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Semmering
25.8.1924Lieber Herr Doktor
Die heutige Post bringt einen Brief von Ihnen, er enthält aber nur eine Einführung für einen überflüssigen Dr. Wechsler. Es fällt mir doch auf, daß Sie in diesen Monaten der Abwesenheit in für uns, Sie und mich, kritischen Situationen kein größeres Bedürfnis gezeigt haben, mich wissen zu lassen, was in und mit Ihnen vorgeht und es macht mir Sorge.
Obwohl ich jetzt die meisten Geschehnisse sub specie aeternitatis sehe und nicht die volle Leidenschaftlichkeit wie in früheren Jahren darauf verwenden kann, stehe ich den Veränderungen im Verhältnis zu Ihnen nicht gleichgiltig gegenüber. Mein Befinden scheint darauf hinzudeuten, daß ich doch noch einige Lebenszeit vor mir habe und es ist mein starker Wunsch, daß Sie während derselben kein Verlust für mich bedeuten sollen. Sie haben Europa, wie ich höre, in erregter und argwöhnischer Verfassung verlassen. Die Erkenntnis, daß ich zum Teil von der Einschätzung Ihrer letzten Arbeit zurückgekommen bin, wird Ihre Verstimmung gesteigert haben. Wahrscheinlich überschätzen Sie die affektive Bedeutung dieser theoretischen Differenz und glauben, daß ich während Ihrer Abwesenheit Einflüssen zugänglich geworden bin, die Ihnen feindselig sind. Absicht dieses Briefes ist Sie zu versichern, daß dies nicht der Fall ist. Ich bin nicht so leicht für andere zugänglich, und andere - ich
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habe hier mehrtägigen Besuch von Eitingon und Abraham gehabt - sind ebenso aufrichtig in der Anerkennung Ihrer außerordentlichen Verdienste und voll von Bedauern über die Schroffheit, mit der Sie sich abschließen. Es besteht keine Feindseligkeit gegen Sie, weder bei uns noch bei meiner New Yorker Familie. Es ist gerade vor Ihrer Rückkehr noch Zeit, einen Brief zu wechseln. Ich möchte, daß Sie mich über Ihre gegenwärtige Verfassung aufklären und beruhigen.
Die Meinungsverschiedenheit in Sachen des Geburtstraumas wiegt bei mir leicht. Entweder Sie werden mich im Laufe der Zeit, wenn noch Zeit genug ist, überzeugen und berichtigen oder Sie werden sich selbst korrigieren und sondern, was dauernder Neuerwerb ist von dem, was die Befangenheit des Entdeckers dazu getan hat. Ich weiß, daß es Ihnen an Beifall bei Ihrer Neuerung nicht fehlt, aber bedenken Sie auch, wie wenige urteilsfähig sind und wie stark doch bei den meisten das Bestreben ist, vom Ödipus loszukommen, wo sich ein Weg dazu zu eröffnen scheint. Auf keinen Fall, auch wenn viel Irrtum daran ist, brauchen Sie sich der geistvollen und inhaltsvollen Produktion zu schämen, die auch den Kritikern Neues und Wertvolles bringt. Aber gewiss nicht anzunehmen, daß diese Ihre Arbeit unsere langjährigen intim begründeten Beziehungen stören müßte.
Indem ich diesmal meinem herzlichen Gruß die Erwartung beifüge, Sie bald zu sehen
Ihr Freud
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