• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    28.6.08

    Sehr geehrter Herr College

    Ihre Idee, unserer Gesellschaft als corresp. Mitglied beizu-
    treten, wird wahrscheinlich bei allen Angehörigen 
    Anklang finden. Ich werde sie im Herbst vorbringen 
    bis dahin sind nämlich unsere Zusam̄enkünfte suspendirt. 
    Es wird Ihnen eine kleine Last als Mitgliedsbeitrag 
    auferlegen u Ihnen dafür nebst der – Ehre das Recht 
    auf die Benützung der Bibliothek, auf Einspruch 
    bei der Mitgliederwal usw. eintragen. Kurz 
    eine recht heitere Geschichte. 

    Ihre schöne u klare Arbeit soll aber nicht so lange 
    ungebraucht liegenbleiben; Sie eignet sich ganz 
    besonders zur Publikation, u ich möchte Sie bitten 
    Ihre Wal zu treffen, wohin Sie sie bestimmen 
    wollen. Wenn Sie ein Centralblatt für Geschlechts-
    krankh wälen wie Steiner, so werde ich sie Ihnen 
    sofort nach Ihrer Äußerung zurückschicken. Wenn 
    Sie aber wünschen, kann ich sie selbst an Bresler 
    senden, der es gewiß nicht ablehnen wird sie 
    wie andere kleine Arbeiten in seine Monatsschrift 
    aufzunehmen.

    Zur Sache selbst bemerke ich folgendes: Ich teile ganz 
    Ihre Anschauungen u Erfahrungen, wundere mich nur 
    über folgendes. Da doch der Familiencomplex 
    (Oedipuskomplex) bei allen Neurotikern überbetont 
    ist, bedarf es noch eines Moments, welches darüber 
    entscheidet, daß gerade die Potenzhem̄ung

  • S.

    anstatt einer anderen neurotischen Störung zu Stande 
    kom̄t. Was nun dieses Moment ist, ob constitutionell 
    oder accidentell (wie die Unlustassoziation beim 
    ersten Versuch sex. Betätigg, Strafe in der Kindheit) 
    das bedarf der Aufklärung, u das enthält erst 
    so recht eigentlich das Rätsel der ψ Impotenz. Indeß 
    dieß ist esoterisch; fürs Volk reichen Ihre wie 
    Stekels u Steiners Ermittlungen hin.

    Die Wal des Zeitpunkts für Ihr Eintreffen in Bercht. 
    ist mir sehr recht. Bis dahin werde ich gewiß so weit 
    hergestellt sein von den Mühen des Jahres, daß 
    ich von Ihrer Gesellschaft das gewünschte Vergnügen 
    haben kann. Auch vermeide ich so die peinliche 
    Einsamkeit auf der Reise. Ich hoffe, Sie verschmähen 
    es auch nicht, mit meiner Jugend auf die Berge 
    zu steigen, wenn dieß in Ihrer Absicht liegt. Wohnung 
    werden wir Ihnen dann versorgen.

    Die Behandlung bei der jungen Frau des Advokaten 
    sollte ja erst im Herbst beginnen; sie wird eine 
    sehr interessante Aufgabe sein. Freilich ist bei 
    den Neurotikern alles unsicher, sobald ein Aufschub 
    unvermeidlich wird.

    Mit herzlichen Grüßen 
    Ihr 
    Freud

    Vom 15 Juli an: Berchtesgaden, Dietfeldhof

    Anmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)

    korrespondierendes Mitglied: Freud schlug Ferenczi am 7.10.1908 als neues Mitglied vor, was einstimmig angenommen wurde (Protokolle II, S. 2).

    Arbeit Ferenczis: Siehe 11 Fer, Anm. 2.

    Steiner: Maximilian Steiner (1874-1942), Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten und Mitglied der Mittwoch-Gesellschaft, hatte 1907 eine Arbeit über >Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre Behandlung< in der Wiener Medizinischen Presse (48: Kolumne 1535) - nicht im Zentralblatt für Geschlechtskrankheiten - veröffentlicht.

    Bresler: Der Psychiater Johannes Bresler (1866-1936) war Herausgeber der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift (nicht Monatsschrift), in der Ferenczis Arbeit dann auch veröffentlicht wurde.

    Potenzhemmung: Ferenczi hatte in seiner Arbeit (1908, 61) vor allem die inzestuöse Fixierung als Ursache der Impotenz hervorgehoben.

    Stekel: Wilhelm Stekel (1868-1940), aus der Bukowina stammender Wiener Nervenarzt. Als Analysand Freuds war er einer dessen erster Schüler und hatte die Gründung der Mittwoch-Gesellschaft angeregt. Autor zahlreicher populärer Artikel und Bücher über die Psychoanalyse. Er war (anfangs mit Adler) Schriftleiter des Zentralblatts, das er nach der Entfremdung zwischen ihm und Freud (1912) - wohl aufgrund von Temperamentsunterschieden und Stekels Bemühungen um Kurztherapie - bis 1914 allein weiterführte. Seine zahlreichen Beiträge zur Symbolforschung wurden von Freud immer als wesentlich angesehen und auch in die Traumdeutung (1900a) integriert. Freud bezieht sich hier auf Stekels Buch: Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung (Berlin 1908), zu dem er ein Vorwort geschrieben hatte (Freud 1908f).