• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    12.4.10

    Lieber Freund

    Eben ging Prof. Modena aus Ancona von mir 
    weg, ein sympathischer Judaeo‑Italiker, der 
    die Sexualtheorie halb übersetzt hat u noch 
    einen Verleger für sie sucht. Wir werden 
    ihn vielleicht auf der Reise nach Sizilien 
    besuchen können.

    Ihre Aussprache im letzten Brief hat mich nach 
    verschiedenen Richtungen beschäftigt. Ich sehe 
    vieles, was nicht zu ändern ist u was ich im̄er 
    bedauert habe. Aber das nächste, was geschehen 
    kann, ist offenbar, daß Sie einen Kurs 
    für Ärzte und andere über ΨΑ ankündigen 
    Das scheint mir der Weg, sich zum Mittel-
    punkt eines Kreises zu machen u die Bpester 
    Gruppe bald zu konstituiren. Im übrigen 
    fügen Sie sich mit ψα Resignation u schreiben 
    Sie mir so oft u soviel Sie nur wollen. 
    Ich glaube, ich verstehe das alles.

    Die Wiener waren hier in der Reaktion 
    nach Nürnberg sehr zärtlich u haben durchaus 
    die Republik mit dem Großherzog an der 
    Spitze gründen wollen. Ich habe wenigstens 
    die Leitung der Diskussion in wissenschaftl. 
    Sitzungen beibehalten müßen, werde mich aber 
    allmälig zu entziehen wissen. Ein Komitee 
    Adler, Stekel, Steiner, Federn, Hitschmann, Sadger 
    beschäftigt sich mit den notwendigen neuen 

  • S.

    Veranstaltungen. Ich glaube nicht, daß mein 
    Rücktritt sich als nur formale Änderung heraus-
    stellen wird. Überwachung hier wie dort mag 
    notwendig sein, aber ich kann sie nicht ausüben 
    u die Sache wird wahrscheinlich nicht ganz in 
    unserem Sinne weitergehen, da die anderen 
    nicht so einig sind unter einander wie wir 
    beide. Die neuesten Dioskuren, A‑St., gedenken 
    ein ψα Centralblatt herauszugeben, welches 
    neben den schweren Waffen des Jahrbuchs 
    Schwärmer‑ und Plänklerdienste thun 
    soll. Ich meine, das wird eine gute Publikations-
    stätte für einen Teil der Notizen geben, 
    die Sie mir zur Einsicht überschickt haben.

    In der Woche seit dem Reichstag in Nbg 
    habe ich eine kleine Arbeit über psychogene 
    Sehstörungen machen müßen als Beitrag zu 
    einer Festnum̄er für Königsteins 60tn Geburts-
    tag am 24. d.M. Sie taugt nichts, wie alles 
    Kommandirte, hat mir aber gerade darum 
    alle Abende der Woche aufgefressen.

    Die letzte Sendung von Dunapentele 
    hat ein Glas enthalten, welches nach entsprech-
    endem Abkratzen ein zauberhaftes Farben-
    spiel produzirt. Ich wollte, Sie könnten es sehen. 
    Die kleinen Broncesachen sind nichts wert, im̄er-
    hin leistet der Mann etwas.

    Isserlins Kritik klingt bereits weit 
    manirlicher, der Fall ist vielleicht nicht 

  • S.

    ganz aussichtslos. Nichtbehandeln scheint hier die 
    beste Technik.

    Die Worcester‑Vorlesungen liegen bereit. Sie erhalten 
    sie, sobald das Heft aus Amerika angelangt 
    ist, was eigentlich morgen der Fall sein sollte. 
    Jones schreibt ganz reizend; jeder Brief von 
    ihm zeigt mehr Wert u Inhalt. Dagegen erklärt 
    sich Brill für ermüdet u nervös u sehnt 
    sich nach einem Freund, der ihn analysiren 
    könnte. So sind wir alle schwache Menschen.

    Der Fackel‑ hat einige stupide 
    Raketen seines Witzes gegen die ΨΑ losgelassen. 
    Es ist jedenfalls interessant zu erfahren, 
    was ein „Kulturkämpfer“ in Wien sich er-
    lauben darf. Das Geheimnis ist, sagen Sie 
    es nicht weiter, er ist ein toller Schwach-
    sinniger mit großer schauspielerischer Be-
    gabung. Er kann sich z. auch intelligent 
    und entrüstet stellen. 

    Wenn ich die gegenwärtige müde u schlechte 
    Zeit überwunden habe, schreibe ich wol 
    den ersten Beitrag zum Liebesleben 
    der Menschen nieder: die Charaktere der 
    „mütterlichen Aetiologie“. Das ist nicht der 
    bleibende Titel, Sie wissen aber, was ich 
    meine.

  • S.

    Ihr junger Mann aus Preßburg ist hier auch 
    mit Sadger unzufrieden; Sie gefallen ihm 
    persönlich besser u er will wieder zu Ihnen, 
    – wenn nicht die Bekannten in Bpest ihn 
    geniren würden. Auch gegen Rekawinkel 
    hatte er etwas. Er will also eigentlich gar 
    nicht. Ich habe ihm durch die Mutter einige 
    Grobheiten sagen lassen. Bei diesem Anlaße 
    halte ich Ihnen vor, wie unrecht es von Ihnen 
    ist, nur 10 Kr für die Sitzung zu verlangen 
    wo Sadger 20 fordert. Sie sehen, die 10 haben 
    ihn nicht bei Ihnen erhalten und die 20 haben 
    ihn nicht abgehalten, zu S zu gehen. Versprechen 
    Sie mir, sich zu bessern!

    Wir frieren jetzt, es ist ein herber Vor-
    frühling, ich sehne mich nach dem Frühling. 
    Havelock Ellis hat mir den neuen letzten 
    Band seiner Studien (Sex in relation to 
    Society) geschickt. Scheint sehr lesenswert.

    Ihr Spruch „Maul halten und weiter 
    dienen“ geht mir oft durch den Sinn. 
    Ich grüße Sie herzlichst 
    Ihr Freud

     

    CD:

    A‑St: Adler ‑ StekelAnmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)
     

         1    Gustavo Modena (1876-1958), Neuropsychiater, stellvertretender Leiter der Irrenanstalt von Ancona. Er war 1907/1908 in München in Kraepelins Klinik mit Ernest Jones zusammengetroffen, der ihn für die Psychoanalyse interessiert hatte - die er allerdings später scharf kritisierte. Die erste italienische Übersetzung der Drei Abhandlungen von Marco Levi Bianchini erschien erst 1921.

        2    Eduard Hitschmann (1871-1958), Internist, seit 1905 Mitglied der Mittwoch-Gesellschaft. Von 1923 bis zur Auflösung der Vereinigung durch die Nazis Leiter des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums. 1938 emigrierte er nach London und 1944 nach Boston, wo er als Lehranalytiker tätig war. Siehe auch 130 F und Anm. 6.

        3    In der Sitzung vom 6.4.1910 wurde die Wiener Psychoanalytische Vereinigung mit Adler als Obmann und Freud als wissenschaftlichem Präsidenten gegründet und die Herausgabe des Zentralblatts beschlossen (Protokolle II, S. 422-430); Statuten und organisatorische Fragen wurden eine Woche später diskutiert (ib., S. 431-441). Siehe auch 130 F.

        4    Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung (Freud 1910i).

    Leopold Königstein (1850-1924), Professor der Augenheilkunde in Wien, war Duzfreund und Tarockpartner Freuds. Das von Freud gewählte Thema ist auch deswegen interessant, weil Königstein 1884 auf Anregung Freuds die anästhesierende Wirkung von Kokain am Auge untersucht hatte. Das Experiment war fehlgeschlagen, weil Königstein eine ungeeignete Lösung verwendet hatte. Bekanntlich wurde dann ein anderer Freund Freuds, Carl Koller, durch diese Entdeckung berühmt (vgl. z.B. Freuds Brief über diese Episode an Wittels, 15.8.1924, Briefe, S. 369). 1885 hatte Königstein Freuds Vater am Auge operiert, während Koller und Freud selbst die Lokalanästhesie mit Kokain vorbereiteten.

        5    Max Isserlin (1879-1941), Nervenarzt und damals Assistent Kraepelins in München, hatte im Mai 1907 in einem Artikel (>Über Jungs "Psychologie der Dementia praexox" und die Anwendung Freudscher Forschungsmaximen in der Psychopathologie<; Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1907, 30, N.F. 18) Freud und Jung scharf kritisiert. Über die hier angesprochene Arbeit (>Die psychoanalytische Methode Freuds<; Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1910, 1) schrieb Freud am 12.4.1910 an Jung: "Isserlin scheint lichten Momenten zu nahen" (Briefwechsel, S. 338).

        6    In der Fackel von Ende März 1910 (Nr. 300: S. 26f.) polemisierte Kraus unter anderem: "Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer Beschäftigung." "Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh. ... Man kann von Glück sagen, wenn so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten kann, in dem er seine Mutter geschändet hat." "Die neue Seelenkunde hat es gewagt, in das Mysterium des Genies zu spucken. ... Aber Kleist und Lenau werden wir aus der Ordination zurückziehen!" "Das wissen weder Mediziner noch

    Juristen: Daß es in der Erotik weder ein erweislich Wahres gibt, noch einen objektiven Befund. ... Kurzum, daß es die höchste Zeit ist, aus einer Welt, die den Denkern und den Dichtern gehört, die Juristen und Mediziner hinauszujagen." Siehe auch 112 F, Anm. 5.

        7    Siehe 126 F und Anm. 8.

        8    Ein Sanatorium für Nervenkranheiten in Rekawinkel, einer Sommerfrische in der Nähe Wiens. Sein Leiter, Dr. Weiss, wurde am nächsten Tag zur Aufnahme in die Wiener Vereinigung vorgeschlagen (Protokolle II, S. 439f.), doch ist von dieser Kandidatur in der Folge nicht mehr die Rede.

        9    Studies in the Psychology of Sex, Band VI: Sex in Relation to Society, Philadelphia 1910.