Stellungnahme zur Eherechtsenquete 1905-061/1905
1905-061/1905 Stellungnahme zur Eherechtsenquete
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    4. Sitzung am 8. Februar 1905.

    Vorsitzender: Hofrat Dr. v. Pelsar-Fürnherg.

    Redner: Dr. Viktor Kienböck.
    Frau Grete Meisel-Heß.
    Fräulein Kamilla Theimar.
    Fritz Riederer.
    Dr. S. Zins.

    (Beginn der Sitzung um 7 Uhr 35 Minuten abends.)
    Vorsitzender: Ich erkläre die 4. Sitzung unserer Enquete für eröffnet.

    Obmann Dr. Scheu: Bevor wir in die heutige Tagesordnung eingehen,
    werden wir uns erlauben, ein Gutachten des Herrn Professors Freud vorlesen
    zu lassen. Herr Professor Freud hat sich und zwar mit Beziehung auf die
    einzelnen Fragepunkte schriftlich geäußert.

    Bezüglich meiner Anregung in der letzten Versammlung habe ich folgenden
    Versuch gemacht, Ich habe mir einen Meldzettel angeschafft und habe mich
    überzeugt, daß hier unter der vierten Rubrik es folgendermaßen heißt: „Alter,
    Religion, ledig oder verheiratet oder verwitwet?“ Daraus ersehe ich, daß der
    Meldzettel den Begriff des Geschiedenseins und Getrenntseins nicht kennt, und
    daß man folglich auch, nachdem danach nicht gefragt wird, nicht Auskunft
    zu geben braucht, ob man geschieden oder getrennt ist. Nun weiß ich aller-
    dings, daß von der Polizei danach gefragt wird, denn unter der Rubrik: „Name
    und Alter der Gattin und Kinder” soll auch der Wohnort der Gattin oder des
    Gatten angegeben werden, und ich erinnere mich an einen Prozeß, wo jemand
    mit einer ziemlich empfindlichen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, weil er
    sich bald als geschieden, bald als getrennt und bald als verheiratet ausgegeben
    hat. (Heiterkeit.) Darin liegt entschieden ein Widerspruch, weil das Gesetz die
    Geschiedenen als verheiratet betrachtet und diese also das Recht haben, sich
    selbst verheiratet zu nennen. Nun werden wir vielleicht in der heutigen Debatte
    Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen, indem diesbezüglich ein Antrag
    vorliegt. Ich teile heute schon mit, daß die Polizeibehörde, respektive ein Be-
    amter der Polizei, der Mitglied unserer Gesellschaft ist, vielleicht die Güte
    haben wird, sich darüber zu äußern, ob diesbezüglich eine Änderung durch-
    zudringen Aussicht hätte.

    Ich bitte nunmehr unseren Herrn Schriftführer das Gutachten des Herrn
    Professors Freud, aber immer mit bezug auch auf die Punkte des Fragebogens
    zu verlesen.

     

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    Schriftführer Fred Fakler: Herr Professor Freud leitet ein (liest):

    „Ich antworte nur auf solche Fragen, die in näherer Beziehung zu meiner
    Tätigkeit und meiner Erfahrung als Arzt stehen.

    Ad 2: Ich kann mir sehr Wohl vorstellen, daß wenigstens sukzessive
    Polygamie mit unseren Kulturanforderungen verträglich gemacht wird. Es wäre
    dies ja zum teil nur Sanktion bereits bestehender Verhältnisse.

    Ad 7: Vielleicht der einzig praktikable Weg, die Sittlichkeit zu fördern,
    wäre die Legalisierung andrer als der ehelichen Beziehungen zwischen den
    Geschlechtern, also die Einschränkung des zu verbietenden, die Gewährung
    eines größeren Maßes von Sexualfreiheit.

    Ad 8: Die Gleichberechtigung beider Geschlechter schließt sich geradezu
    aus durch ihre verschiedenartige Rolle in der Fortpflanzungsfunktion.

    Ad 9: Unsere heutige Kenntnis der Gesetze der Erblichkeit scheint mir
    nicht weit genug zu reichen, um in zahlreichen Fällen – oder Kategorien
    von Fällen – ein Eheverbot auf Grund der befürchteten Schädigung der Des-
    zendenz auszusprechen. Neben der allgemein anerkannten Degeneration infolge
    von Erblichkeit müssen auch Regenerationsvorgänge in den nachkommenden
    Geschlechtern zugegeben werden; wäre es anders, so müßten wir alle heute
    Lebenden längst an der fortschreitenden hereditären Degeneration zugrunde
    gegangen sem.

    Auch geht es nicht an, die Rechte der Lebenden allzu empfindlich zu-
    gunsten der Ungeborenen zu verkürzen.

    Ad 25: Die Unauflöslichkeit der Ehe widerspricht bedeutenden ethischen
    und hygienischen Grundsätzen und psychologischen Erfahrungen. Sie stellt sich
    insbesondere als ein Unrecht gegen das Weib dar, das durch die natürlichen
    Bedingungen genötigt wird, die Ehe in sehr jugendlichem Alter, also in voller
    geistiger Unreife zu schließen, und das auch noch durch die sozialen
    Anforderungen gezwungen ist, ohne Kenntnis des Liebeslebens in die Ehe
    zu treten.

    Ad 37: Über die Wirkungen fortgesetzter sexueller Enthaltung haben
    sich die Vertreter der medizinischen Wissenschaft sehr verschieden geäußert,
    zum guten Teil aber darum, weil sie mit mehr oder minder klarer Absicht
    Äußerungen zu vermeiden strebten, die der herrschenden Sexualordnung un-
    bequem sein mußten. Viele Ärzte belieben noch heute den mächtigen Geschlechts-
    trieb in einem Maße zu unterschätzen, daß es jedem Kenner der realen Ver-
    hältnisse als komisch erscheinen muß, und dies, weil sie meinen, daß es die
    Würde der Wissenschaft von ihnen fordert.

    Ich vertrete die Meinung, daß es nur einer geringen Minderzahl von
    besonders glücklich konstituierten Menschen möglich ist, sexuelle Abstinenz
    ohne Schädigung durchzuführen, sei es, daß sie kältere Naturen sind, sei es,
    daß ihnen ganz außerordentliche Ablenkungen zu Hilfe kommen. Für die
    große Mehrheit aber ist die sexuelle Abstinenz über eine längere Lebensstrecke
    nahezu unmöglich; den bestehenden Erschwerungen pflegen sich nur Schwäch-
    linge zu fügen, kraftvollere Naturen aber regelmäßig zu entziehen. Es ist zu-
    zugeben, daß die sexuelle Abstinenz für sich allein nicht sehr häufig als
    Krankheitsursache angetroffen wird; aber dies rührt hauptsächlich daher, daß
    sie normal angelegte Menschen zu durchbrechen pflegen, so daß deren
    Wirkungen eigentlich nur an den pathologisch veranlagten studiert werden
    können, die sich häufig auch durch einen unzweckmäßigen Ersatz für den
    Sexualverkehr schädigen. Die körperliche Schädigung bei konsequenter Sexual-
    enthaltung laßt sich als Disposition zu verschiedenen Formen von Nervosität
    beschreiben; bedeutsamer erscheinen mir aber die in der Regel wenig beob-
    achteten psychischen Folgen unfreiwilliger Enthaltsamkeit. Das Individuum
    verbraucht seine seelischen Kräfte in dem nie rastenden Kampfe gegen die

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    Versuchung, und verarmt dadurch an den Eigenschaften, die es zur Be-
    wältigung seiner sozialen Aufgaben bedarf: an Selbstvertrauen, Energie und
    Wagemut.

    Das hier Gesagte bezieht sich vor allem auf Männer und auf die For-
    derung der Enthaltung durch lange Zeitraume. Zeitweilige Enthaltsamkeit ist
    dagegen leicht zu erreichen, und zwar um so leichter, je normaler der Mann in
    seinem Geschlechtsleben ist, besonders wenn ausgiebige geistige Beschäftigung
    vorliegt.

    Für die Frauen scheint mir festzustehn, daß ihnen die Einhaltung der
    Abstinenz häufiger als den Männern gelingt, vielen von ihnen aber noch
    größere psychische Opfer kostet. Ein Teil der kultivierten Frauen scheint
    übrigens bereits gegenwärtig auf Frigidität gezüchtet zu sein.

    Ein Aufschub des Sexualverkehrs in der Jugend ist unter normalen Ver-
    hältnissen ohne Schädigung möglich.

    Ad 38: Es geht aus dem vorstehenden hervor, daß ein genereller An-
    spruch auf Enthaltsamkeit nicht erhoben werden kann, und daß aus der Tat-
    sache der Ehe für keinen Teil Sexualverpflichtungen abzuleiten sind, sobald
    die Ehe die Aufgabe der Befriedigung des normalen Sexualtriebes nicht mehr
    erfüllt.

    Ad 45: Anhaltender Irrsinn verdient, da er das Erlöschen der Persön-
    lichkeit bedeutet, einen Platz unter den Gründen der Ehetrennung.

    Ad 54: Es ist nur recht und billig, die Frauen zur Beschäftigung mit
    den Problemen, die ihre wesentliche Rolle im Leben betreffen, heranzuziehen
    und ihnen bei allen solchen Entscheidungen eine Stimme einzuräumen.

    Professor Dr. Sigmund Freud.“

    […]

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    MITTEILUNGEN DER KULTURPOLITISCHEN GESELLSCHAFT.

    PROTOKOLLE 
    der
    ENQUETE
    BETREFFEND DIE
    REFORM DES ÖSTERREICHISCHEN
    EHERECHTS

    (VOM 27. JÄNNER BIS 24. FEBRUAR 1905)

    UNTER DEM VORSITZ DES
    HOFRAT DR. KARL VON PELSER-FÜRNBERG.

    WIEN, 1905.
    IM VERLAGE DER KULTURPOLITISCHEN GESELLSCHAFT.