Vergänglichkeit 1916-001/1928
1916-001/1928 Vergänglichkeit
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    VERGÄNGLICHKEIT

    Diese Skizze wurde im November 1915 
    geschrieben auf Aufforderung des Berliner
    Goethebundes für das von ihm – mit Be-
    stimmung des Reinertrages für die Errichtung 
    von Volksbüchereien in Ostpreußen – heraus-
    gegebene Gedenkbuch „Das Land Goethes“,
    das 1916 bei der Deutschen Verlagsanstalt 
    in Stuttgart erschien.

    Vor einiger Zeit machte ich in Gesellschaft eines schweigsamen Freundes
    und eines jungen, bereits rühmlich bekannten Dichters einen Spaziergang
    durch eine blühende Sommerlandschaft. Der Dichter bewunderte die Schön-
    heit der Natur um uns, aber ohne sich ihrer zu erfreuen. Ihn störte der
    Gedanke, daß all diese Schönheit dem Vergehen geweiht war, daß sie im
    Winter dahingeschwunden sein werde, aber ebenso jede menschliche Schön-
    heit und alles Schöne und Edle, was Menschen geschaffen haben und schaffen
    könnten. Alles, was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm ent-
    wertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es bestimmt war.

    Wir wissen, daß von solcher Versenkung in die Hinfälligkeit alles
    Schönen und Vollkommenen zwei verschiedene seelische Regungen aus-
    gehen können. Die eine führt zu dem schmerzlichen Weltüberdruß des
    jungen Dichters, die andere zur Auflehnung gegen die behauptete Tat-
    sächlichkeit. Nein, es ist unmöglich, daß all diese Herrlichkeiten der Natur
    und der Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt draußen, wirklich
    in Nichts zergehen sollten. Es wäre zu unsinnig und zu frevelhaft, daran
    zu glauben. Sie müssen in irgendeiner Weise fortbestehen können, allen
    zerstörenden Einflüssen entrückt.

    Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg unseres Wunsch-
    lebens, als daß sie auf einen Realitätswert Anspruch erheben könnte. Auch

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    das Schmerzliche kann wahr sein. Ich konnte mich weder entschließen,
    die allgemeine Vergänglichkeit zu bestreiten, noch für das Schöne und
    Vollkommene eine Ausnahme zu erzwingen. Aber ich bestritt dem pessi-
    mistischen Dichter, daß die Vergänglichkeit des Schönen eine Entwertung
    desselben mit sich bringe.

    Im Gegenteil, eine Wertsteigerung! Der Vergänglichkeitswert ist ein
    Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung in der Möglichkeit des Ge-
    nusses erhöht dessen Kostbarkeit. Ich erklärte es für unverständlich, wie
    der Gedanke an die Vergänglichkeit des Schönen uns die Freude an dem-
    selben trüben sollte. Was die Schönheit der Natur betrifft, so kommt sie
    nach jeder Zerstörung durch den Winter im nächsten Jahre wieder, und
    diese Wiederkehr darf im Verhältnis zu unserer Lebensdauer als eine ewige
    bezeichnet werden. Die Schönheit des menschlichen Körpers und Angesichts
    sehen wir innerhalb unseres eigenen Lebens für immer schwinden, aber
    diese Kurzlebigkeit fügt zu ihren Reizen einen neuen hinzu. Wenn es eine
    Blume gibt, welche nur eine einzige Nacht blüht, so erscheint uns ihre
    Blüte darum nicht minder prächtig. Wie die Schönheit und Vollkommen-
    heit des Kunstwerks und der intellektuellen Leistung durch deren zeitliche
    Beschränkung entwertet werden sollte, vermochte ich ebensowenig einzu-
    sehen. Mag eine Zeit kommen, wenn die Bilder und Statuen, die wir heute
    bewundern, zerfallen sind, oder ein Menschengeschlecht nach uns, welches
    die Werke unserer Dichter und Denker nicht mehr versteht, oder selbst
    eine geologische Epoche, in der alles Lebende auf der Erde verstummt ist,
    der Wert all dieses Schönen und Vollkommenen wird nur durch seine Be-
    deutung für unser Empfindungsleben bestimmt, braucht dieses selbst nicht
    zu überdauern und ist darum von der absoluten Zeitdauer unabhängig.

    Ich hielt diese Erwägungen für unanfechtbar, bemerkte aber, daß ich
    dem Dichter und dem Freunde keinen Eindruck gemacht hatte. Ich schloß
    aus diesem Mißerfolg auf die Einmengung eines starken affektiven Moments,
    welches ihr Urteil trübte, und glaubte dies auch später gefunden zu haben.
    Es muß die seelische Auflehnung gegen die Trauer gewesen sein, welche
    ihnen den Genuß des Schönen entwertete. Die Vorstellung, daß dieses
    Schöne vergänglich sei, gab den beiden Empfindsamen einen Vorgeschmack
    der Trauer um seinen Untergang, und da die Seele von allem Schmerz-
    lichen instinktiv zurückweicht, fühlten sie ihren Genuß am Schönen durch
    den Gedanken an dessen Vergänglichkeit beeinträchtigt.

    Die Trauer über den Verlust von etwas, das wir geliebt oder bewundert
    haben, erscheint dem Laien so natürlich, daß er sie für selbstverständlich

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    erklärt. Dem Psychologen aber ist die Trauer ein großes Rätsel, eines jener
    Phänomene, die man selbst nicht klärt, auf die man aber anderes Dunkle
    zurückführt. Wir stellen uns vor, daß wir ein gewisses Maß von Liebes-
    fähigkeit, genannt Libido, besitzen, welches sich in den Anfängen der Ent-
    wicklung dem eigenen Ich zugewendet hatte. Später, aber eigentlich von
    sehr frühe an, wendet es sich vom Ich ab und den Objekten zu, die wir
    solcher Art gewissermaßen in unser Ich hineinnehmen. Werden die Objekte
    zerstört oder gehen sie uns verloren, so wird unsere Liebesfähigkeit (Libido)
    wieder frei. Sie kann sich andere Objekte zum Ersatz nehmen oder zeit-
    weise zum Ich zurückkehren. Warum aber diese Ablösung der Libido von
    ihren Objekten ein so schmerzhafter Vorgang sein sollte, das verstehen wir
    nicht und können es derzeit aus keiner Annahme ableiten. Wir sehen nur, 
    daß sich die Libido an ihre Objekte klammert und die verlorenen auch
    dann nicht aufgeben will, wenn der Ersatz bereit liegt. Das also ist die
    Trauer.

    Die Unterhaltung mit dem Dichter fand im Sommer vor dem Kriege
    statt. Ein Jahr später brach der Krieg herein und raubte der Welt ihre
    Schönheiten. Er zerstörte nicht nur die Schönheit der Landschaften, die er
    durchzog, und die Kunstwerke, an die er auf seinem Wege streifte, er
    brach auch unseren Stolz auf die Errungenschaften unserer Kultur, unseren
    Respekt vor so vielen Denkern und Künstlern, unsere Hoffnungen auf eine
    endliche Überwindung der Verschiedenheiten unter Völkern und Rassen.
    Er beschmutzte die erhabene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte
    unser Triebleben in seiner Nacktheit bloß, entfesselte die bösen Geister in
    uns, die wir durch die Jahrhunderte währende Erziehung von seiten
    unserer Edelsten dauernd gebändigt glaubten. Er machte unser Vaterland
    wieder klein und die andere Erde wieder fern und weit. Er raubte uns
    so vieles, was wir geliebt hatten, und zeigte uns die Hinfälligkeit von
    manchem, was wir für beständig gehalten hatten.

    Es ist nicht zu verwundern, daß unsere an Objekten so verarmte Libido
    mit um so größerer Intensität besetzt hat, was uns verblieben ist, daß die
    Liebe zum Vaterland, die Zärtlichkeit für unsere Nächsten und der Stolz
    auf unsere Gemeinsamkeiten jäh verstärkt worden sind. Aber jene anderen,
    jetzt verlorenen Güter, sind sie uns wirklich entwertet worden, weil sie
    sich als so hinfällig und widerstandsunfähig erwiesen haben? Vielen unter
    uns scheint es so, aber ich meine wiederum, mit Unrecht. Ich glaube, die
    so denken und zu einem dauernden Verzicht bereit scheinen, weil das Kost-
    bare sich nicht als haltbar bewährt hat, befinden sich nur in der Trauer

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    über den Verlust. Wir wissen, die Trauer, so schmerzhaft sie sein mag,
    läuft spontan ab. Wenn sie auf alles Verlorene verzichtet hat, hat sie sich
    auch selbst aufgezehrt, und dann wird unsere Libido wiederum frei, um
    sich, insofern wir noch jung und lebenskräftig sind, die verlorenen Objekte
    durch möglichst gleich kostbare oder kostbarere neue zu ersetzen. Es steht
    zu hoffen, daß es mit den Verlusten dieses Krieges nicht anders gehen wird.
    Wenn erst die Trauer überwunden ist, wird es sich zeigen, daß unsere
    Hochschätzung der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Gebrechlich-
    keit nicht gelitten hat. Wir werden alles wieder aufbauen, was der Krieg
    zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund und dauerhafter als vorher.