• S.

    Badgastein 10.7.22
    PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19

    Lieber Herr Doktor

    Ich habe gestern Ihre Arbeit durchgelesen. Wie Sie wissen, beurteile ich nicht gerne die Produktionen meiner nächsten Freunde u Mitarbeiter, weil ich die Sorge habe, sie durch meine Kritik in ihrer Selbständigkeit zu hemmen, u weil ich selbst Neues nur langsam aufnehme und in meinen Besitz hineinarbeite. Bei Ihrem Aufsatz will ich eine Ausnahme machen, weil Sie es direkt verlangen u weil es Ihre erste rein analytische Arbeit ist.

    Ich glaube sie eignet sich nicht zum Vortrag auf dem Kongress. Wenig Neues u dies sehr klar ist die Bedingung für einen wirksamen Kongressvortrag. Ihre Arbeit ist sehr inhaltsreich, nicht genug durchsichtig u läßt gewisse didaktische Rück¬sichten vermissen. Sie hat nicht den unparteiischen, unwissenden, in seiner Aufnahmsfähigkeit sehr eingeschränkten Zuhörer vor Augen. Sie würde imponieren, aber verwirren.

    Auch von dieser Verwendung abgesehen würde ich ihr vorwerfen, daß sie zuviel Wichtiges vermengt und streift, als ob es bekannt wäre, was eingehender, gesonderter Behandlung würdig wäre. Da ist die Neuheit über den Mechanism der Heilung durch Identifizierung, die in dem Material fast verloren geht, die Aufstellung einer zu weit gehenden Identifizirung, die sehr richtig ist, wobei aber bei den Grenzen der wünschenswerten Identfzg nicht verweilt wird, die ausgezeichnete Erkenntnis von der Affektbefriedigg 

  • S.

    am unrichtigen Objekt (etwas höchst charakteristisches für die ubw Arbeit, siehe die Anekdote vom unschuldigen Schneider, der für das Verbrechen des Schmieds gehängt werden soll!), die Erörterg über die mehrfachen Identifizierg [sic] in den Sexualakten, die nicht sehr durchsichtig sind, die Auseinandersetzg mit dem männlichen Protest usw. Bei so wertvollem Inhalt fehlt der Arbeit die innere Struktur, längs welcher der Leser das Ganze begreifen soll.

    Ich bin also dafür, daß die Arbeit viel breiter, behaglicher u didaktischer umgeschrieben werden soll, u daß Sie dem Kongress lieber einen leichteren Brocken hinwerfen sollen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich eine solche Arbeit bei einem andern einfach als sehr gut u wertvoll beurteilt hätte. Nun, was soll mit dem Mnskpt geschehen?

    Mit Bedauern konstatire ich, daß heute 1/3 Gastein vorüber ist. Der Aufsatz über Trdeutung wird aber wenigstens noch heute fertig.

    Mit herzlichem Gruß
    Ihr Freud