• S.

    6.X.10.

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Es ist merkwürdig, wie viel besser Sie sich in 
    der Schrift als in der Rede darstellen können. 
    Natürlich wußte ich sehr viel oder das meiste 
    von dem, was Sie schreiben u brauche Ihnen jetzt 
    nur wenige Aufklärungen dazu zu geben. Warum 
    ich Sie nicht ausgeschimpft u damit den Weg zu 
    einer Verständigg eröffnet habe? Ganz richtig, 
    es war Schwäche von mir, ich bin auch jener 
    ψα Übermensch, den wir konstruirt haben, 
    habe auch die Gegenübertragg nicht über-
    wunden. Ich konnte es nicht, wie ich es bei meinen 
    drei Söhnen nicht kann, weil ich sie gerne 
    habe u sie mir dabei leid thun.

    Daß ich kein Bedürfnis nach jener vollen Eröffnung 
    der Persönlichkeit mehr habe, haben Sie nicht 
    nur bemerkt, sondern auch verstanden 
    u auf seinen traumatischen Anlaß richtig 
    zurückgekehrt. Warum haben Sie sich also dabei 
    versteift. Seit dem Fall Fliess, mit deßen 
    Überwindung Sie mich gerade beschäftigt 
    sahen, ist dieses Bedürfnis bei mir erloschen. 
    Ein Stück homosex. Besetzung ist eingezogen 
    u zur Vergrößerung des eigenen Ichs ver-
    wendet worden. Mir ist das gelungen, was 
    dem Paranoiker mislingt. – Nehmen Sie 
    noch hinzu, daß ich zumeist weniger wol 
    war, mehr unter meinen Darmbeschwerden 
    gelitten habe, als ich eingestehen wollte, 

  • S.

    u mir oftmals vorhielt: Wer seines Konrads nicht 
    besser Herr ist, soll eigentlich nicht auf Reisen 
    gehen. Damit hätte die Aufrichtigkeit beginnen 
    müßen u Sie schienen mir nicht gefestigt genug, 
    um nicht in Übersorgen zu verfallen.

    Mit den Unannehmlichkeiten, die Sie mir bereitet 
    haben – eine gewiße passive Resistenz mit 
    eingeschloßen – wird es so gehen wie mit den 
    Reiseerinnerungen überhpt; durch einen Selbst-
    läuterungsprozeß schwinden die kleinen Störungen 
    u das Schöne bleibt allein für den intellekt 
    Gebrauch übrig.

    Daß Sie große Geheimniße bei mir vermuten 
    u sehr neugierig auf dieselben sind, war 
    deutlich zu sehen, aber auch leicht als infantil 
    zu erkennen. Sowie ich Ihnen alles Wissenschaft-
    liche mitgetheilt, so habe ich Ihnen nur wenig 
    Persönliches verborgen, u die Angelegenheit 
    mit dem Nationalgeschenk war glaube 
    ich indiskret genug. Meine Träume um 
    die Zeit gingen wie ich Ihnen andeutete, 
    ganz auf die Fliessgeschichte, an der Sie 
    mitleiden zu lassen durch die eigene Natur 
    der Sache schwierig war.

    So werden Sie bei näherer Durchsicht finden, 
    daß die Abrechnung zwischen uns keine 
    so große zu sein braucht, wie Sie vielleicht 
    anfangs gemeint haben.

    Ich will Sie lieber auf die Gegenwart hinlenken 
    u Ihnen erzälen, daß Ihr Name im Wiener 

  • S.

    Mitgliederverzeichnis des Korrespz 
    Blattes Nr. I fehlt, wogegen Sie 
    rekurriren sollen, daß der 
    erste Abend gestern sehr gut 
    ausgefallen ist u 6 neue Mit-
    gliedervorschläge gebracht hat. 
    Jetzt, nachdem Jung sich als 
    Praesident rührt, Statuten, 
    Korresp.blatt u einen Werbe-
    bogen herumschickt, hat man 
    den Eindruck, daß die Organisation 
    gelungen ist. Man wird sich 
    dann daran erinnern, welch 
    großen Anteil Sie an diesem 
    Werk gehabt haben.

    Schrieb ich Ihnen schon, daß ich 
    mich endlich selbst an Bleuler 
    mit der Bitte um Aufklärung 
    seines Vorgehens u mit einer 
    ausführlichen Motivirung 
    des meinigen bei der Vereins-
    gründung gewendet habe? Ant-
    wort steht noch aus.

  • S.

    Und daß ich den Aufsatz von Putnam 
    fürs Zentralbl übersetzt habe 
    den ich wegen eines Kompliments 
    ohne meinen Namen erscheinen 
    lassen muß.

    Gewiß schrieb ich aber noch nicht, 
    daß ich den Schreber einmal 
    durchgearbeitet, den Kern unserer 
    Paranoiaannahmen bestätigt 
    gefunden u allerlei Anlaß zu 
    ernsthaften Deutungen genom̄en 
    habe. Ich habe nun Stegmann 
    gebeten, allerlei Personalien 
    über den alten Schreber ausfindig 
    zu machen. Von diesen Berichten 
    hängt es ab, wieviel ich darüber 
    öffentlich sagen werde.

    Was meinen Sie dazu, wenn der 
    alte Doktor Schreber als Arzt 
    „Wunder“ gethan hat? Sonst aber 
    ein Haustyrann war, der den 
    Sohn „angebrüllt“ und ihn so wenig 
    verstanden hat wie der „niedere 
    Gott“ unseren Paranoiker
    Beiträge zur Schreberdeutung 
    bereitwilligst entgegengenom̄en.

    Herzlich 
    Ihr Freud