• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    Noordwijk 2.8.10.

    Lieber Freund

    Ich schreibe Ihnen, nachdem die Sonne eben 
    glühendrot untergegangen, auf der luftigen 
    Loggia unserer Wohnung in Pension Noordzee
    wo wir gestern früh eingetroffen sind, 
    nachdem wir drei die anderen Bestandtheile 
    der Familie an uns gezogen hatten. Meine 
    Schwägerin ist in Hamburg geblieben, wo 
    die alte Mutter an Marasmus, hinter dem 
    sich noch ein Darmkarzinom verbirgt, lang-
    sam erlischt. Bei aller Einsicht in die 
    Unentbehrlichkeit des Sterbens macht das 
    ernste Stimmung u stört das Behagen, das 
    sich sonst an solches Verweilen knüpfen 
    würde. Ich folge seit Jahren einem bestim̄ten 
    Ferientypus: in den ersten Tagen nach dem 
    Aufhören der Arbeit sehr heiter u wol, 
    kom̄e ich dann nach etwa 2 Wochen in das 
    richtige Erschöpfungselend, das sich mit 
    Recht an das Arbeitsjahr anschließt, 
    u so habe ich mich auch heuer benom̄en, 
    aus dieser Stim̄ung schreibe ich Ihnen 
    heute. Es ist ein unerquicklicher Zustand 
    etwa wie wenn man nicht einschlafen 
    kann u doch viel zu müde ist zum wachen. 

  • S.

    Ich spüre, daß mir die Arbeitsreste keine Ruhe 
    lassen; was ich brauchte, wäre Sammlung, um 
    mich dann ernsthaft an die Arbeit zu setzen, 
    aber ich bin ganz leistungsunfähig. Ich 
    meine zwar, Spaziergänge in schönen dichten 
    Wäldern würden mir die Sam̄lung ver-
    schaffen, aber das ist wahrscheinlich Täuschung, 
    weil ich Meer u Dünen vor mir habe u 
    die Faulheit auf diesen Einfluß schieben 
    kann. In Wirklichkeit kann ich jetzt 
    nichts, auch nicht die Ruhe genießen, 
    zu der die Situation förmlich nötigt, 
    u muß abwarten.

    So habe ich auch noch keinen Schritt gethan, 
    um unsere Reise auf dem Yorck zu 
    sichern. Vorwand: wenn das Ableben 
    der Großmutter gerade mit der Abreise 
    zusam̄enfiele, meine Frau nach Hambg 
    reisen müßte u die Kinder alleine 
    blieben, wo wir am 31 das Logis räumen 
    sollen. Es mag da sogar etwas daran 
    sein, die Hauptsache ist jedenfalls die 
    Unlust, etwas zu thun, zu entscheiden, 
    zB. jetzt diesen Brief fortzusetzen, 
    wofür die zunehmende Finsterniß 
    wieder gute Vorwände bietet.

    Morgen weiter.

  • S.

      3. Aug. 10.

    In Wirklichkeit fängt es an, hier 
    furchtbar behaglich zu werden 
    eine Art von primitiver Üppigkeit 
    im Haus u die Natur, die alles 
    hält, was man von ihr erwartet. 
    Auch mit unserer Reise soll es 
    bleiben, wie wir verabredet 
    haben. Ich bin einverstanden damit, 
    daß Sie mir alles Arrangement 
    überlassen, werde nun sehen, ob ich 
    mich zur vorzeitigen Bindung 
    entschließen kann. Ich gehe in dieser 
    Woche nach Leiden zum Agenten 
    des NDL und werde unsere Beding-
    ungen geltend machen. Ich habe 
    gehört, daß man von Antwerpen 
    nach Genua im̄er Platz findet 
    da alle ernsthaften Reisenden 
    erst dort einsteigen. In Genua 
    finden wir leicht ein anderes 
    Schiff nach Palermo. Der Verzicht 
    auf Genua brächte, glaub' ich 
    auch den auf Algier mit sich 
    u man will doch auch in Afrika 

  • S.

    gewesen sein. Sollte ich mich zur Bindung 
    nicht entschließen können, so 
    kämen Sie doch zur Zeit nach 
    Noordwijk, wir versuchen die-
    selbe Route oder eine andere 
    wie es eben die Verhältniße 
    gestatten, behalten das Ziel bei.

    Beinahe vergäße ich Ihnen 
    mitzutheilen, daß der uner-
    wartetste Verkehr mir hier 
    für Mitte des Monats bevor-
    steht. Jones macht den Kongreß 
    in Brüssel mit u trifft am 
    10/8 hier ein, wo seine Schwägerin 
    eine Villa besitzt. So eng 
    ist die Welt.

    Die Kleinen sind in glänzendem 
    Zustand hier eingetroffen 
    alle werden sich freuen Sie zu 
    sehen. u wir werden viel mit 
    einander sprechen

    Herzl Grüße 
    Ihr Freud

    Schönste Empfehlung 
    an Frau G.