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PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
26. 2. 1928
Lieber Herr Doktor
Heute nichts von der öden Politik, nur
über Ihre Mignon. Eine lästige Conjunctivitis
hat mich abgehalten, Ihnen früher zu
schreiben.Die bloße Tatsache, daß die Arbeit vorliegt,
hat mich sehr erfreut. Ich bin gern bereit,
Ihnen alles zu sagen, wozu sie mich ang-
eregt hat.Sie ist sehr vorsichtig u bescheiden abgefaßt.
Die Vorsicht rechtfertigen Sie treffend
durch den Hinweis auf Goethe’s Undurch-
sichtigkeit und Geheimthuerei. Und über-
dies bedarf Vorsicht keiner Rechtfert-
igung. Aber sie ist vielleicht allzu zu-
rückhaltend und giebt ihrem Stil
einen gewißen Zug von Zaghaftigkeit.
Zum Inhalt kann ich bemerken, daß
ich einiges vermisse, was in unseren
Gesprächen erwähnt wurde und bei
nochmaliger Prüfung sich doch als mit-
teilenswert erweisen könnte. So
unsere Vermutung, daß den Anfällen
Mignons reale Beobachtungen zu
Grunde liegen, die der Knabe dann
an den Krankheiten seiner verstorb-
enen Geschwister gemacht haben kön̄te.
Wahrscheinlich sind doch diese Kleinen der
tbc Meningitis durch Milchinfektion
erlegen. Soxhlet hätte uns vielleicht
um die Schöpfung der Mignon gebracht.
Scheint Ihnen diese Vermutung
zu wenig begründet oder getrauen
Sie sich, sie mit aller Reserve
vorzubringen. In diesem Zusam̄en-
hange wäre doch zu sagen, daß
Wolf die Krämpfe der Mignon -
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als ein Element besonderer Herkunft empfunden
und vermutet hat, daß sie im Urmeister fehlen,
während die bald darauf erfolgende Auf-
findung dieser ersten Gestaltung des
Romans gezeigt hat, daß sie der Mignonfigur
von Anfang an fest anhaften. Mignon
wäre dann also nicht nur Cornelia und
Hans Jakob, sondern verträte auch die
verlorenen Geschwisterchen, deren Ver-
schwinden Wolfgang realiter gewiß nicht
bedauert hat. Ich bin persönlich einer
solchen Auffassung als Gutmachung besond-
ers zugeneigt. Ein Jahr nach mir kam ein
Bruder, der nach kurzer Zeit (an tbc
Infektion!) starb. Ich kenne ihn nicht aus
der Erinnerung, nur aus Andeutungen
der Analyse, war gewiß froh über seinen
Tod, aber ich weiß, daß ich diesen Bruder
durch’s ganze Leben gesucht habe, um
mit ihm gemeinsam zu arbeiten – (zu
spielen). Mein heute lebender Bruder
ist zehn Jahre jünger.Ferner: Wolfgang begiebt sich offenbar später
(schon bei Hans Jakob, den er belehren
will) in die Vateridentifizirung, die
Meister ja auch gegen Mignon einhält.
Der Harfner ist gewiß sein Gegenstück
aber als die andere Seite des Vaters,
als der unheimlich, an Melancholie
leidende kastrirende Vater; der
Harfner mag dem eigenen Vater Goethe’s
nachgebildet sein. In der Italiensehnsucht
hat G. offenbar die Beziehung zwischen
Vater und Kind umgekehrt. Mignon
erregt sie bei Meister, wie der Vater
bei ihm.Soll ich Ihnen das Mnskpt zurückschicken?
Ich thue es doch nächster Tage.Mit herzlichen Grüßen
Ihr FreudAnmerkung: Soxhlet: Franz Ritter von Soxhlet, (* 13.1.1848 Brünn, Mähren; † 5.5.1926 München), deutscher Agrikulturchemiker, konstruierte 1886 einen Apparat zur Pasteurisieren der Milch