• S.

    Salzberg 8.9.22
    PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19

    Lieber Herr Doktor

    Situationsbericht: Der 6te Tag elenden Wetters, der 4te eines zähen triefenden Nebels; ich habe endlich nachgegeben und einheizen lassen. Eitingon, der am 3t u 4t hier war, hat keinen Berg zu Gesicht bekommen, ich hoffe sie sind "latent" noch vorhanden. Im Hause herrscht Palastrevolution, der größere Teil der Dienerschaft ist nach Intervention eines Gendarmen durchgegangen. Meine Frau ist heute nach Rchll zu ihrer Schwester, wir, Oliver, Anna, die kl Edith Rischawy und ich, wollen sehen ob wir es zum 14t aushalten. Für die Nacht 15/16 haben wir Schlafbillets München - Hamburg. Frink fährt jetzt täglich von Berchtesg herauf zur Analyse, seine sehr liebenswürdige Zukünftige gewöhnlich mit ihm.

    Eitingon hat auch das Ich u Es nach Berlin entführt, das ich ohnediess einige Monate nicht angeschaut hätte. Er meint, es sollte wieder eine Brochüre werden wie das Jenseits, es sind aber nur 96 Schreibseiten (2 1/2 Bogen). Während er hier war, kam ein Brief von Ermakow u der erste Teil der von Wulff übersetzten Vorlesungen. Den Brief lege ich bei; in der Antwort habe ich vorgeschlagen, alle Korrespondenzen über Eitingon - Berlin zu leiten, da dieser Postverkehr regelmäßig funktioniren soll. Die Sorge um die russischen Ausgaben sind wir übrigens los. Fara da se, sie werden alles in Moskau selber machen.

    Ich hatte viel intime Besprechungen mit Eit., habe ihn auch in das Problem Jones eingeweiht, von dem er kaum etwas wußte. Von der materiellen Lage des Verlags haben wir nicht gesprochen, aber mein Eindruck ist, daß er sich darüber keine Sorgen macht, 

  • S.

    und das ist sehr gut. Für den Fall, daß wir Wien verlassen müssen, weil man dort nicht mehr leben kann und analysenbe¬dürftige Freunde nicht mehr kommen wollen, bietet er uns in Berlin eine erste Unterkunft. Wenn ich 10 [50?] Jahre jünger wäre, würde ich allerlei Pläne an diese Übersiedlung knüpfen. Mein Befinden hat sich im Sept unzweifelhaft gebessert, aber ich habe keine rechte Sicherheit.

    Ich werde mit Anna auch am 20 od. 21st in Berlin eintreffen. Eit. meint, daß die Komitésitzungen sehr gut in seinem Haus stattfinden können. Die englischen Probleme werden uns wol am ausgiebigsten beschäftigen, ich bin sehr dagegen, der Press irgend eine Art von Selbständigkeit - weder technische noch finanzielle - einzuräumen. Nach ihren Leistungen in diesen zwei Jahren hat sie solche Ansprüche verwirkt. Jones soll wol Leitung bleiben, aber durch Rickman, wie er selbst vorschlägt, unterstützt werden, Hiller's Stellung ernsthafte Revision erfahren, Flügel als Sekretär ersetzt werden. Jones hat sich sehr unfähig gezeigt. Gegen dies auswärtige Problem treten die Stürme im heimischen Wasserglas wol sehr zurück.

    Ich freue mich sehr, daß Sie Storfer so loben können. Es gehört auch zu den Pflichten und Verdiensten des Meisters, den richtigen Gesellen zu finden.

    Ihr Bündnis mit Ferenczi hat, wie Sie wissen, meine volle Sympathie. Die frische draufgängerische Initiative Ihres gemeinsamen Entwurfes wirkl erfreulich. Ich habe immer die Angst gehegt, die mir Nächsten von selbständiger Stellungnahme abhalten zu müssen u bin froh, wenn ich Beweise 

  • S.

    für's Gegenteil sehe. Manches verstehe ich noch nicht, anderes scheint mir zu hart oder zu extrem oder zu sicher. Aber es fehlt ja noch jede Retouche. Den "Komplex" können wir seit seiner Union mit dem Oedipus nicht mehr abschaffen. Die Unterordnung unter den therap-technischen Gesichtspunkt macht die [...]  allzu streng gegen die Deskription, die auch jetzt noch nicht zu entbehren ist. Der Kastrat.-Kompl. zB. ist noch nicht deskriptiv erledigt, sollte also noch nicht verurtheilt werden. Es wird Sie interessiren, daß das ubw. Schuldgefühl auch im Ich u Es eine hervorragende Rolle spielt. Nehmen Sie aber auch die vorstehenden Bemerkgen noch nicht als Kritik.

    Nun erübrigt noch, Ihnen mit Frau u Kind einen befriedi-genden Nachsommer im Bairischen zu wünschen. 

  • S.

    Besseres Wetter als wir haben, kann ich leider für Sie nicht erwarten.

    Herzlich Ihr
    Freud

    P.S. Der Strike in Wien ist natürlich Wasser auf die Mühlen unserer Press, die jetzt eine Ausrede hat, wenn sie auf dem Kongress unvertreten bleibt. Leider scheinen auch unsere Zeitschr.-Nummern gefährdet. Wir haben seit Montag keine Zeitung bekommen.