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    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX. BERGGASSE 19.
     

    Königssee ¿¿¿
    5. 9. 15

    Lieber Herr Doktor

    Da der Postverkehr die Herstellung des Inter-
    valles übernimmt, ist es gerechtfertigt, Briefe 
    „umgehend“ zu beantworten, besonders wenn, 
    wie heute zum ersten Mal, das Wetter jeden 
    Weg unmöglich macht, der Regen in unaufhör-
    lichen Ansätzen an die Fenster schlägt, die Aus-
    sicht das Hochgebirge täuschend nachahmt usw.  
    Wir hatten hier in drei Wochen sechs schöne 
    Tage, aber um gerecht zu sein, diese waren 
    zauberhaft schön.  Wir waren hier doch sehr 
    schön zusam̄en, Mathilde hat sich sehr erholt, 
    wenngleich ihr lokales Leiden nicht beein-
    flußt ist, unsere Unterkunft war an Bequem-
    lichkeit und Ungenirtheit nicht zu übertreffen. 
    Nun streben wir bald auseinander. Die 
    Töchter gehen am 7t oder 9t nach Wien, meine 
    Frau einige Tage später; ich will Ende der 
    Woche mit meiner Schwägerin über 
    Weimar, das sie noch nicht kennt, nach 
    Hamburg.

    Gerüchte, daß die Welt des langen Haders müde 
    ist, sind auch zu uns gedrungen.  Man sagt 
    sich, daß es unschädlich ist, sie zu glauben, 
    u stellt sich gerne vor, auf welchen Über-
    gängen der normale Zustand sich wiederher-
    stellen wird.  Ob unsere Wissenschaft dabei

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    profitiren wird, ähnliche Geschäfte machen wird 
    wie die Armeelieferanten während des 
    Krieges, bleibt abzuwarten.  Es hat merk-
    würdiger Weise an Zeichen des Interesses 
    für sie auch aus den Schützengräben nicht 
    gefehlt. Der Widerstand gegen die Sym-
    bolik ist mir noch immer unverständ-
    licher als jeder andere; vielleicht hängt 
    er mit dem von Sperber behaupteten 
    sexuellen Ursprung der Sprache zusam̄en. 
    Ich glaube aber nicht, daß wir durch die 
    ¿¿¿fnumforung von Philosophen etwas 
    dagegen ausrichten könnten.  Wo die Menschen 
    in so unverkennbarer Weise verständnis-
    los bleiben wollen, kann man nur ab-
    warten, bis sie anders wollen, und wird 
    durch jede erneuterte Anforderung den 
    kindischen Widerspruch nur verlängern. 
    Die Entdeckung von R., von der Sie schreiben, 
    wiederholt längst Bekanntes, woraus ein 
    Aufschluß nie zu gewinnen war. Am 
    längsten dumm werden sie wol bei uns 
    bleiben.

    In Ihrem liebenswürdigen Brief haben wir 
    etwas vermißt u darum ausgezeichnete 
    Nachrichten über Ihre Tochter interpolirt. 
    Vielleicht können Sie an ihr dien Urbeginn 
    eines solchen Traumlebens, wie es bei 
    der Mutter blüht, beobachten.

    Mit herzlichen Grüßen für sie alle
    Ihr ergebener
    Freud