S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.A
30.1.08
Sehr geehrter Herr College
Ich werde mich also sehr freuen
Sie u Collegen Dr Stein am
Sonntag 2 Febr, bei mir zu sehen.
Durch die Krankheitsfälle in meiner Familie
ist meine Frau leider
verhindert, Sie beide als Gäste zu
Tisch zu empfangen, wie wir es in
besseren Zeiten mit Dr Jung u
Dr Abraham thun konnten. Ich kann
Sie nur bitten, mich am Nachmittag
etwa 3h zu besuchen un mir den Tag
von da ab zu schenken.
Ihr collegial ergebener
Dr Freud
Meine besten Grüße an Dr Stein.
Anmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)
Krankheitsfälle: Mehrere Familienmitglieder hatten Grippe; Mathilde (1887-1978), Freuds ältestes Kind, litt nach einer Blinddarmoperation an einer Abdominalreizung (Freud/Jung, 25.1.1908, Briefwechsel, S. 126) bzw. einer Perityphlitis, also einer Entzündung des Bauchfellüberzugs von Blinddarm und Wurmfortsatz (Brief Karl Abrahams vom 8.3.1908 an Max Eitingon; in: Hilde Abraham, Karl Abraham, München 1976, S. 81). Mathilde heiratete 1909 Robert Hollitscher (1875-1959), einen Handelsagenten. Das kinderlose Ehepaar starb in der Emigration in London.
Meine Frau: Martha Freud (1861-1951), Tochter von Berman (1826-1879) und Emmeline Bernays, geb. Philipp (1830-1910). Die Bernays waren eine vornehme jüdische Familie; Marthas Großvater väterlicherseits, Isaak (1792-1849), wurde 1821 zum Oberrabbiner von Hamburg berufen. Von seinen Söhnen wurde Jakob (1824-1881) Professor der Philologie und Michael (1834-1897) Professor der Literaturgeschichte. Berman Bernays, ein Kaufmann, übersiedelte 1869 mit seiner Familie nach Wien und wurde dort Sekretär des Nationalökonomen Lorenz von Stein. Martha verlobte sich 1882 in Wien mit Freud, ging aber 1883 auf Wunsch ihrer Mutter nach Wandsbek in Deutschland. Die getrennten Verlobten unterhielten eine fast tägliche Korrespondenz (vgl. eine Auswahl von Freuds Briefen in Freud 1960a und in Brautbriefe, hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt/M. 1988). Das Paar heiratete 1886 nach jüdischem Ritus und hatte sechs Kinder: Mathilde, Jean Martin, Oliver, Ernst, Sophie und Anna.
Dr Jung: Carl Gustav Jung (1875-1961) war damals Oberarzt an der Kantonalen Heilanstalt und Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich. (Am Burghölzli, unter der Leitung von Auguste Forel und seinem Nachfolger Eugen Bleuler [siehe 18 F, Anm. 2] eine der wichtigsten und fortschrittlichsten Anstalten Europas, waren rund um diese Zeit viele später bekannte Persönlichkeiten Gäste oder Mitarbeiter, so unter anderen: Karl Abraham, Roberto Greco Assagioli, Ludwig Binswanger, Trigant Burrow, Abraham Arden Brill, Charles Macfie Campbell, Imre Décsi, Max Eitingon, Sándor Ferenczi, Johann Jakob Honegger, Smith Ely Jelliffe, Ernest Jones, Alphonse Maeder, Herman Nunberg, Johan H.W. van Ophuijsen, Nikolai J. Ossipow, Franz Riklin, Hermann Rorschach, Tatiana Rosenthal, Leonhard Seif, Eugenie Sokolnicka, Sabina Spielrein, Philipp Stein, Wolf Stockmayer, Johannes Irgens Stromme, Jaroslaw Stuchlík und G. Alexander Young). 1906 hatten Jungs Untersuchungen von Wortassoziationen bereits die Aufmerksamkeit Freuds erregt. In der Folge wurde Jung Schüler, Mitarbeiter und Freund Freuds, der in ihm seinen "liebe[n] Sohn und Nachfolger" (Freud/Jung, 10.8.1910, Briefwechsel, S. 379) sah: So war Jung Redakteur des ersten psychoanalytischen Periodikums, des 1908 begründeten Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, und erster Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) (1910-1914). 1912 begann Jung, von Freud abweichende theoretische Vorstellungen zu entwickeln - vor allem in Bezug auf den Libidobegriff - und begründete die sogenannte Analytische Psychologie. Er war Pionier im Verständnis der Psychosen und erforschte die archaische Erbschaft der menschlichen Psyche. An seinen Äußerungen über die "jüdische Psyche" und seinen Funktionen während der Zeit des III. Reichs (1933 Präsident der Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und bis 1939 Herausgeber des Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete) nahmen viele heftigen Anstoß.
4 Karl Abraham (1877-1925), deutscher Psychiater, arbeitete seit 1904 unter C.G. Jung am Burghölzli. Seit 1907 in engem Kontakt mit Freud, wurde er einer seiner engsten Mitarbeiter und mit Sándor Ferenczi, Ernest Jones, Otto Rank und Hanns Sachs Gründungsmitglied des geheimen "Komitees" (1912) (siehe 320 F und Anm. 4). 1908 gründete Abraham eine inoffizielle psychoanalytische Vereinigung in Berlin, die 1910 erste Zweigvereinigung der IPV wurde und nach dem Ersten Weltkrieg Zentrum psychoanalytischer Ausbildung und Lehre war. Er blieb deren Präsident bis zu seinem Tod. Er und Hitschmann übernahmen von Jung die Redaktion des Jahrbuchs, ab 1919 war Abraham Redakteur der Internationalen Zeitschrift für (ärztliche) Psychoanalyse. 1914 löste Abraham Jung als Präsident der IPV ab (bis 1918), 1924 wurde er erneut in diese Funktion gewählt. Seine theoretischen Arbeiten - vor allem jene über prägenitale Entwicklungsstadien und Psychosen - gelten als klassische Beiträge zur Psychoanalyse.
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