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Was wird mit Europa?
Die in Wien erscheinende literarische und kulturpolitische
Wochenschrift in ungarischer Sprache „Tüz“ (Feuer) veranstaltete
eine Enquête über die gegenwärtige Krisis und die zu erwartende
Zukunft der europäischen Kultur und wandte sich hierbei an be-
kannte Persönlichkeiten in ganz Europa. Die Schriftleitung des
„Tüz“ stellte uns Abschriften, Uebersetzungen u. Auszüge eines
Teils der Antworten auf folgende Fragen zur Verfügung:1. Glauben Sie an den weiteren Bestand und an eine hoff-
nungsverheißende Entwicklung der gegenwärtigen europäischen
Kultur? 2. Falls Sie diese Frage verneinen: wie stellen Sie sich
den aus dem Chaos hinausführenden Zukunftsweg der Mensch-
heit vor? 3. Worin erblicken Sie die Aufgabe der führenden
Geister in dieser geschichtlichen Krisis?Iwan Goll (Paris) schreibt u. a.: Die gegenwärtige Kul-
tur ist schon nicht mehr europäisch, sondern mondial: was man
nämlich noch Kultur nennen kann – Lifts, Five o’clocks, W. C.,
die gesammelten Werke von Goethe, ein Abonnement auf die
„Woche“ … Nennen Sie etwas anderes Kultur? Dann wäre es
immerhin nur der Streit um ein Wort. Vor allen Dingen aber
interessiert mich die Kultur des anderen gar nicht. Aus Ihrer
Frage ist ersichtlich, daß Sie die Welt vor 1914 als auf dem
Gipfel einer Kultur stehend betrachten. Ich finde, daß das bürger-
liche fortschrittliche 19. Jahrhundert äußerst langweilig und kultur-
los war – kein einziger Stil bleibt von ihm übrig! – und ich
habe mit unseren Großeltern der „guten alten Zeit“ nur Mitleid.
Wichtig ist die Lebensfähigkeit einer Rasse. Europa ist müde,
d. h. seine Kulturführer. Aber die nebeneuropäischen Rassen,
die Slawen und Baltenvölker sind lebensmächtiger denn je, und ich
erwarte von diesen, Rußland voran, den Anprall zu einem
neuen Glauben und Schaffen.Prof. A. Aulard (Paris) schreibt u. a.: Ich bin weder
ein Prophet der Freude, noch der Gefahr. Ich bin Historiker.
Das Studium der Vergangenheit flößt mir die Ueberzeugung ein,
daß Europa sich nur dann aus dem Chaos befreien wird, wenn
die europäischen Völker sich mit einander eng verbünden und in
der Liga der Nationen eine europäische Organisation mit
vollendeter Grundlage zustande bringen. Die Verbreiterung die-
ser Grundlage durch den vor kurzem erfolgten Eintritt Ungarns
in den Völkerbund erlaubt mir eine nahe noch bedeutendere Ver-
breiterung zu erhoffen.Gilbert Keith Chesterton (Beaconsfield, England)
schreibt: Als Antwort auf Ihre den Zusammenbruch der abend-
ländischen Zivilisation betreffenden Fragen teile ich Ihnen mit,
daß meine Ansichten über diesen Gegenstand in einer Bemerkung
Mr. Belloc’s enthalten sind: „Europa wird zum Glauben zu-
rückkehren, oder seine Zivilisation wird zu Grunde gehen. (Anm.
der Schriftleitung des Tüz.: J Hilaire Belloc ist ein enger
Freund Chestertons und Führer einer christlich-individualistischen
Bewegung in England. Unter „Glauben“ versteht Chesterton die
römisch‑katholische Religion, zu welcher er vor kurzem übergetreten
ist.Prof. Nicolas Jorga (Valeni‑le‑Monte, Rumänien) hebt
hervor: Die Kräfte Europas können sich nur dann vereinen, wenn
die Schriftsteller und Denker aufhören, ihre Fähigkeiten in den
Dienst der Revanchewut, der Unterdrückung von Nationen und
der Kriegstechnik zu stellen. Die technische Vervollkommnung
unseres Zeitalters ist seelisch wertlos. Die Schriftsteller, welche
das Gute wollen, mögen bei jeder Zeile, die sie niederschreiben,
genau prüfen, ob sie die Verantwortung dafür vor dem Gewissen
einer geläuterten und wiedergeborenen Welt übernehmen können.
Prof. Dr. Sigmund Freud (Wien) schreibt: Leider weiß
ich auf keine Ihrer Schicksalsfragen Antwort zu geben. Meine
Zukunftserwartungen schwanken mit meiner Stimmung. Zu einem
für andere interessanten Urteil fehlt mir alles Material. Ich wäre
selbst sehr froh, wenn mich jemand über diese Probleme belehren
würde.
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