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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    21.6.15.

    Lieber Freund

    Danke für Ihren Brief und Nachrichten und 
    sehr zufrieden, daß Sie neuen Stoff zur 
    Einleitung in Ihre Arbeit gefunden haben. 
    Ihre Sendungen an Rank habe ich von ihm 
    bekom̄en. Die Gleichniße und das lateinische 
    Sprüchlein mit viel Wolgefallen gelesen. 
    Von der Überzeugungsarbeit hält mich noch 
    etwas zurück, vielleicht haftet von München 
    her etwas daran.

    Von Sommerplänen kann ich wenig schreiben. 
    Meine Frau will durchaus Karlsbad, obwol
     ich dahinbezüglich woler bin denn seit 1909. 
    Es wird wahrscheinlich für die erste Zeit 
    werden. Diesen Samstag fahre ich nach Berchtes-
    gaden, um dort auf dem Salzberg Umschau 
    zu halten. Minna ist in Reichenhall und 
    wird wahrscheinlich hinüberkommen, sonst 
    muß ich nach Reichenhall auch. Sie sehen, wie wenig 
    Aussicht sich für ein Zusam̄entreffen 
    im strikten Som̄er bietet. Im Herbst besuche 
    ich Sie aber gewiß in Papa.

    Ich arbeite zwar verdroßen, aber doch 
    stetig. 10 der zwölf Abhandlungen sind fertig, 
    zwei davon (Bewußtsein u Angst) allerdings 
    der Umarbeitung bedürftig. Eben 
    habe ich die Konversionshysterie been-
    digt, fehlen noch Zwangsneurose 

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    und Synthese der Übertragungsneurosen. Es steht 
    manches darin, hat aber viele Eigentümlich-
    keiten und nicht die richtige Vollendung.

    Rank u Sachs sind beide genom̄en, aber 
    der erstere bleibt in Wien u kann die 
    Fahne noch eine Zeitlang weitertragen. 
    Ich war schon sehr besorgt, daß wir sie jetzt 
    schon einziehen müßten.

    Mein Sohn Martin macht offenbar die große 
    Offensive mit, schreibt gelegentlich inter-
    essante Kriegsberichte, dann wieder 
    eine Karte, daß er sich langweilt. Er ver-
    trägt offenbar keine Pausen. Ernst 
    war von W Neustadt schon einige Male 
    hier, ist immer prächtig. Oli u Anna 
    haben gleichzeitig in den ersten Julitagen 
    Prüfung, büffeln gegenwärtig.

    Für heute abend erwartet man die 
    Nachricht von der Räumung Lembergs
    Man hat keine Sicherheit, daß es 
    damit zu Ende sein wird.

    Ich grüße Sie herzlich 
    Ihr 
    Freud

    Anmerkungen:
    die große Offensive [gegen Rußland]  
    Schlacht bei Lemberg und Wiedereroberung der Stadt von 17. bis 22 Juni 191.