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    Prof. Dr. Freud                                                          
    Wien, IX. Berggasse 19.

    Karlsbad 
    Rudolfshof   

    20.7.15                                                                                   

    Lieber Freund

    Der Zufall, der Ihnen das (hoffentlich nicht 
    letzte) Exemplar Ihrer Arbeit in die Hand 
    spielte, ist mir sehr erwünscht. Ich gedachte 
    die phylogenetische Reihe nur kurz anzu-
    deuten unter Hinweis auf Ihre Arbeit und 
    gebührender Anpreisung Ihrer frucht-
    baren u originellen Ideen vom Einfluß 
    der geologischen Schicksale; jetzt aber haben 
    Sie mir Lust zu einer ausführlicheren 
    Darstellung gemacht, die ich versuchen 
    und Ihnen zeigen will, ehe ich mich zur Ver-
    öffentlichung entschließe. Vieles hängt 
    ja von Stim̄ung ab, in guter Laune 
    ist man kecker. Ich habe gestern, am zweiten 
    Tag, die Arbeit fortzusetzen begonnen 
    u finde es geht in dem Karlsbader 
    Kurbehagen nicht schlecht.

    Man schämt sich beinahe, sich so viel 
    zu gönnen, während die Welt so 
    ringt und schnauft. Wir sind ja auch 
    noch nicht in der Postverbindung. Von 
    Martin ist seit dem 4. dM keine 
    Nachricht. Mit Sophie, die gewiß nicht 
    schießt und reitet, ist der Verkehr 
    kaum besser.

  • S.

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    Karlsbad ist ungeheuer behaglich und sehr 
    schön. Die Herabsetzung des Gedränges 
    usw ist für den einzelnen nur ein Genuß. 
    Die Kost ist gut und nicht viel theurer, 
    man lebt allerdings mit Brotkarte 
    und die Mehlversorgung soll nicht gesichert 
    sein.

    Rank hat alle Geschäfte in seiner Hand 
    vereinigt. Wenn Sie Mittel finden 
    könnten, ihn in einigen Punkten zu 
    unterstützen, wäre es sehr schön.

    Ich hoffe bald von Ihnen zu hören, auch 
    wie sich jetzt Ihre privaten Verhält-
    niße gestalten.

    Herzliche Grüße 
    Ihr 
    Freud