• S.

     Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    10.1.09

    Lieber Herr College

    Jung schreibt mir heute, daß er sich mit Brod-
    mann wegen Ihrer Arbeit in Verbindung 
    gesetzt hat. Sie verdient es, daß man sich ihret-
    wegen Mühe macht. Sie können sich denken, wes-
    halb ich den Vortrag Ihrer Ideen im Mittwochs-
    verein nicht begünstige. Die Prioritätsfrage 
    würde dadurch verwirrt. Ich hoffe, Sie wissen auch 
    daß ich die Schwierigkeiten im Jahrbuch nur in 
    Ihrem Interesse, u auch dieß nur vorläufig 
    mache. Ich habe nicht die Empfindung des „Wol-
    täters“ gegen Sie u andere u knüpfe also die 
    sonst berechtigten Befürchtungen an mein 
    Thun, von denen Sie sprechen. Ich finde, daß ich 
    mit Rücksicht auf mein Alter den Platz für 
    andere, die nach mir kom̄en, offen halten 
    muß, daß ich also alles nur für die Sache 
    thue, die im Grunde wieder die meinige ist 
    dh daß ich durchaus egoistisch vorgehe. Unter 
    meinen Nachfolgern u Fortsetzern soll Ihnen 
    ja ein hervorragender Platz bestimmt sein.

    Die Absage nach Amerika hat mir auch leid gethan 
    u wenn die Reise wider alles Erwarten doch 
    zu Stande käme, wäre ich auch im Stande 
    Sie zur Begleitung aufzufordern. Aber ich 
    finde die Zumutung, soviel Geld für die 
    Gelegenheit zu opfern dort Vorträge zu halten, doch 
    zu sehr „amerikanisch“.

  • S.

    Amerika soll Geld bringen, nicht Geld kosten 
    Übrigens dürften wir dort bald in „Verschiß“ geraten, 
    sobald sie auf den sexuellen Untergrund 
    unserer Psychologie gekommen sein werden. 
    Brill schreibt bald überschwenglich hoffnungsvoll 
    bald bedenklich; er glaube, er wird es bald 
    sehr hart finden.

    Eine Arbeit von Strohmayer in Jena über 
    Angst ist das  erfreulichste Ereigniß dieser 
    Tage.

    Ich möchte Ihnen für den Vortrag im Ärzteverein 
    zu nichts anderem raten, als was Sie selbst 
    beabsichtigten. Wir werden uns ja noch oft 
    wiederholen müßen. Den therap. Pessimismus 
    der Sie zuletzt beherrscht hat, stecken Sie natür-
    lich einstweilen in die Tasche.

    Stein versuche ich zum Ausharren in Budapest zu 
    ermutigen. Es ist nicht leicht etwas für ihn Geeig-
    netes zu finden, u vor allem kann es nicht 
    so rasch geschehen, wie er wünscht.

    Herzliche Wünsche zum neuen Jahre, das uns 
    alle erhalten u vorwärts bringen möge.

    Ihr herzlich ergebener 
    Freud

    Anmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)

    Prioritätsfragen: Vgl. 27 F, Anm. 2. Prioritätsfragen spielten in der Mittwoch-Gesellschaft eine große Rolle (vgl. z.B. die Debatte über "geistigen Kommunismus" am 5.2.1908; Protokolle I, S. 282-285).

    Strohmayer: Wilhelm Strohmayer (1874-1936), Arzt und Privatdozent (ab 1910 Professor) für Psychiatrie und Neurologie in Jena, hatte eine Arbeit >Über die ursächlichen Beziehungen der Sexualität zu Angst- und Zwangszuständen< (Journal für Psychologie und Neurologie, 1908/09, 12: S. 69-95) veröffentlicht.