das gerade 
    von mir Frömmigkeit gefordert hat. 
    Er war auch ganz ohne Trauer, u ich hoffe, 

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    zunächst gegen alle bösen Geister Recht zu be-
    halten. Martins letzte Nachrichten (heute) 
    sind erst vom 1/7. Tags darauf (nach dem Tr) 
    las ich, daß der brave Junge, der Martin 
    seinerzeit mit Aufopferung einiger Zehen 
    vor dem Erfrieren auf dem Schneeberg 
    gerettet hat, nun selbst gefallen ist.

    Unsere Absichten stehen nun fest. Wir reisen 
    17. abds oder 18 früh nach Karlsbad, von 
    wo Sie meine Adresse sofort erfahren 
    werden. Anna ist nach Ablegung ihrer Prüfung 
    als Volksschullehrerin und Unterzeichnung 
    eines Kontraktes, der sie zur Lehrperson 
    an ihrer eigenen Schule (Frl. Goldmann
    macht, nach Ischl zu Großmutter u den 
    Tanten. Oli ist am gleichen Tag Ingenieur 
    geworden, hilft vorläufig im Bureau 
    des Onkels aus, unterhandelt aber 
    mit seiner früheren Firma wegen 
    Anstellung bei einem Bahnbau in 
    Steiermark u dürfte Ende d.M. dahin 
    abgehen. Das Los des Alters, die Einsam-
    keit, bereitet sich also deutlich vor.

    Ich habe 11 von den 12 Abhandlungen voll-
    endet (oder ungefähr so) und nehme 
    nun den Haufen Papier auf die 
    Reise mit. Rank rät, das Buch doch 
    im Herbst in den Druck zu geben. Die 
    Zeiten sind gewiß sehr ungünstig, 

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    werden aber unmittelbar nach dem Krieg 
    gewiß nicht besser sein. Rank ist übrigens 
    hier u wird versuchen, die Maschine im 
    Gang zu erhalten. Er hat Mangel an 
    kleineren Beiträgen, weshalb die Ihrigen 
    besonders willkommen waren. Ihre 
    Einleitg zur Sexualtheorie ist sehr schön, für 
    die Zeitsch. die ich selbst herausgebe, etwas 
    zu lobrednerisch.

    Es sind zwei literarische Neuheiten zu ver-
    zeichnen: Putnam’s Buch on Human 
    Motives und eine holländische Einführg 
    in die ΨA. Putnam ist populär beabsichtigt 
    sonst würde ich sagen, es ist schlecht. 
    Brav wie immer, auch treu (Jung kom̄t 
    gar nicht vor, Ferenczi wird zitirt), aber 
    erfüllt von dem religiösen Sinn, den ab-
    zuweisen ich unwiderstehlich aufgelegt 
    bin. Er schließt aus der ψ Realität 
    unserer Ideale direkt auf deren 
    materielle Realität u damit auf 
    Gott. Das Buch war für mich der Anlaß 
    des prophetischen Traumes. Die holländ. 
    ΨA rührt von Adolph Meijjer Meijer 
    her, ist, soweit ich erraten kann, kor-
    rekt u vernünftig wie der deutsche 
    das Buch begleitende Brief. Es ist 

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    ein Buch von 168 Seiten. Also ein ganz neuer 
    Mann. Er lebt im Haag, ist von einem Jung-
    schüler (Oph? [Ophuijsen]) analysirt worden, hat sich 
    aber das Urteil gebildet, daß Jung’s 
    Behauptungen von mir antizipirt worden 
    sind u daß er nichts Neues sagt, sondern 
    nur andere Worte gebraucht.

    Mein Zulauf besteht seit vielen Wochen 
    nur aus Ungarn, denen ich Ihre 
    Adresse geben kann, die aber jetzt 
    von ihr keinen Gebrauch machen können. 
    Die meisten kennen mich natürlich bereits nur 
    über Sie.

    Ich leide viel an Kopfschmerzen, die von 
    den tiefen hinteren Nasenrachenaffektionen 
    abhängen u denke gerne an den 
    Umschwung der Lebensweise, wiewol 
    man sich nicht getraut, irgendetwas 
    Ungestörtes zu erwarten.

    Herzliche Grüße für Sie und Frau 
    G. und reichliche Nachricht in 
    der nun kommenden Epoche!

    Ihr getreuer 
    Freud

    Anmerkungen
    Das Cottage-Lyzeum, geführt von Dr. Salka Goldmann.

    Ihre Einleitg zur Sexualtheorie: …
    Putnam: Buch on Human Motives

    (Oph?) Ophuijsen