• S.

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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    8.4.15

    Lieber Freund

    Ich glaube wirklich, das ist zuviel Ehre, 
    so daß ich mich kaum darüber freuen 
    konnte. Ich kenne an mir keine Ähn-
    lichkeit mit dem von Ihnen zitirten großen 
    Herrn, und zwar nicht infolge von Bescheid-
    enheit; ich wäre Wahrheitsfreund oder 
    sagen wir lieber: Sachlichkeitsfreund 
    genug, um mich über diese Tugend hin-
    weg zu setzen. Ein Stück Ihres Eindrucks 
    erkläre ich mir aus der notwendigen 
    Gleichartigkeit des Eindrucks, wenn je-
    mand zB. zwei Malern zuschauen würde 
    wie sie Pinsel u Palette handhaben. Über 
    die Gleichwertigkeit der Bilder wäre damit 
    nichts ausgesagt. Ein anderes Stück ist 
    wol durch Angleichung entstanden, 
    persönlicher und aktueller Empfindung 
    entstammt. Lassen Sie mich gestehen, daß 
    ich an mir nur eine Eigenschaft vom 
    ersten Rang gefunden habe, eine Art 
    von Courage, die von Konventionen 
    unbeirrt ist. Übrigens gehören Sie 
    selbst zu den Produktiven und müßten 
    auch an sich den Mechanismus der 
    Produktion beobachtet haben, die Aufein-
    anderfolge von kühn spielender Phantasie 
    und rücksichtsloser Realkritik.

  • S.

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    Ich habe in den letzten Zeiten regelmäßig ge-
    arbeitet, den zweiten Artikel meiner 
    synthetischen Serie fertiggemacht. Er handelt 
    von der Verdrängung, der erste von Trieben und 
    Triebschicksalen, der liebste wird mir 
    der dritte sein, der das Unbewußte bear-
    beitet und die Ihnen bekannte Agnos-
    zirung desselben bringt. Als Redakteur 
    werden Sie die Fahnen der beiden ersten 
    sehr bald erhalten. Geschriebenes habe ich jetzt 
    nicht, außer Unlesbares in Entwürfen. Ich 
    will Ihnen einen kecken, von Galgenhumor 
    inspirirten Vortrag schicken, den ich hier 
    im Judenverein gehalten habe (im Druck). 
    Bitte aber, schicken Sie ihn mir gleich zurück, 
    da er als ganz populäres Stück viel ver-
    langt wird und nur in Einzahl vorhanden 
    ist.

    Meine Produktivität hängt wahrschein-
    lich mit der großartigen Besserung 
    in meiner Darmtätigkeit zusam̄en. 
    Ob ich diese nun einem mechanischen 
    Faktor verdanke, der Härte des Kriegs-
    brodes, oder einem psychischen, dem 
    notwendigerweise geänderten Verhält-
    nis zum Geld, lasse ich dahingestellt. Je-
    denfalls kostet mich der Krieg bereits 
    einen Entgang von über 40,000 Kr. 
    Wenn ich dafür Gesundheit eingekauft 
    habe, kann ich ja den Schnorrer zitiren 
    der dem Baron sagt: Für meine Gesundheit 

  • S.

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    Gesundheit ist mir nichts zu theuer.

    Seit gestern habe ich einen frischen Luftröhren-
    katarrh u bin ganz müde u dum̄, tauge 
    also heute nur zum Briefschreiben. Oli 
    hat gestern Barackenarbeit in der Gegend 
    von Pöchlarn angenom̄en, hofft dabei sein 
    Prüfungsstudium fortsetzen zu können. 
    Meine Frau verreist morgen über Wochen 
    nach Hamburg, so daß wir 3 Personen 
    bei Tische sein werden. Annerl lernt 
    gleichfalls für ihre Lehramtsprüfung, wird 
    hoffentlich wegen mangelnder Sing-
    stimme abgewiesen werden. Sie entwickelt 
    sich übrigens reizend, erfreulicher als 
    irgendein anderes der 6 Kinder.

    Von Ernst sind die lustigsten Nachrichten 
    aus Klagenfurt, er profitirt von der Un-
    sicherheit, ob es gegen Italien losgehen 
    wird oder nicht. Martin leidet an Magen
     u Darm seit den beiden Typhusimpfungen, 
    hält sich aber, so lange es geht, im Dienst.

    Pfister hat gestern angefragt, ob er von 
    einer Reise nach Dresden den Abstecher 
    nach Wien machen darf; ich habe ihn 
    freundlich dazu aufgefordert.

  • S.

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    Ich habe noch immer 3 Patienten, alle Ungarn 
    und adelig.

    Die nie nachlassende Spannung der Kriegs-
    lage wirkt erschöpfend. Gerüchte, daß es im Mai 
    Frieden geben wird, wollen nicht ver-
    stummen; sie entspringen offenbar 
    einem tiefen Bedürfnis, scheinen mir 
    aber unsinnig. Die Brotverhältniße 
    wollen zu einer ernsthaften Kalamität 
    heranwachsen. Das Volk wird nicht 3 
    Monate hungern wollen.

    Ich bin neugierig, ob Sie nicht auch ohne 
    Krankheit einen kurzen Urlaub für 
    Wien bekommen. Wir wollen dann 
    prüfen, ob Freund Ignotus Recht hat 
    mit seiner Verwerfung. Vor einem 
    Jahr waren wir in Brioni und haben uns 
    mit Phantasien über die ψα Urgeschichte 
    so gut unterhalten. Heu quo mutatus 
    ab illo …!

    Ich grüße Sie herzlich u erwarte 
    Ihre Nachrichten in kürzeren 
    Intervallen.
    Ihr 
    Freud