• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    27.X.10.

    Lieber Freund

    Ich bin jetzt so intensiv in allen möglichen Arbeiten 
    (noch dazu in einer langausgreifenden Korrespondenz 
    mit Bleuler) daß es Tage gedauert hat, bis ich 
    dazu kam, den gewünschten Brief herauszusuchen. 
    Hier ist er also. Unterdeß ist das Zentralblatt 
    erschienen, immerhin, obwol es technisch noch 
    nicht vollkommen ist, ein bedeutsamer 
    Moment in der Entwicklg der Sache 

    Gestern habe ich im Verein über die „zwei 
    Prinzipien des ψ. Geschehens“ gesprochen. Unbefriedigend. 
    Es gefiel mir am Ende selbst nicht mehr. Der 
    Umgang mit den Leuten wird auch immer schwerer. 
    Ein Gemisch von scheuer Bewunderung und 
    dummem Widerspruch quand même, nicht 
    an denselben Personen. Adler wird auch 
    unleidlich mit seinen neuen Theorien, von 
    deren Schiefheit ich täglich mehr überzeugt 
    werde. Ich hätte mit dem rein Sachlichen, mit 
    der ziemlich weit gediehenen Schreber‑Analyse 
    beginnen sollen.

    Fürs zweite Heft des ZBl hat Jung die Facade 
    u ich einen kleinen didaktischen Aufsatz „Über 
    wilde ΨΑ“ geliefert. Wir haben bereits Über-
    fluß an Stoff u Mangel an Raum, doch muß 
    man ja Vorrat haben, u Sie sollen sich von 
    keinem Vorsatz abhalten lassen.

  • S.

    Heute früh ist die Großmutter in Hamburg 
    gestorben, u meine Frau zum Begräbnis 
    abgereist. Die Arme hat bis zum letzten Oel-
    tröpfchen aushalten müßen. Ernst, der seit 
    der See rheumatisch ist u schlecht aussieht, wird 
    nach Mamas Rückkehr nach Meran für einige 
    Wochen verschickt werden. Ich halte solche 
    Ausgaben [2 Aufl. Sammlung] immer für produktiv. 
    Die Erinnerung an Rom ist unlängst durch 
    den fast nächtlichen Besuch meines Freundes 
    Loewy geweckt worden, der von seinem Ver-
    kehr mit dem ital. Königspaar erzälte u 
    die Erwerbungen aus dem „Nationalgeschenk“ 
    sehr schön fand. Der kl Merkur ist von allen 
    Seiten anerkannt, nur für die Tanagrafigur 
    will niemand die Verantwortg übernehmen.

    Sonderbar, daß ich Ihnen in dieser Zeit der 
    Überfülle gerade darüber schreibe, wie die 
    Frau, die im Brand den Vogelkäfig rettet.

    Ich grüße Sie herzlich und bitte Sie um 
    Nachsicht für diese Schreiberei

    Ihr getreuer 
    Freud