Sigmund Freud an Sándor Ferenczi, Brief vom 7.2.1915 1918-002/1915.02//F-FeSa/1915-02-07
1918-002/1915.02//F-FeSa/1915-02-07 Sigmund Freud an Sándor Ferenczi, Brief vom 7.2.1915
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  • S.

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    Wien, 7.2.15.

    Lieber Freund

    Der Mechanismus der Melancholie, den ich Ihnen hier 
    vorstelle, gehört zum Anfang einer Erkenntnis der 
    narzißtischen Neurosen, die wir jetzt anzustreben haben.

    1) Die Melancholie hat ein Normalvorbild in der Trauer, die 
    wir (bis auf die μψ Hauptsache) gut verstehen. Das Ich muß 
    der Realitätsprüfg zugeben, daß es sein Libido-
    objekt verloren und seine Libido von ihm abziehen muß. 
    Es kom̄t jetzt ein Prozeß zu Stande, in dem jede ein-
    zelne der Erinn̄erungen und Erwartungsphantasien mit 
    diesem Objekt hergenon̄en u ausdrücklich ver-
    neint (aufgelöst) wird, während dessen das verlorene 
    Objekt aber noch ψ Bestand hat u alle anderen 
    Objekte in Hintergrund drängt. Wer diese Trauer-
    arbeit nicht zu Stande gi¿ bringt, muß sich in die 
    halluz. Wunschpsychose begeben, in der das Objekt 
    krampfhaft festgehalten wird, dh alles so vorgeht 
    wie in der Trauer nur mit Auslassung der 
    Verneinung am Ende.

    Charakter der Trauer ist die Aufzehrung alles 
    Interesses und aller Libido: Denselben Zug zeigt 
    die Mel als Hemmung. Es liegt nahe anzunehmen, 
    daß auch die Mel etwas verloren hat, aber viel-
    leicht nicht weiß was.

    (Das Unverständliche an der Trauer ist im metapsych. 
    Sinne, warum die Libidoablösung so wehe thut).

    2). Das Bild der Mel ist ein einförmiges und sehr leicht 
    zu deutendes. Die Mel zeigt eine großartige Ich-
    verarmung u eine schmerzlich gesteigerte Wahr-
    nehmung derselben. Ihre Selbstkritik ist über-
    stark bewußt und schildert uns ein Bild, das 
    wir für richtig annehmen müßen. Das Ich ist 
    entwertet, bleibt sehr weit hinter dem Ideal 
    zurück, kann nichts leisten, muß sich die schwersten 
    Vorwürfe gefallen laßen, verdient nicht 
    gepflegt, besorgt zu werden. Das muß also wirk-
    lich der Zustand sein, in dem es sich befindet 
    Bemerkenswert die Schärfe und Intakheit der 
    Selbstbeobachtung (des Gewißens, der Ichzensur, 
    des eigentlichen Ichs). Wie ist das Ich der Melanch 
    aber in diesen Zustand gekom̄en? Was hat 
    es angestellt, um solche Verurteilung zu ver-
    dienen?

    Editorische Anmerkung CD:
    μψ. metapsychologische

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    3). Auf die unbekannte Spur wird man durch eine leicht 
    anzustellende Beobachtung gebracht. Man bekom̄t 
    sehr oft den Eindruck, daß die Selbstvorwürfe 
    der Mel nichts anderes sind, als Vorwürfe gegen 
    einen anderen, die von ihm weg aufs eigene 
    Ich gerichtet sind. Dann liegt also eine Identifizirg 
    vor des Ichs mit dem Libidoobjekt. Das Ich trauert, 
    weil es sein Objekt durch Entwertung verloren 
    hat, aber es projizirt dies Objekt auf sich selbst 
    u findet dann sich selbst entwertet. Der 
    Schatten des Objekts fällt auf das Ich u verdunkelt 
    es. Der Prozeß der Trauer vollzieht sich nicht 
    an den Objektbesetzungen, sondern an den 
    Ichbesetzungen

    4). Wir haben ähnliche Fälle von Beeinflußung der Ichbe-
    setzung durch die Objektbesetzg bereits kennen 
    gelernt. So im Liebesleben den, daß der Neurotiker 
    seinen Ichmängeln durch die Vorzüge des Sexualob-
    jekts aufhilft. Wir kennen auch eine hysterische 
    Identifizirung u müßen fragen, wodurch sich die von 
    der bei Mel vorliegenden unterscheidet. Bei der 
    hy. Identifizirg wird auch das Ich nach dem Objekt ge-
    modelt aber die Objektbesetzung wird nicht auf-
    gelassen, besteht im Ubw überstark und macht sich 
    das Ich (mitsamt der Ichzensur) unterthan. Bei der 
    narzißt. Identifizirg der Mel wird die Objektbesetzg 
    aufgehoben, das Ich übernim̄t ihre Gestaltung und 
    die Ichzensur bleibt intakt. Anstatt des Konflikts 
    zwischen Ich und Objekt giebt es jetzt einen zwischen 
    Ich‑Objekt und Ichzensur. In beiden Fällen ist aber 
    die Identifizirg Ausdruck der Verliebtheit.

    5). Die besonderen Bedinggen des Mechanismus sind 
    noch nicht untersucht. Daß es so häufig anaesthetische 
    Individuen sind, die der Mel verfallen, ist 
    gewiß bedeutsam. Überwiegen der narzißt. 
    Objektwal, Unfähigkeit zur Objektbesetzg 
    scheint Bedingung. Auch die Manie ist nicht aus 
    diesem Mechanismus der Mel erklärt. Sie scheint 
    die Aufhebung der intakten Ichzensur zur 
    Bedingung zu haben.

    Um Ihre Bemerkungen bittet
    mit herzl.Gruß
    Freud

    Anmerkung Ernst Falzeder (siehe auch publizierte Korrespndenz Freud-Ferenczi)
    Dieser bisher unbekannte Entwurf von Trauer und Melancholie (Freud 1916-17g   [1915]), den Ferenczi dann an Abraham weiterschickte (siehe den nächsten Brief, sowie Freud/Abraham, 18.2.1915, Briefwechsel, S. 202 und Abrahams unveröffentlichten Brief an Freud vom 5.3.1915 [FM]), wurde von mir in den Freud Archives (LOC, container B7) im November 1991 gefunden und, da er zweifellos zumindest auch an Ferenczi gerichtet war, an dieser Stelle nachträglich und ohne Numerierung eingereiht. Er ist nicht auf Briefpapier geschrieben, sondern auf die   großformatigen Bögen, die Freud für seine Manuskripte zu verwenden pflegte. […]
    (Ernst Falzeder)

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