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    Wien, IX., Berggasse 19

    9.6. IO

    Lieber Freund

    Ich habe das neue Briefpapier bemerkt u 
    gratulire Ihnen hiezu. Sie sind in den letzten 
    Tagen mit mehreren stum̄en Zusendungen 
    von mir bedacht worden; doch hätte ich Ihren 
    Brief vom 2. Juni, auf den ich heute reagire, 
    gerne früher beantwortet, wenn es nur 
    gegangen wäre. Ich interessire mich lebhaft 
    für den jungen Honegger u äußere mich 
    gerne darüber, da Sie mich doch zu einer 
    „großväter­lichen“ Meinungsabgabe auffordern.

    Nun, Großväter sind selten hart u 
    ich war es vielleicht nicht einmal als Vater. 
    Ich finde Sie zu scharf mit Ihrer Forderung, 
    daß seine Ar­beitsbedingungen ähnlich unab-
    hängig von der Menschenlibido sein sol­len 
    wie die Ihrigen: Er gehört der Übereinkunft 
    nach einer späteren Generation an, hat 
    noch wenig von der Liebe gehabt u ist 
    überhaupt weicher. Es wäre gar nicht zu 
    wünschen, daß er Ihre Kopie wäre. Sie können 
    ihn weit besser verwenden, so wie er ist.

    Er besitzt eine feine Rezeptivität, psycholog-
    ischen Spürsinn und gute Einfühlung in die 
    „Grundsprache“. Seine Ergebenheit für Sie 
    scheint außerordentlich zu sein, und sein

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    persönlicher Wert wird durch die gegenwärtige 
    Situation, in welcher Sie die Gegnerschaft im 
    Z. Lager zu bestehen haben, noch gesteigert. 
    Warum wollen Sie also ihn nicht so ver-
    wenden, wie er ist, u ihn nicht lieber 
    auf Grund seiner eigenen Beschaffenheit 
    erzie­hen, als ihn nach ihm fremdem Ideal modeln?

    Die Veranstaltungen unserer Herren Gegner, 
    die schwer an der Be­handlung leiden, verdienen 
    unsere Entrüstung nicht. Schweigen u weiter 
    arbeiten, mehr braucht es nicht.

    Was Schottländer von seinen Erlebnißen bei 
    mir erzält, muß sehr in­teressant sein. Ich ver-
    pflichte mich, alles ungehört zu dementiren. 
    Er hat mir übrigens Mittheilungen über den 
    Aufenthalt eines meiner Pa­t. bei ihm gemacht 
    die ich nach dem Examen des sehr anständigen 
    jungen Mannes und seiner Mutter als die 
    vermuteten plumpen Lügen agnoziren konnte. 
    Ich wollte ihm diesen Nachtrag zu seiner Selbst­-
    analyse brieflich vorhalten, aber seine ehemaligen 
    Schulkollegen im Wiener Kreis haben auf 
    Unterlassung gedrungen.
    „Schöne Donna, laßt ihn laufen; 
    Er ist Eures Zorns nicht wert“

    Auf Ihre Mythologie gespannt, grüße ich 
    Sie herzlichst
    Ihr Freud

    Das Jahrbuch verspätet sich gräulich.