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PROF. DR. FREUD
WIEN, IX. BERGGASSE 19.19.6.10
Lieber Freund
Es thut mir schrecklich leid, daß Sie sich jetzt
so plagen u ärgern, u ich danke Ihnen sehr
für Ihre freundlichen Aufklärungen. Glauben
Sie ja nicht, daß ich je mit Ihnen die
„Geduld verliere“; ich weiß keine Anwend-
ung dieser Worte auf unsere Beziehungen
Lassen Sie uns in all den Schwierigkeiten
die sich gegen unsere Arbeit erheben, sicher
zusam̄enhalten u hören Sie mich, den Älteren,
manchmal auch gegen Ihre Neigungen an. Sehen
Sie, wenn Sie mir damals mit Honegger
gleich gefolgt hätten, wären manche Schwier-
igkeiten vermieden worden. Es war ja
vorauszusehen, daß Sie in Ihrer Position
u mit Ihrer Praxis eine Hilfskraft
brauchen würden. Sie hätten es großzügiger
anpacken un in Ausgaben minder bedenk-
lich sein können, besonders da Sie nach d
em reichen Ertrag der Amerikareise
nicht ängstlich zu sein brauchten.Es kränkt mich natürlich sehr, daß ich Sie
in den ersten abendlichen Funktionen
nicht sicher auftreten zehn. Sie wissen, wie
eifersüchtig alle – hier u anderwärts –
auf den Vorzug sind, den sie bei mir
genießen. (Es geht mit Ferenczi auch nicht
anders; ich meine, man gönnt es ihm
ebensowenig), und was man dann gegen -
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Sie sagt, empfinde ich mit Recht als gegen mich
gerichtet.In Betreff der Wiener Sache muß ich Sie
allerdings aufklären. Der Wiener Verein
ist längst konstituirt, aber nicht amtlich,
und wenn er seine Statuten der Behörde
einreichen soll, muß er die des Hauptvereins
dem er angehört, beilegen. Auch wartet e
man auf die Aufforderung zur Einzahlung
und auf das Erscheinen des Korres.Blattes,
dass die Nürnberger Beschlüße verkörpern
sollte. Ob der erste Brief von Adler von
Riklin beantwortet worden ist, ersehe
ich auch nicht aus Ihrem Schreiben. Sie sagen:
er hat ihn „ad acta genom̄en“. Adler ist
überempfindlich, u weil ich seine Theorien
konsequent ablehnt., Innerlich verbittert.
So gab es den Anschein eines Versuchs zur
Situation in Wien u eine Aufforderg zu einem
Schritt, der die Autorität des Obmannes
in Frage zog. Ich habe zum Glück alles ver-
meiden lassen. Wenn sie selbst mit dem
von Adler beabsichtigten Modus einver-
standen sind dann ist die ganze Differenz
wieder noch formal und bedeutungslos.Die Züricher Vorgänge scheinen mir dum̄.
Ich wundere mich, daß Sie nicht die Autorität
entwickeln konnten, diese Entscheidung,
die ganz unhaltbar ist, auszuschließen.
Es handelt sich um zwei Dinge: Beitrag
von 10 fr zahlen und seine seinen Namen -
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auf die Liste setzen. Was soll es für Sinn haben,
daß einige alles mit genießen, ohne diese
Pflichten zu erfüllen? Warum sollen es
dann die anderen thun? Binswangen verstehe
ich nicht. Ist er wirklich so eigensinnig oder
so bornirt? Wollen Sie, daß ich ihn schriftlich
zur Rede stelle, was er damit beabsichtigt?
Ich meine, ich kann doch riskiren. Dieser
Status in Zürich ist ja doch unhaltbar.Ich hätte an ihrer Stelle nie nachgegeben.
Wenn sie nur jetzt so bald als möglich das
Korresp.blatt aktiviren, so bleibt nichts
anderes übrig, als es mit den Nachrichten
über den Nürnberger Kongress, die Neu-
gründungen in Wien u die Program̄e der
Sitzungen zu füllen und die Mitgliederliste
einstweilen zurückzustellen, damit sich
nicht Jubel erhebe bei den Philistern über
den inneren Streit. Ist das Blatt einmal
da, so wird die Logik der Verpflichtung es
zu souteniren auch Ihren schwierig Schweizer Dick-
köpfen einleuchten. Halten Sie ihnen doch
vor, daß sie als Nichtmitglieder doch nicht
am nächsten Kongress theilnehmen u
auf die nächsten Entschließungen keinen
Einfluß nehmen können!!Ich wäre übrigens in diesem Falle neugierig
auf das Audiatur et altera pars. Ich kann
mir da gar nichts vorstellen. Sollten Sie den -
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Eindruck gemacht haben, daß Ihnen an den Personen
nichts liegt? Das wäre doch strenge zu ver-
meiden, denn es geht bei diesen Dingen wie
in der Kur alles nur durch die persönliche
Übertragung.Nun zu Erfreulicherem. Ihr Interesse am Leon.
hat mich sehr befriedigt u das Bekenntnis
Ihrer inneren Annäherung war mir
sehr wertvoll. Ihren Aufsatz habe ich am
Tage, da er ankam, mit Genuß gelesen,
denke seitdem darüber nach u werde Ihnen
bald mehr darüber schreiben. Heute kon̄te
ich die Lektüre nicht wiederholen, denn
Ferenczi u Brill haben den ganzen Tag
mit mir verbracht, der darum ein recht
froher war. Menschen sind doch das Wert-
vollste, das man gewinnen kann. Er-
staunen Sie nun nicht, wenn Sie einen
Teil der Ausführungen Ihrer Schrift in
einem Aufsatz von mir wieder finden,
der in den ersten Ferienwochen ins
Reine gebracht werden soll, u heißen
Sie mich nicht darum einen Plagiator, wozu
einige Versuchung vorläge. Er wird
den Titel tragen: Die beiden Prinzipien
der psychischen Aktion und die Erziehung.
Er ist für das Jahrbuch bestim̄t. Zwei Tage
vor Ankunft Ihrer „Symbolik“ habe ich
ihn konzipirt und niedergeschrieben;
natürlich faßt er längst Vorhandenes
in Formeln zusammen. -
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Ihren Geier habe ich erst heute agnostizirt,
gewiß unter dem Einfluß Ihres Briefes;
aber er ist doch nicht so „reinlich und
zweifelsohne“ wie die Pfistersche. Daß
ich Ihnen den Grafen Z. nicht fürs Jahrbuch
abtreten mag, wird Ihnen Pfister bereits
mitgetheilt haben. Seinen Sie mir nicht böse, er
paßt mir unter den „Schriften“ sehr gut
u wird da mehr Aufsehen machen. Es ist
wahrlich kein Grund ihn wie der Autor
wollte, vor der großen Öffentlichkeit
zu verstecken.Ich leide unter der Rekrudeszenz des in
Amerika erworbenen Darmkatarrhs
u stehe darum in Behandlg. Man sagt
mir, daß es nichts anderes als eine simple
Colitis ist und daß der Appendix ganz
außer Betracht bleibt. Doch wird es nicht
viel besser; ich muß eine Diät halten, die
mit dem Reisen nicht verträglich ist
u meine Septemberpläne zu stören
droht. Ich zähle noch 25 Tage bis zu den
wohlverdienten Ferien u habe in dieser
Zeit noch viel zu machen, bin aber
heiter u arbeitskräftig.Mit den herzlichsten Grüßen
auch an ihr Haus, aus dem ich lange
nichts gehört habe,Ihr getreuer
FreudEditorische Anmerkung:
Grafen Z.: Grafen Zinzendorf