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[Briefkopf Wien]
8. 5. 16
Lieber Freund
Endlich bin ich dabei, Ihren Brief, den zuerst
gekom̄enen, als den letzten zu beantworte
Infolge der Notizen in Berliner Zeitungen
konnte der Tag doch nicht so geheim gehalten
werden, wie ich es wünschte, und gerade die
Mittelfernen, die nichts von meinem Wunsche
wußten, haben sich gerührt u mir viel Ar-
beit geschafft. Ich habe auch aus Wien soviel
Blumen bekom̄en, daß ich auf Grabkränze
keinen Anspruch mehr habe, und Hitschmann
hat mir eine „ungehaltene Rede“ zugesteckt,
die so rührend und anpreisend war, daß
ich verlangen darf, seinerzeit ohne Grabrede
begraben zu werden.Die Arbeit, mit der Sie mich beschenkt haben,
ist so vortrefflich wie – alles, was Sie in
den letzten Jahren machen, hervorragend
durch Vielseitigkeit, Vertiefung, Kor-
rektheit, und nebenbei volle Überein-
stim̄ung mit der Wahrheit, soweit sie
mir bekannt ist. Sie ist so durchsichtig,
daß sie nach einer graphischen Darstel-
lung der sich kreuzenden und ver-
einigenden psychischen Kräfte zu
schreien scheint. Sie soll aber nicht
in dem Sinne mein bleiben, daß sie[Briefkopf Wien] -
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den anderen vorenthalten
bleiwird.Wollen wir sie noch eine Weile reserviren
ob vielleicht unser Jahrbuch wieder erwacht?
Wenn nicht, so setzen wir sie dann in
die Zeitschrift.Ich weiß Ihnen wenig Neues zu berichten.
Daß die Ehe meines zweiten Sohnes in
einigen Wochen eine formelle Auflösung
finden wird, habe ich Ihnen wahrscheinlich
schon geschrieben. Es ist kein Unglück, obwol
er es etwas schwer nim̄t, eher das Gegenteil,
übrigens eine ganz anständige simple Sache.
Das Mädchen, das sich vorher alles mögliche
Schwere zugetraut, ist eine Ausreißerin
u hat vor der Aufgabe, ihrenmediz. Studium
mit seinem Ingenieurleben zu vereinigen
die Flucht ergriffen. Von den beiden anderen
hören wir nur mit 14tägiger Verspätung.
Mein Schwiegersohn ist noch als Rekonvales-
zent in Hambg, hat sich ein Stück traumat.
Neurose geholt. Ich weiß nicht, ob es Rücksicht
finden wird. Tochter u Enkel bleiben
natürlich dort.Wir freuen uns alle unmäßig,
daß Sie wieder Frau u Kinder bei
sich haben können. Grüßen Sie sie
herzlich von mir u nehmen Sie einen
wortkargen Dank für alles, was Sie
mir gesagt haben. Ihr getreuer
Freud