• S.

    15 Okt 20
    PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19

    Lieber Herr Doktor

    Ihr heutiger Brief traf mich nicht unvorbereitet, hat mich aber doch recht betrübt.  Ich wusste, dass Sie Schwierigkeiten haben, meinte aber, das Unverschuldete und Allgemeine derselben würde Ihnen erlauben, sie mit dem "grünen Humor" zu tragen, sich sich allein für diese Zeiten schickt u für den Sie doch sonst soviel Begabung haben.

    Es freut mich aber, dass Sie meinen, ich könnte etwas zur Änderung beitragen.  Es ist wahr, ich habe bei dem ersten Ansturm dieses Monates zuerst an andere, bedürftigere gedacht, doch auch an Sie nicht vergessen.  Leider treffen nicht alle meine Geschosse.  Ich werde nun konsequent weiter zielen u hoffe dem Übelstand, dass Sie nicht mehr als zwei Analysen haben, unterstützt von der Gunst des Zufalls bald ein Ende zu machen.  Gelingt es mir nicht so rasch, so verlange ich, dass Sie annehmen, es sei nicht mein Vergessen daran Schuld.

    Sie haben Recht, ich habe es selbst auch oft erfahren, dass das Interesse für die analyt. Arbeit u die Fähigkeit zur Produktion sinkt, wenn die Anzal der Analysen, also die Summe

  • S.

    der Anregungen unter ein gewisses Mass herabgeht.  Aber ich fordere Sie - mit Stekel zu sprechen - auf, die Seelengrösse zu zeigen, sich durch dieses Gesetz nicht beherrschen zu lassen, u in der hoffentlich nur kurzen Musse theoretisch u organisatorisch zu arbeiten.  Ihre Arbeit an den Zeitschriften wird ja immer wichtiger für uns u kann von einem Anderen nicht geleistet werden.

    Seien Sie also wieder guten Mutes, stellen Sie die Altershypochondrie in den Winkel wohin sie gehört und grüssen Sie herzlich Ihre reizenden Frauenzimmerchen von Ihrem

    freundschaftlich ergebenen
    Freud