• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

     Noordwijk 16.8.10.

    Lieber Freund

    Ich lege Ihnen den Brief bei, den ich heute 
    vom NDL aus Bremen erhalten habe. Lassen 
    wir es bei Seite, ob meine Zögerung oder 
    die Ungeschicklichkeit des Agenten im Haag 
    die Chance mit dem Yorck verdorben hat, 
    jedenfalls geht jetzt hervor, daß wir vor dem 
    14 Sept nicht in Genua, vor dem 18 nicht in 
    Palermo sein würden, also für Sizilien zu wenig 
    Zeit hätten. Eigentlich wäre auch 5 Tage vorher 
    mit dem Yorck – dies Reiseziel eingeengt 
    gewesen. Andere Schiffe herauszusuchen wo 
    Verpflegung u Unterbringung gewiß minder 
    gut wären als auf dem Lloyd, ist vielleicht 
    nicht verlockend. Somit scheint sich herauszustellen, 
    daß die beiden Absichten: Mittelmeehrfahrt 
    durch Gibraltar u bequemer Aufenthalt in 
    Sizilien, in der kurzen für uns verfügbaren 
    Zeit schlecht zu vereinigen sind, u es empfielt 
    sich, auf eines zu verzichten. Ich schlage Ihnen 
    vor, das Mittelmeer aufzugeben u Sizilien 
    beizubehalten.

    Es spricht allerlei gegen die Seereise. Wir haben 
    ja vor Kurzem eine solche gemacht u sind 
    urteilsfähig. Die Reise von Antwerp nach 
    Genua entspricht einer 10 tägigen Gefangen-
    schaft in beengtem Raum. Nach dem Brief 

  • S.

    [für diese Briefseite fehlt das Faksimile, hier findet sich eine Abschrift von Ernst Falzeder et al, 1993/I/1]

    des Lloyd können wir wiederum nur zwei schlechte Kajüten bekommen oder müssen eine einzige bessere miteinander teilen. Ich weiß, wir würden uns beide beengt fühlen. Denken Sie daran, daß kein Schiff so große Räume für die Passagiere haben würde wie unser Washington und daß wir auch dort im Kajütenraum nichts anzufangen wußten. Innenkabinen würden aber im Hochsommer im Mittelmeer wahrscheinlich recht unbehaglich seinB. Ich sehne mich auch danach, mit Ihnen zu plaudern und etwas zu arbeiten, und weiß, daß man auf dem Schiff ganz gelähmt ist, ähnlich wie hier an der See. Die Freiheit der Nebeninnervationen scheint für mich die Bedingung geistiger Tätigkeit zu sein.

    Für die Auflassung der Seereise spricht anderes. Sie könnten, wenn Sie in der letzten Augustwoche hieherkommen, noch mit uns baden, dann in Muße Gent, Brügge und Brüssel mit mir sehen (wofür ich den Baedeker habe). Dann brächte uns ein rascher Zug z.B. vom Haag 4 h 20 nM nach Mailand, 3 h pm mit Schlafwagen, und von da nach Rom, wo wir einen Tag pausieren würden, um die neuen Ausgrabungen auf dem Palatin und das neue Denkmal auf dem Kapitol zu sehen. Dann hielte ich darauf, daß Sie einen Tag lang den Vesuv und vielleicht Pompeji sehen, und dann wären wir bald in Palermo 

  • S.

    u hätten jedenfalls volle 3 Wochen für die schöne Insel. 
    Wir sind ja überhaupt frei, eine kürzere Mittel-
    meerreise wenn wir wollen etwa auf der 
    Rückkehr einzuschieben. Ich meine wir gewinnen 
    Zeit u Freiheit, wenn wir auf die Schiffahrt 
    verzichten.

    Ob Sie überhaupt herkommen sollen, wenn das Reise-
    ziel so geändert wird? Es ist etwas viel 
    Eisenbahnfahrt für Sie, aber ich meine, die 2‑3 
    Tage Holland und Brabant lohnten es u die Aus-
    gaben kom̄en gegen die der Seefahrt (330 Mk) 
    doch nicht in Betracht. Dabei lasse ich außer 
    Betracht, wie sehr wir uns alle mit Ihrer 
    Hieherkunft freuen würden. Auf die ganze 
    erste Tour bis Palermo rechne ich etwa eine 
    Woche.

    Diesen Reiseplan lege ich Ihnen also vor. Ich habe 
    in gewißem Sinne die Entscheidung getroffen, 
    wie Sie sie mir übertragen haben, denn mit 
    dem Warten auf Ihre Rückäußerung würde 
    wahrscheinlich die Chance auf dem Seydlitz 
    verlorengehen, wie bisher die des Yorck
    Doch könnten wir im̄erhin versuchen 
    wenn Sie es so sehr vorziehen, von Antwerp 
    aus eine andere Fahrgelegenheit zu 
    der uns passenden Zeit zu bekom̄en. 
    Meine Sympathien sind stark mit der Land-
    reise, der Ungebundenheit, u den einge-
    streuten Aufenthalten.

  • S.

    Es wäre nun sehr schön, wenn Sie bald hieher 
    kom̄en würden. Jeder Tag früher bedeutet 
    eine Möglichkeit mehr zu sehen u sich frei 
    zu rühren.

    Nun von anderem: Von Putnam hatte ich Brief; 
    er verspricht, die amerik. Ortsgruppe ins Leben 
    zu rufen. Das Jahrb ist noch im̄er nicht da. Ich 
    bin schon recht ungeduldig, etwas zu schreiben 
    u muß mich damit begnügen, meine aller-
    ersten Arbeiten in der Korrektur wieder 
    zu lesen, die mir aber durch ihre naive 
    Frische gefallen (die zweite Auflage der 
    Neurosenlehre). Wir sind alle vorwiegend 
    wol, in Hamburg ist keine Änderung. Klima 
    u Bad hier sind entzückend; beinahe könnte 
    ich mit Tannhäuser sagen: Ich schmachte nach 
    Bitternissen. Das höchst behagliche Rauchen 
    läßt auch keinen anderen ordentlichen 
    Thätigkeitsdrang aufkommen.

    Ich grüße Sie herzlich u berechne, 
    daß Sie nicht lange nach Ihrer Antwort 
    ausbleiben werden.  

    Ihr getreuer 
    Freud

  • S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    Noordwijk

    17.8.10.

    Lieber Freund

    Nachtrag zur gestrigen Abhandlg. 
    Ich habe heute mit dem Agenten 
    im Haag telephonirt u erfahren, 
    daß er auf dem Yorck (29.8) 
    eine Doppelkabine u z. Hauptdeck 
    für uns reservirt hatte, also 
    keine unserer Bedingungen 
    erfüllt. Den Reisenden nach Italien 
    wird auf diesen Schiffen keine 
    Auswal gelassen, sie erfahren 
    ihre Num̄er erst an Bord; 
    sie sind eben Lückenbüßer. 
    Wir werden die geänderte Ent-
    schließung darum nur weniger 
    bedauern.

    Das Jahrbuch endlich erhalten. 
    Sehr schön. Jung zeigt sich 
    in den Kritiken u Bemerk-
    ungen über Wittels sehr zu 
    seinem Vorteil. In dem Aufsatz 

  • S.

    über sein Agathli ist er zu diskret 
    u gehemmt, der Analytiker 
    hat den Vater noch nicht 
    überwunden. Im ganzen ist 
    dieser Band wieder ein 
    glänzendes Stück Gegen-
    kritik gegen Friedländer 
    Hoche etc. Wüßte ich übrigens, 
    daß die Kritiken im Zentralblatt 
    dieselbe heitere Überlegenheit 
    zeigen werden wie die hier 
    von Jung, so würde ich ihr den 
    Maulkorb gerne abnehmen, 
    aber es scheint mir sicherer, 
    es nicht zu tun.

    Herzlich 
    Ihr Freud

    Beilage: Brief von Bremen