• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    11.X.09

    Lieber Freund

    Endlich kann ich mich dazu aufraffen, Ihnen über 
    Ihr Erlebnis mit Frau Seidler zu schreiben. 
    Ich habe jetzt die Erschütterung überwunden 
    und stehe der Sache wie jeder anderen gegen-
    über, was nicht leicht ist.

    Sondern wir aus:

    1). Versuche anstellen, ob sie etwas von der 
    Zukunft aus,, wäre ein offenbarer Unsinn, 
    dieses Vorurteil wird man beibehalten 
    dürfen. Das soll bei allen weiteren Versuchen 
    wegbleiben.

    2). Es scheint mit Sicherheit anzunehmen, 
    daß sie liest. Wie sie es macht, ist ziemlich 
    uninteressant. Sie ist aber eine ganz dum̄e 
    Person, sonst würde sie nicht so genau die 
    Namen reproduzieen, sondern sich mit An-
    näherungen begnügen. Anfangs war ich sehr 
    verwirrt, daß sie Wien erraten haben sollte. 
    Ich hatte vergessen, daß der Name auf dem 
    Briefpapier steht. Dieser Punkt ist durch ein 
    einfaches Experiment zu entscheiden, das Sie Ihrem 
    Bruder auftragen können. Radieren Sie geschickt 
    an einem realen Brief, den Sie erhalten 
    haben, den Ortsnamen aus u ersetzen ihn 
    durch einen anderen, oder verändern 
    Sie ihn durch Hinzufügung, wenn es geht. Klären Sie

  • S.

    Sie zur Vorsicht Ihren Bruder nicht über die Fälschung 
    auf., u Sie werden sehen, daß sie den falschen Ort 
    nennen u von der Fälschung keine Ahnung haben 
    wird.

    3.) Ich kann mich auch der Wahrscheinlichkeit nicht 
    verschließen, daß sie etwas kann, 
    nämlich Ihre Gedanken reproduziren, deren 
    visuelle Darstellung in ihrem Geist sie selbst 
    nicht versteht. Alle anderen Erklärungen 
    wie gesteigerte Feinfühligkeit f. Mimik 
    udgl scheinen mir erstens unzulänglich zweitens 
    setzen sie bei dieser Frau eine besondere 
    psychische Fähigkeit voraus. Die Annahme 
    der Gedankenübertragung allein ver-
    langt das nicht, sondern das Gegenteil, 
    sie darf eine ganz blöde, selbst inaktive 
    Person sein, in der sich abbildet, was sonst 
    durch eigene Geistestätigkeit erdrückt 
    würde. In der Absicht zu schwindeln u die 
    Wundertäterin zu spielen hat sie dann die 
    Courage und die Aufmerksamkeit das geradezu 
    physiologisch in ihr zu Stande Gekom̄ene 
    wahrzunehmen. Gewiße Züge ihres Benehmens 
    wie ihr Fragen, was daran richtig ist, ihre 
    (projizirte) Sorge, ob man sie versteht, 
    scheinen echt zu sein.

    Ich schließe mich also, wie Sie sehen, ganz der 
    von Ihnen gegebenen Deutung an, 
    daß sie die Gedanken, vielleicht die unbw

  • S.

    Gedanken der Versuchsperson errät – 
    mit den entsprechenden Misverständnißen 
    u Annäherungen, einer Art Entstellung 
    beim Übergang aus einer Psyche in die andere. 
    So scheint sie die Bilder von Schiffen u Fahrt 
    symbolisch gedeutet zu haben auf einen Todes-
    fall wie vielleicht in anderen Fällen richtig, 
    weil sie nicht wissen konnte, daß sie einen 
    wirklichen Amerikafahrer vor sich hat.

    Was sie über mich sagt, an u für sich Unsinn, 
    bekom̄t Wert, wenn Sie es agnosciren u 
    legitimiren. Sie haben es dann zu verant-
    worten.

    Das mit den uralten Büchern u Noten verstehe 
    ich nicht. Das müßten Sie analysiren. Ob es 
    nicht doch Dollarnoten sind?

    Bei der Analyse der Wahrsprüche wären also 
    zu berücksichtigen.

    1). die Entstellung der Pythia

    2). Ihre eigenen Widerstände

    Es mag xmal mislingen unter solchen Umständen 
    eine Deutung zu geben; wenn es gelingt, 
    nur unter der Bedingg, daß Sie das 
    Gesagte wie eine eigene ψ Leistung 
    adaptiren.

    Soll man nun auf diese Erfahrung hin sich 
    zum Occultismus bekennen? Gewiß nicht; 
    es handelt sich nur um die Gedanken-
    übertragung. Läßt sich diese erweisen, so 
    muß man sie glauben, – sie ist dann

  • S.

    kein ψ Phänomen, sondern ein rein somatisches 
    allerdings eine Neuigkeit erster Ordnung 
    Unterdeß schweigen wir darüber mit absolutem 
    Stillschweigen. Der einzige, den ich ins Geheimnis 
    gezogen habe, ist Heller, der ja auch Erfahrungen 
    mit ihr gemacht hat. Jung wollen wir in 
    einem späteren Stadium einweihen, wenn 
    mehr vorliegt; denn vorläufig ist es doch 
    recht wenig, u bei klarer Fragestellg, 
    Verzicht auf die Zukunft und Einrechng des 
    kleinen Betrugs muß das Material leicht 
    zu vermehren sein. Denken Sie sich gute 
    Pläne aus u lassen Sie Ihren Bruder Ver-
    suche machen, womit zunächst der Verzicht 
    auf Analyse verbunden ist. Dann können 
    wir einmal eine Forschungsreise nach 
    Berlin unternehmen, wenn Sie bis dahin 
    in Bpest nichts ebenso Gutes gefunden 
    haben.

    Ich fürchte fast, Sie haben da eine große 
    Sache zu erkennen begonnen, aber die 
    Verwertung wird auf die ärgsten Schwier-
    igkeiten stoßen.

    Ich bin in voller Arbeit, bei meiner 
    Tochter nichts Neues (schrieb ich schon, daß sie 
    wieder leidet?)

    Ich grüße Sie herzlich 
    Ihr Freud

    Beilagen retour 
    als Beginn eines Dossier.

    Anat. France hoffentlich erhalten.