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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    17.X.15

    Lieber Freund

    Mittwoch 13t früh morgens wurde ich durch 
    eine dunkle Gestalt aus dem Schlaf geweckt, 
    die sich den erwachenden Sinnen als 
    mein Sohn Martin zu erkennen gab. Er 
    sah sehr gut aus, war Fähnrich, trug die 
    große silberne Tapferkeitsmedaille auf 
    seiner schmierigen Uniform, zeigte stolz 
    auf Einschuß u Ausschuß an seiner Kappe 
    u befand sich auf der Reise über Cholm 
    – Lublin – Krakau nach Innsbruck in irgend 
    eine Artilleriestellung gegen Italien. Am 
    Nachmittag fuhr er wieder ab. Im Wesen 
    hat er sich nicht geändert, eher frecher und 
    zuversichtlicher, entschlossen zu heiraten, sobald 
    er zurückkommen kann, ohne jede Sorge 
    um die zivile Zukunft. Natürlich hat er 
    auch seine Schwierigkeiten gehabt; ohne die 
    geht es bei ihm nicht. Es ist ihm hinterbracht 
    worden, daß sein Major ihn, den einzigen 
    Juden im Regiment, zum „Saujuden“ erhoben 
    hatte, u er hat sich keinen Moment bedacht 
    sich zum Rapport zu melden u ihn dienst-
    gerecht zu fordern. Wahrscheinlich wird 
    irgendein Ausgleich getroffen werden, 
    ich hoffe auch wie er selbst, daß er bald 
    eine Versetzung erfahren wird, denn 
    für diesen Vorgesetzten liegt die Ver-
    suchung, den unbequemen Untergebenen 

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    durch einen geeigneten Auftrag zu beseitigen, allzu 
    nahe. Das Umgebrachtwerden ist ja überhaupt 
    nur eine Funktion der Zeit.

    Ernst hat uns geschickt wissen lassen, daß er 
    sich in einem Dorf über Monfalcone 
    befindet.

    Am selben Mittwoch hatten wir bei voller 
    Beteiligung den ersten Vereinsabend. Wir 
    haben uns auf 3 wöchentliche Zusam̄enkünfte 
    geeinigt.

    Meine Praxis füllt die Zeit von 4‑71½ h aus 
    Der Vormittag ist ganz frei. Ein junger 
    Deutscher, der ernste Absichten hatte, ist durch 
    die letzte deutsche Musterung weggeschnappt 
    worden, mein interessanter Ungar aus 
    Ihrer Gegend (Herény bei Szombathely) ist 
    wie ich heute erfahre, an einem schweren 
    Typhus gestorben. Um den ist es schade, ich 
    hatte ihn liebgewonnen und es war fast 
    ein bedeutender Erfolg, zu dem nur noch wenig 
    fehlte. Ein dum̄es Mädel aus Szolnok 
    Frl. Schwarcz, die zu Ihnen gekom̄en wäre, 
    wenn Sie in Bpest hausen würden, ist 
    meine einzige Neuerwerbung. So 
    fängt das Arbeitsjahr ohne Glück an. 
    Pfister schreibt verständige Briefe u schickt 
    Beiträge, findet selbst, daß ihm die 
    Befreiung von Jung sehr wolgethan 
    hat. Zuletzt war er in Genf mit Flournoy

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    u Claparède zusammen.

    In der letzten 5t Nr der Zeitschrift, die auch meine 
    Agnoszirung des Ubw enthalten wird, sind mir 
    Ihre Beiträge durch die größere Freiheit 
    des Denkens, die Verflüssigung starrer Begriffe 
    angenehm aufgefallen.

    Somit wäre ich bei Ihnen u Ihrer Krankengeschichte 
    angelangt. Ich verstehe den brennenden Durst 
    nach der Jugend, weiß Ihnen aber nichts zu raten, 
    was man ja auch gar nicht soll. Das Verschwinden 
    Ihrer körperlichen Symptome finde ich auch 
    sehr interessant. Ist Herr P nicht auch sehr 
    schwerhörig? Haben Sie nicht irgendwie eine 
    neue „Jugend“ in’s Auge gefaßt?

    Im Gegensatz zu Ihnen wandeln sich bei mir 
    neurotische Symptome in organische um. Steiner 
    hat meine Diagnose auf Prostatahyper-
    trophie nach meinen Mitteilungen bestätigt 
    u wird mich in den nächsten Tagen unter-
    suchen. Auf einige Ratschläge von ihm 
    konstatire ich bedeutende Besserung 
    der Beschwerden (Einschränken des Trinkens, 
    Aufgeben der alkalischen Wässer). Die 
    geistige Produktion habe ich nach einigen 
    blitzartigen Einsichten, wie zB. daß die 
    Zensur bei Zwangsn nicht zwischen Ubw 
    u Vbw, sondern zwischen vbw und bw verlegt 
    ist, eingestellt. Zunächst ohne Langweile 
    oder Bedauern.

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    oder Bedauern.

    Der Krieg wird unerträglich, desto mehr,
    je besser die Aussichten werden. Ich dürfte 
    da nicht alleinstehen.

    Deuticke gesteht zu, daß der Verkauf der ψα 
    Bücher auch in diesen Zeiten befriedigend 
    vor sich geht! Er hat die 3t Auflage der 
    Studien in Druck gegeben und verlegt 
    ein neues Buch von Kaplan, „Analytische 
    Probleme“ oder ähnlich.

    Mit herzlichem Gruß in Erwartung 
    Ihrer Nachrichten
    Ihr 
    Freud

    Anmerkungen Ernst Falzeder:
    Herr P: Pálos, der Ehemann Gizellas und Vater Elmas.

    Die 3. Auflage der Studien über Hysterie (1895d) erschien 1916 bei Deuticke.

    Leo Kaplan, Psychoanalytische Probleme, Leipzig und Wien 1916; von Freud im Vorwort seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17a, S. 3) erwähnt und von Ferenczi in der Zeitschrift (1916-17, 4: S. 120-122) besprochen (Ferenczi 1917, 203).
    Dr. Leo Kaplan (1876-1956), geboren in Rußland, ab 1897 bis zu seinem Tod in Zürich. Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie, begann dann ab etwa 1910, sich intensiv mit der Psychoanalyse auseinanderzusetzen, gehörte aber keiner psychoanalytischen Organisation an. Sein Buch Grundzüge der Psychoanalyse (Wien 1914) ist eine der frühesten systematischen Zusammenfassungen der Freudschen Lehre.

    Kleinstadt, etwa 75 km südöstlich von Budapest.

     Aranka Schwarcz, die später öfters die „Botin“ für Nachrichten und Lebensmittel zwischen Freud und Ferenczi spielte.

    Théodore Flournoy (1854-1920), bedeutender Schweizer Arzt und Psychologe. Studium der Naturwissenschaften in Genf, Promotion zum Mediziner in Straßburg (1878), Studium bei Wilhelm Wundt. 1891 errichtete die Universität Genf für ihn einen Lehrstuhl für Physiologische Psychologie; zusammen mit seinem Schüler Edouard Claparède Herausgeber der Archives de Psychologie. Flournoy interessierte sich, wie sein Freund William James, für Hypnose, veränderte Bewußtseinszustände, Mystik, Religionspsychologie und Parapsychologie. Er hatte schon 1900 auf Freuds Traumdeutung hingewiesen und übte auch einen starken Einfluß auf den frühen Jung aus. Pfister verfaßte einen schwärmerischen Nachruf für Flournoy in der Zeitschrift (1921, 7: S. 101-106).

    „Analyse von Gleichnissen“ (Ferenczi 1915, 164) und Ferenczis Beiträge zur Rubrik „Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis“ (Ferenczi 1915, 165 bis 173).