Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 1906-001/1924
1906-001/1924 Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
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    MEINE ANSICHTEN ÜBER DIE ROLLE
    DER SEXUALITÄT IN DER ÄTIOLOGIE
    DER NEUROSEN

    Diese im Juni 1905 geschriebene Arbeit erschien
    1906 in Löwenfeld: Sexualleben und Nervenleiden,
    IV. Auflage, dann in der „Sammlung kleiner Schriften
    zur Neurosenlehre, I. Folge.

    Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die
    ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neurosen
    am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nachgeht. Ich
    habe nämlich keineswegs das Bestreben abzuleugnen, daß sie
    eine Entwicklung durchgemacht und sich während derselben
    verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem Zugeständnis
    die Gewähr finden, daß diese Theorie nichts anderes ist als
    der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter Erfahrungen. Was
    im Gegensatze hierzu der Spekulation entsprungen ist, das kann
    allerdings leicht mit einem Schlage vollständig und dann unver-
    änderlich auftreten.

    Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
    „Neurasthenie“ zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter denen
    mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen auffielen, die
    ich als „eigentliche Neurasthenie“ und als „Angst-
    neurose
    “ beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, daß
    sexuelle Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle
    spielen können, aber man fand dieselben weder regelmäßig
    wirksam, noch dachte man daran, ihnen einen Vorrang vor anderen 

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    ätiologischen Einflüssen einzuräumen. Ich wurde zunächst von der
    Häufigkeit grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen
    überrascht; je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu
    suchen, wobei ich mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen
    Dingen die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde,
    das Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,
    desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
    aus dem Sexualleben auffonden, bis mir zu deren Allgemeinheit
    wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein auf
    ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßigkeiten
    unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer Gesellschaft
    gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches Maß von
    Abweichung von der normalen Sexualfunktion als Krankheits-
    ursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte daher auf den regel-
    mäßigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger Wert legen als
    auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger erschien. Es ergab
    sich, daß die Form der Erkrankung, ob Neurasthenie oder Angst-
    neurose, eine konstante Beziehung zur Art der sexuellen Schäd-
    lichkeit zeige. In den typischen Fällen der Neurasthenie war
    regelmäßig Masturbation oder gehäufte Pollutionen, bei der
    Angstneurose waren Faktoren wie der Coitus interruptus, die
    „frustrane Erregung“ und andere nachweisbar, an denen das
    Moment der ungenügenden Abfuhr der erzeugten Libido das
    Gemeinsame schien. Erst seit dieser leicht zu machenden und
    beliebig oft zu bestätigenden Erfahrung hatte ich den Mut,
    für die sexuellen Einflüsse eine bevorzugte Stellung in der
    Ätiologie der Neurosen zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß
    bei den so häufigen Mischformen von Neurasthenie und Angst-
    neurose auch die Vermengung der für die beiden Formen ange-
    nommenen Ätiologien aufzuzeigen war und daß eine solche Zwei-
    teilung in der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren
    Charakter der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu stimmen
    schien.

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    Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Bedeutung
    für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies,1) huldigte ich
    noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie und Zwangsvor-
    stellungen) einer rein psychologischen Theorie, in welcher das
    sexuelle Moment nicht anders als andere emotionelle Quellen in
    Betracht kam. Ich hatte im Verein mit J. Breuer und im
    Anschluß an Beobachtungen, die er gut ein Dezennium vorher
    an einer hysterischen Kranken gemacht hatte, den Mechanismus
    der Entstehung hysterischer Symptome mittels des Erweckens
    von Erinnerungen im hypnotischen Zustande studiert, und wir
    waren zu Aufschlüssen gelangt, welche gestatteten, die Brücke
    von der traumatischen Hysterie Charcots zur gemeinen, nicht
    traumatischen, zu schlagen.2) Wir waren zur Auffassung gelangt,
    daß die hysterischen Symptome Dauerwirkungen von psychischen
    Traumen sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere
    Bedingungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist
    und sich darum einen abnormen Weg in die Körperinnervation
    gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt“, „Kon-
    version
    “ und „Abreagieren“ fassen das Kennzeichnende
    dieser Anschauung zusammen.

    Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den ein-
    fachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten die
    diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt, konnte es
    aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet gewonnene
    Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte, von
    solcher Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den
    psychischen Mechanismus der hysterischen Symptome zu dem
    gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich bei dem von Breuer 
    und mir eingesetzten „kathartischen“ Verfahren den psychischen
    Traumen, von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten, 

    1) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomen-
    komplex als „Angstneurose“ abzutrennen. Neurol. Zentralblatt, 1895. [Band I dieser
    Gesamtausgabe.]

    2) Studien über Hysterie, 1905. [Band I dieser Gesamtausgabe.]

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    immer weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen,
    welche der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexual-
    leben betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine
    banale Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit
    veranlaßt hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit
    in Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
    deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wiederkehr
    verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung sexueller
    Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als unzweifelhaft
    festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute einer der
    Grundpfeiler der Theorie geblieben.

    Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der lebens-
    langen hysterischen Neurose liege in den meist an sich gering-
    fügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so mag sie
    allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber auf die
    historische Entwicklung der Lehre Rücksicht, verlegt den Haupt-
    inhalt derselben in den Satz, die Hysterie sei der Ausdruck eines
    besonderen Verhaltens der Sexualfunktion des Individuums, und
    dieses Verhalten werde bereits durch die ersten in der Kindheit
    einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse maßgebend bestimmt, so
    sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv
    bereichert worden, den bisher arg vernachlässigten, höchst bedeut-
    samen Nachwirkungen der Kindheitseindrücke überhaupt unsere
    Aufmerksamkeit zu schenken.

    Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen
    Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und Zwangsneurose)
    sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu behandeln, kehre ich
    zu der Gestaltung der Theorie zurück, welche diese in einigen
    kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896
    angenommen hat.1) Die Hervorhebung der angenommenen ätiologischen 

    1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen, Neurol. Zentral-
    blatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische Rundschau, 1896
    [Beide Arbeiten in Bd. I dieser Gesamtausgabe.]

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    Momente gestattete damals, die gemeinen Neurosen
    als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie den Psychoneurosen
    gegenüberzustellen, deren Ätiologie vor allem in den sexuellen
    Erlebnissen der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte
    in dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose
    unmöglich.

    Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
    halte, so ist es doch nicht zu verwundern, daß ich in zehn Jahren
    fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser Verhältnisse
    über meinen damaligen Standpunkt ein gutes Stück weit hinaus-
    gekommen bin und mich heute in der Lage glaube, die Unvoll-
    ständigkeit, die Verschiebungen und die Mißverständnisse, an
    denen die Lehre damals litt, durch eingehendere Erfahrung zu
    korrigieren. Ein Zufall des damals noch spärlichen Materials
    hatte mir eine unverhältnismäßig große Anzahl von Fällen
    zugeführt, in deren Kindergeschichte die sexuelle Verführung
    durch Erwachsene oder andere ältere Kinder die Hauptrolle
    spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit dieser (sonst nicht anzu-
    zweifelnden) Vorkommnisse, da ich überdies zu jener Zeit nicht
    imstande war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen über
    ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher
    zu unterscheiden, während ich seitdem gelernt habe, so manche
    Verführungsphantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung
    der eigenen sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen.
    Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen“
    Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb die
    Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob spontan
    oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der Reife die
    Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja den bedeut-
    samsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte, mußte auch
    die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen Symptome
    verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr als direkte
    Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse, 

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    sondern zwischen die Symptome und die infantilen
    Eindrücke schoben sich nun die (meist in den Pubertätsjahren
    produzierten) Phantasien (Erinnerungsdichtungen) der Kranken
    ein, die auf der einen Seite sich aus und über den Kindheits-
    erinnerungen aufbauten, auf der anderen sich unmittelbar in die
    Symptome umsetzten. Erst mit der Einführung des Elements
    der hysterischen Phantasien wurde das Gefüge der Neurose und
    deren Beziehung zum Leben der Kranken durchsichtig; auch
    ergab sich eine wirklich überraschende Analogie zwischen diesen
    unbewußten Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt
    gewordenen Dichtungen bei der Paranoia.

    Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexualtraumen“
    in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der Sexualität“
    ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprünglichen Theorie lag
    nicht ferne. Mit der angenommenen Häufigkeit der Verführung
    in der Kindheit entfiel auch die übergroße Betonung der 
    akzidentellen Beeinflussung der Sexualität, welcher ich bei
    der Verursachung des Krankseins die Hauptrolle zuschieben
    wollte, ohne darum konstitutionelle und hereditäre Momente zu
    leugnen. Ich hatte sogar gehofft, das Problem der Neurosenwahl,
    die Entscheidung darüber, welcher Form von Psychoneurose der
    Kranke verfallen solle, durch die Einzelheiten der sexuellen
    Kindererlebnisse zu lösen, und damals – wenn auch mit Zurück-
    haltung – gemeint, daß passives Verhalten bei diesen Szenen
    die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die für
    die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich
    später völlig Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche
    den geahnten Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie,
    Aktivität und Zwangsneurose in irgendeiner Weise aufrecht zu
    halten gebietet. Mit dem Rücktritt der akzidentellen Einflüsse
    des Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität
    wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
    gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir die 

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    „sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen neuro-
    pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen „Drei
    Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den Versuch
    gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Konstitution sowie
    die Zusammengesetztheit des Sexualtriebes überhaupt und dessen Her-
    kunft aus verschiedenen Beitragsquellen im Organismus zu schildern.

    Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auf-
    fassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich nun
    die Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in den
    Veröffentlichungen der Jahre 1894 bis 1896 angezeigt worden
    war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität in
    die ihr gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als
    Bedingung für die pathogene Wirksamkeit eines Erlebnisses
    angegeben, daß dieses dem Ich unerträglich erscheinen und ein
    Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse.1) Auf diese Abwehr
    hatte ich die psychische Spaltung – oder wie man damals sagte:
    die Bewußtseinsspaltung – der Hysterie zurückgeführt. Gelang
    die Abwehr, so war das unerträgliche Erlebnis mit seinen Affekt-
    folgen aus dem Bewußtsein und der Erinnerung des Ichs
    vertrieben; unter gewissen Verhältnissen entfaltete aber das
    Vertriebene als ein nun Unbewußtes seine Wirksamkeit und
    kehrte mittels der Symptome und der an ihnen haftenden Affekte
    ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung einem Mißglücken
    der Abwehr entsprach. Diese Auffassung hatte das Verdienst, auf
    das Spiel der psychischen Kräfte einzugehen und somit die
    seelischen Vorgänge der Hysterie den normalen anzunähern,
    anstatt die Charakteristik der Neurose in eine rätselhafte und
    weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.

    Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
    Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle 

    1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der
    akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
    halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894. [Bd. I dieser Gesamtausgabe.]

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    Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben der
    Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die Rolle der
    Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die akzidentellen
    Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung“ (wie
    ich anstatt „Abwehr“ zu sagen begann) zurück. Es kam also
    nicht darauf an, was ein Individuum in seiner Kindheit an
    sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern vor allem auf seine
    Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es diese Eindrücke mit der
    „Verdrängung“ beantwortet habe oder nicht. Bei spontaner
    infantiler Sexualbetätigung ließ sich zeigen, daß dieselbe häufig
    im Laufe der Entwicklung durch einen Akt der Verdrängung
    abgebrochen wurde. Das geschlechtsreife neurotische Individuum
    brachte so ein Stück „Sexualverdrängung“ regelmäßig aus seiner
    Kindheit mit, das bei den Anforderungen des realen Lebens zur
    Äußerung kam, und die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß
    ihre Erkrankung ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido
    und der Sexualverdrängung sei und daß ihre Symptome den
    Wert von Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen
    haben.

    Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen von
    der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie nicht weiter
    aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei Abhandlungen zur
    Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, wo ich auf die somatischen
    Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu suchen ist, ein
    allerdings erst spärliches Licht zu werfen versucht habe. Ich
    habe dort ausgeführt, daß die konstitutionelle sexuelle Anlage
    des Kindes eine ungleich buntere ist, als man erwarten konnte,
    daß sie „polymorph pervers“ genannt zu werden verdient, und
    daß aus dieser Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten
    das sogenannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht.
    Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere der
    Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen Gesundheit,
    Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab sich aus der 

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    Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der infantilen
    Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter das Primat
    der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungsfunktion; die
    Perversionen entsprachen Störungen dieser Zusammenfassung
    durch die übermächtige zwangsartige Entwicklung einzelner dieser
    Partialtriebe, und die Neurose führte sich auf eine zu weitgehende
    Verdrängung der libidinösen Strebungen zurück. Da fast alle
    perversen Triebe der infantilen Anlage als symptombildende
    Kräfte bei der Neurose nachweisbar sind, sich aber bei ihr im
    Zustande der Verdrängung befinden, konnte ich die Neurose als
    das „Negativ“ der Perversion bezeichnen.

    Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine Anschauungen
    über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wandlungen
    doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder verlassen haben,
    die Schätzung der Sexualität und des Infantilismus.
    Sonst sind an die Stelle akzidenteller Einflüsse konstitutionelle
    Momente, für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr“ ist die
    organische „Sexualverdrängung“ eingetreten. Sollte nun jemand
    fragen, wo ein zwingender Beweis für die behauptete ätiologische
    Bedeutung sexueller Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden
    sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemüts-
    bewegungen und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen
    sieht, auf eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kinder-
    erlebnisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
    Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
    bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man sich
    dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient, daß die
    Symptome die Sexualbetätigung der Kranken dar-
    stellen
    , die ganze oder eine partielle, aus den Quellen normaler
    oder perverser Partialtriebe der Sexualität. Nicht nur, daß ein
    guter Teil der hysterischen Symptomatologie direkt aus den
    Äußerungen der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht nur, daß
    eine Reihe von erogenen Zonen in der Neurose in Verstärkung 

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    infantiler Eigenschaften sich zur Bedeutung von Genitalien
    erhebt; die kompliziertesten Symptome selbst enthüllen sich als
    die konvertierten Darstellungen von Phantasien, welche eine
    sexuelle Situation zum Inhalte haben. Wer die Sprache der
    Hysterie zu deuten versteht, kann vernehmen, daß die Neurose
    nur von der verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man
    wolle nur die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
    Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale
    Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
    muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht fehlende
    sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses die pathogene
    Wirkung ausgeübt hat.

    Wir sind unversehens von der Frage nach der Verursachung
    der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens vorgedrungen.
    Will man dem Rechnung tragen, was man durch die Psycho-
    analyse erfahren hat, so kann man nur sagen, das Wesen dieser
    Erkrankungen liege in Störungen der Sexualvorgänge, jener
    Vorgänge im Organismus, welche die Bildung und Verwendung
    der geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden,
    daß man sich diese Vorgänge in letzter Linie als chemische
    vorstelle, so daß man in den sogenannten aktuellen Neurosen
    die somatischen, in den Psychoneurosen außerdem noch die
    psychischen Wirkungen der Störungen im Sexualstoffwechsel
    erkennen dürfte. Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxi-
    kations‑ und Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden,
    mit dem Morbus Basedowi und Morbus Addisoni drängt sich
    ohne weiteres klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren
    Erkrankungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben
    darf, so werden wohl auch bald die echten „Neurosen“ ihrer
    Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
    müssen.

    Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was schädigend
    auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge einwirken kann. 

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    In erster Linie also die Noxen, welche die Sexualfunktion
    selbst betreffen, insoferne diese von der mit Kultur und Erziehung
    veränderlichen Sexualkonstitution als Schädlichkeiten angenommen
    werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen Noxen und
    Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung des
    Organismus die Sexualvorgänge in demselben zu schädigen
    vermögen. Man vergesse aber nicht, daß das ätiologische Problem
    bei den Neurosen mindestens ebenso kompliziert ist wie sonst
    bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Ein-
    wirkung ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine
    Mehrheit von ätiologischen Momenten erfordert, die einander
    unterstützen, die man also nicht in Gegensatz zu einander bringen
    darf. Dafür ist auch der Zustand des neurotischen Krankseins
    von dem der Gesundheit nicht scharf geschieden. Die Erkrankung
    ist das Ergebnis einer Summation, und das Maß der ätiologischen
    Bedingungen kann von irgendeiner Seite her voll gemacht
    werden. Die Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der
    Heredität oder in der Konstitution zu suchen, wäre keine
    geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die akzidentellen
    Beeinflussungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben
    wollte, wenn sich doch die Aufklärung ergibt, daß das Wesen
    dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvorgänge
    im Organismus gelegen ist.

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