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    Prof. Dr. Freud                                    Wien, IX. Berggasse 19.

    9 Nov. 14.

    Lieber Freund

    Ich schreibe Ihnen heute, 1) um Ihren Brief vom 
    3. u Ihre heute angelangte Karte zu bestätigen, 
    2) weil ich Ihnen einen Bogen der Sexual-
    theorie noch ans Hotel geschickt habe. 3) weil 
    ich sehr viel Zeit habe – nur noch ein 
    Patient – und 4) weil ich aus Ihren Aktionen 
    schließe, daß Sie sich noch nicht aufgerafft 
    haben, und ich damit sehr unzufrieden bin.

    Neuigkeiten wenige. Der Italiener aus 
    Nocera (Bianchini) hat heute schon die 
    Übersetzung der ersten von den fünf Vor-
    lesungen eingeschickt, u ich eine Vorrede 
    dazu geschrieben. Die Krankengeschichte ist, 
    116 Seiten stark, fertig geworden. Rank 
    hat sie heute zur Lektüre mitgenommmmen. 
    Sie hat mich in schwere Zweifel gestürzt, 
    die rationell nicht ganz zu lösen waren, 
    ich vermute, der latente lauernde Zweifel, 
    ob wir siegen werden, hat seinen Kren 
    dazu gegeben. Aber etwas ist daran, worüber 
    ich Ihr Urteil hören möchte. Es sind aller-
    dings noch 6 Monate Zeit bis zum 
    Druck. Der Verlag des Handbuchs von 
    Kraus hat mich heute wissen lassen, daß 
    mein Manuskript, das für April 1915 angesetzt 

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    setztwar, nicht vor Ende 15 oder Anfang 16 
    gebraucht wird. Täglich bröckelt etwas ab. 
    Ich weiß jetzt nicht, womit ich den Tag 
    füllen soll.

    Martin ist Sonntag nach Steyr eingerückt, 
    Ernst war an Influenza krank, wird 
    noch recht elend sein. Oli findet fortge-
    setzt Thätigkeit u scheint arrivirt zu sein. 
    Annerl ist wie immer emsig u erfreulich. 
    Von Pfister ein zahmer, dummer Brief, 
    sonst wird vor Kanonendonner die Stim̄e 
    der ΨA in der Welt nicht gehört.

    Wenn unsere Freunde bis Weihnachten 
    nicht etwas ganz Entscheidendes zu Stande 
    gebracht haben, bekommen sie es mit 
    den Japanern zu thun, die England sicherlich 
    nach Frankreich kommen läßt, und dann 
    ist die Hoffnung auf ein gutes Ende zu 
    begraben.

    Ich grüße sie herzlich und 
    erwarte Ihre Nachrichten. 

    Ihr
    Freud

     

    Anmerkungen Ernst Falzeder

        1    Dieses auf deutsch erschienene Vorwort wurde aufgrund dieser Briefstelle von Ingeborg Meyer-Palmedo ausgeforscht und wird hier zum ersten Mal wieder abgedruckt (in der nächsten Ausgabe der Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz: Freud 1915j). `Geleitwort. Ich habe mit grosser Bereitwilligkeit meine Zustimmung zu dieser Uebersetzung gegeben, die einen von mir lange gehegten Wunsch verwirklicht. Seit vielen Jahren ist es mir ein Bedürfnis geworden, die Kräftigung für neue Arbeit aus den Schönheiten des Landes Italien zu holen, in dessen Literatur ich nun, Dank der Bemühungen des Uebersetzers, kein Fremder mehr sein soll. Das ausgezeichnete Verständnis des Herrn Prof. Levi Bianchini bildet eine Garantie der korrekten Wiedergabe, deren sich nicht jeder Autor erfreuen kann. Die Psychoanalyse scheint mir der Aufmerksamkeit der Aerzte und Gebildeten überhaupt vor allem würdig durch die engen Beziehungen, die sie zwischen der Psychiatrie und vielen anderen Geisteswissenschaften herstellt. In einem Aufsatze der Zeitschrift 'Scientia' (Bologna 1913) habe ich versucht, dieselben in allgemeinsten Umrissen zu schildern. Wien 1915. Freud.@

        2    Vgl. 491 F und Anm. 2.

        3    Kleinstadt in Oberösterreich.

        4    Freuds Sohn Oliver, ein Ingenieur, vermaß gerade Spitalsbaracken (Freud an Mitzi Freud, 30.10.1914, LOC).

        5    Gleich zu Beginn des Krieges hatte sich Japan an die Seite der Ententemächte gestellt und griff die deutschen Besitzungen in China und im Stillen Ozean an. Die deutsche Kolonie Tsingtau fiel am 7.11.1914. Dem Verlangen Englands und Frankreichs, sich am europäischen Krieg zu beteiligen, kamen die Japaner allerdings nicht nach.