Was wird mit Europa? 1922-062/1924
1922-062/1924 Was wird mit Europa?
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Was wird mit Europa?

Die in Wien erscheinende literarische und 
kulturpolitische Wochenschrift in ungarischer 
Sprache „Tüz“ (Feuer) veranstaltete vor Mona-
ten eine Enquête über die gegenwärtige Krisis 
und die zu erwartende Zukunft der europäischen 
Kultur und wandte sich hierbei an bekannte Per-
sönlichkeiten in ganz Europa. Nachstehende Ueber-
setzungen und Auszüge eines Teiles der Ant-
worten auf folgende Fragen:

1. Glauben Sie an den weiteren Bestand und 
an eine hoffnungsverheißende Entwicklung der 
gegenwärtigen europäischen Kultur? 2. Falls 
Sie diese Frage verneinen: wie stellen Sie sich 
den aus dem Chaos hinausführenden Zukunfts-
weg der Menschheit vor? 3. Worin erblicken Sie 
die Aufgabe der führenden Geister in dieser ge-
schichtlichen Krisis?

Iwan Goll (Paris) schreibt u. a.: Die gegen-
wärtige Kultur ist schon nicht mehr europäisch, 
sondern mondial: was man nämlich noch Kultur 
nennen kann – Lifts, Five o’clocks, W. C., die 
gesammelten Werke von Goethe, ein Abonne-
ment auf die „Woche“ … Nennen Sie etwas 
anderes Kultur? Dann wäre es immerhin nur 
der Streit um ein Wort. Vor allen Dingen aber 
interessiert mich die Kultur des anderen gar 
nicht. Aus Ihrer Frage ist ersichtlich, daß Sie die 
Welt vor 1914 als auf dem Gipfel einer Kultur 
stehend betrachten. Ich finde, daß das bürgerliche 
fortschrittliche 19. Jahrhundert äußerst langwei-
lig und kulturlos war – kein einziger Stil 
bleibt von ihm übrig! – und ich habe mit unse-
ren Großeltern der „guten alten Zeit“ nur Mit-
leid. Wichtig ist die Lebensfähigkeit einer Rasse. 
Europa ist müde, d. h. seine Kulturführer. Aber 
die nebeneuropäischen Rassen, die Slawen und 
Baltenvölker sind lebensmächtiger denn je, und 
ich erwarte von diesen, Rußland voran, den An-
prall zu einem neuen Glauben und Schaffen.

Professor A. Aulard (Paris) schreibt u. a.: 
Ich bin weder ein Prophet der Freude, noch der 
Gefahr. Ich bin Historiker. Das Studium der 
Vergangenheit flößt mir die Ueberzeugung ein, 
daß Europa sich nur dann aus dem Chaos be-
freien wird, wenn die europäischen Völker sich 
mit einander eng verbünden und in der Liga der 
Nationen eine europäische Organisation mit vol-
lendeter Grundlage zustande bringen. Die Ver-
breiterung dieser Grundlage durch den vor kur-
zem erfolgten Eintritt Ungarns in den Völker-
bund erlaubt mir eine nahe noch bedeutendere 
Verbreiterung zu erhoffen.

Gilbert Keith Chesterton (Beaconsfield, Eng-
land) schreibt: Als Antwort auf Ihre den Zu-
sammenbruch der abendländischen Zivilisation 
betreffenden Fragen teile ich Ihnen mit, daß 
meine Ansichten über diesen Gegenstand in einer 
Bemerkung Mr. Belloc’s enthalten sind: „Euro-
pa wird zum Glauben zurückkehren, oder seine 
Zivilisation wird zu Grunde gehen. (Anm. der 
Schriftleitung des „Tüz“: J. Hilaire Belloc ist 
ein enger Freund Chestertons und Führer einer 
christlich-individualistischen Bewegung in Eng-
land. Unter „Glauben“ versteht Chesterton die 
römisch‑katholische Religion, zu welcher er vor 
kurzem übergetreten ist.

Professor Nicolas Jorga (Valeni‑le‑Monte, 
Rumänien) hebt hervor: Die Kräfte Europas 
können sich nur dann vereinen, wenn die 
Schriftsteller und Denker aufhören, ihre Fähig-
keiten in den Dienst der Revanchewut der Un-
terdrückung von Nationen und der Kriegstech-
nik zu stellen. Die technische Vervollkommnung 
unseres Zeitalters ist seelisch wertlos. Die Schrift-
steller, welche das Gute wollen, mögen bei jeder 
Zeile, die sie niederschreiben, genau prüfen, ob 
sie die Verantwortung dafür vor dem Gewissen 
einer geläuterten und wiedergeborenen Welt 
übernehmen können.

Professor Dr. Sigmund Freud (Wien) schreibt: 
Leider weiß ich auf keine Ihrer Schicksalsfragen 
Antwort zu geben. Meine Zukunftserwartungen 
schwanken mit meiner Stimmung. Zu einem für 
andere interessanten Urteil fehlt mir alles Ma-
terial. Ich wäre selbst sehr froh, wenn mich je-
mand über diese Probleme belehren würde.