Zurück zum Werk
S.
123
MEINE ANSICHTEN ÜBER DIE ROLLE
DER SEXUALITÄT IN DER ÄTIOLOGIE
DER NEUROSENDiese im Juni 1905 geschriebene Arbeit erschien
1906 in Löwenfeld: Sexualleben und Nervenleiden,
IV. Auflage, dann in der „Sammlung kleiner Schriften
zur Neurosenlehre, I. Folge.Ich bin der Meinung, daß man meine Theorie über die
ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neurosen
am besten würdigt, wenn man ihrer Entwicklung nachgeht. Ich
habe nämlich keineswegs das Bestreben abzuleugnen, daß sie
eine Entwicklung durchgemacht und sich während derselben
verändert hat. Die Fachgenossen könnten in diesem Zugeständnis
die Gewähr finden, daß diese Theorie nichts anderes ist als
der Niederschlag fortgesetzter und vertiefter Erfahrungen. Was
im Gegensatze hierzu der Spekulation entsprungen ist, das kann
allerdings leicht mit einem Schlage vollständig und dann unver-
änderlich auftreten.Die Theorie bezog sich ursprünglich bloß auf die als
„Neurasthenie“ zusammengefaßten Krankheitsbilder, unter denen
mir zwei, gelegentlich auch rein auftretende Typen auffielen, die
ich als „eigentliche Neurasthenie“ und als „Angst-
neurose“ beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, daß
sexuelle Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle
spielen können, aber man fand dieselben weder regelmäßig
wirksam, noch dachte man daran, ihnen einen Vorrang vor anderenS.
124
ätiologischen Einflüssen einzuräumen. Ich wurde zunächst von der
Häufigkeit grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen
überrascht; je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu
suchen, wobei ich mir vorhielt, daß die Menschen alle in sexuellen
Dingen die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde,
das Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen,
desto regelmäßiger ließen sich solche krankmachende Momente
aus dem Sexualleben auffonden, bis mir zu deren Allgemeinheit
wenig zu fehlen schien. Man mußte aber von vornherein auf
ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmäßigkeiten
unter dem Drucke der sozialen Verhältnisse in unserer Gesellschaft
gefaßt sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches Maß von
Abweichung von der normalen Sexualfunktion als Krankheits-
ursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte daher auf den regel-
mäßigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger Wert legen als
auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger erschien. Es ergab
sich, daß die Form der Erkrankung, ob Neurasthenie oder Angst-
neurose, eine konstante Beziehung zur Art der sexuellen Schäd-
lichkeit zeige. In den typischen Fällen der Neurasthenie war
regelmäßig Masturbation oder gehäufte Pollutionen, bei der
Angstneurose waren Faktoren wie der Coitus interruptus, die
„frustrane Erregung“ und andere nachweisbar, an denen das
Moment der ungenügenden Abfuhr der erzeugten Libido das
Gemeinsame schien. Erst seit dieser leicht zu machenden und
beliebig oft zu bestätigenden Erfahrung hatte ich den Mut,
für die sexuellen Einflüsse eine bevorzugte Stellung in der
Ätiologie der Neurosen zu beanspruchen. Es kam hinzu, daß
bei den so häufigen Mischformen von Neurasthenie und Angst-
neurose auch die Vermengung der für die beiden Formen ange-
nommenen Ätiologien aufzuzeigen war und daß eine solche Zwei-
teilung in der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren
Charakter der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu stimmen
schien.S.
125
Zur gleichen Zeit, während ich der Sexualität diese Bedeutung
für die Entstehung der einfachen Neurosen zuwies,1) huldigte ich
noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie und Zwangsvor-
stellungen) einer rein psychologischen Theorie, in welcher das
sexuelle Moment nicht anders als andere emotionelle Quellen in
Betracht kam. Ich hatte im Verein mit J. Breuer und im
Anschluß an Beobachtungen, die er gut ein Dezennium vorher
an einer hysterischen Kranken gemacht hatte, den Mechanismus
der Entstehung hysterischer Symptome mittels des Erweckens
von Erinnerungen im hypnotischen Zustande studiert, und wir
waren zu Aufschlüssen gelangt, welche gestatteten, die Brücke
von der traumatischen Hysterie Charcots zur gemeinen, nicht
traumatischen, zu schlagen.2) Wir waren zur Auffassung gelangt,
daß die hysterischen Symptome Dauerwirkungen von psychischen
Traumen sind, deren zugehörige Affektgröße durch besondere
Bedingungen von bewußter Bearbeitung abgedrängt worden ist
und sich darum einen abnormen Weg in die Körperinnervation
gebahnt hat. Die Termini „eingeklemmter Affekt“, „Kon-
version“ und „Abreagieren“ fassen das Kennzeichnende
dieser Anschauung zusammen.Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den ein-
fachen Neurosen, die ja so weit gehen, daß dem Ungeübten die
diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt, konnte es
aber nicht ausbleiben, daß die für das eine Gebiet gewonnene
Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte, von
solcher Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den
psychischen Mechanismus der hysterischen Symptome zu dem
gleichen Ergebnis. Wenn man nämlich bei dem von Breuer
und mir eingesetzten „kathartischen“ Verfahren den psychischen
Traumen, von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten,1) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomen-
komplex als „Angstneurose“ abzutrennen. Neurol. Zentralblatt, 1895. [Band I dieser
Gesamtausgabe.]2) Studien über Hysterie, 1905. [Band I dieser Gesamtausgabe.]
S.
126
immer weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen,
welche der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexual-
leben betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine
banale Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit
veranlaßt hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit
in Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symptome aufklären,
deren Determinierung verständlich finden, noch deren Wiederkehr
verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung sexueller
Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen als unzweifelhaft
festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute einer der
Grundpfeiler der Theorie geblieben.Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der lebens-
langen hysterischen Neurose liege in den meist an sich gering-
fügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so mag sie
allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber auf die
historische Entwicklung der Lehre Rücksicht, verlegt den Haupt-
inhalt derselben in den Satz, die Hysterie sei der Ausdruck eines
besonderen Verhaltens der Sexualfunktion des Individuums, und
dieses Verhalten werde bereits durch die ersten in der Kindheit
einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse maßgebend bestimmt, so
sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer, aber um ein Motiv
bereichert worden, den bisher arg vernachlässigten, höchst bedeut-
samen Nachwirkungen der Kindheitseindrücke überhaupt unsere
Aufmerksamkeit zu schenken.Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen
Kindererlebnissen die Ätiologie der Hysterie (und Zwangsneurose)
sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu behandeln, kehre ich
zu der Gestaltung der Theorie zurück, welche diese in einigen
kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896
angenommen hat.1) Die Hervorhebung der angenommenen ätiologischen1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen, Neurol. Zentral-
blatt, 1896. – Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische Rundschau, 1896
[Beide Arbeiten in Bd. I dieser Gesamtausgabe.]S.
127
Momente gestattete damals, die gemeinen Neurosen
als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie den Psychoneurosen
gegenüberzustellen, deren Ätiologie vor allem in den sexuellen
Erlebnissen der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte
in dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose
unmöglich.Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwundern, daß ich in zehn Jahren
fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser Verhältnisse
über meinen damaligen Standpunkt ein gutes Stück weit hinaus-
gekommen bin und mich heute in der Lage glaube, die Unvoll-
ständigkeit, die Verschiebungen und die Mißverständnisse, an
denen die Lehre damals litt, durch eingehendere Erfahrung zu
korrigieren. Ein Zufall des damals noch spärlichen Materials
hatte mir eine unverhältnismäßig große Anzahl von Fällen
zugeführt, in deren Kindergeschichte die sexuelle Verführung
durch Erwachsene oder andere ältere Kinder die Hauptrolle
spielte. Ich überschätzte die Häufigkeit dieser (sonst nicht anzu-
zweifelnden) Vorkommnisse, da ich überdies zu jener Zeit nicht
imstande war, die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen über
ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher
zu unterscheiden, während ich seitdem gelernt habe, so manche
Verführungsphantasie als Abwehrversuch gegen die Erinnerung
der eigenen sexuellen Betätigung (Kindermasturbation) aufzulösen.
Mit dieser Aufklärung entfiel die Betonung des „traumatischen“
Elementes an den sexuellen Kindererlebnissen, und es blieb die
Einsicht übrig, daß die infantile Sexualbetätigung (ob spontan
oder provoziert) dem späteren Sexualleben nach der Reife die
Richtung vorschreibt. Dieselbe Aufklärung, die ja den bedeut-
samsten meiner anfänglichen Irrtümer korrigierte, mußte auch
die Auffassung vom Mechanismus der hysterischen Symptome
verändern. Dieselben erschienen nun nicht mehr als direkte
Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse,S.
128
sondern zwischen die Symptome und die infantilen
Eindrücke schoben sich nun die (meist in den Pubertätsjahren
produzierten) Phantasien (Erinnerungsdichtungen) der Kranken
ein, die auf der einen Seite sich aus und über den Kindheits-
erinnerungen aufbauten, auf der anderen sich unmittelbar in die
Symptome umsetzten. Erst mit der Einführung des Elements
der hysterischen Phantasien wurde das Gefüge der Neurose und
deren Beziehung zum Leben der Kranken durchsichtig; auch
ergab sich eine wirklich überraschende Analogie zwischen diesen
unbewußten Phantasien der Hysteriker und den als Wahn bewußt
gewordenen Dichtungen bei der Paranoia.Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexualtraumen“
in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der Sexualität“
ersetzt. Eine zweite Abänderung der ursprünglichen Theorie lag
nicht ferne. Mit der angenommenen Häufigkeit der Verführung
in der Kindheit entfiel auch die übergroße Betonung der
akzidentellen Beeinflussung der Sexualität, welcher ich bei
der Verursachung des Krankseins die Hauptrolle zuschieben
wollte, ohne darum konstitutionelle und hereditäre Momente zu
leugnen. Ich hatte sogar gehofft, das Problem der Neurosenwahl,
die Entscheidung darüber, welcher Form von Psychoneurose der
Kranke verfallen solle, durch die Einzelheiten der sexuellen
Kindererlebnisse zu lösen, und damals – wenn auch mit Zurück-
haltung – gemeint, daß passives Verhalten bei diesen Szenen
die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen die für
die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung mußte ich
später völlig Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsächliche
den geahnten Zusammenhang zwischen Passivität und Hysterie,
Aktivität und Zwangsneurose in irgendeiner Weise aufrecht zu
halten gebietet. Mit dem Rücktritt der akzidentellen Einflüsse
des Erlebens mußten die Momente der Konstitution und Heredität
wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem Unterschiede
gegen die sonst herrschende Anschauung, daß bei mir dieS.
129
„sexuelle Konstitution“ an die Stelle der allgemeinen neuro-
pathischen Disposition trat. In meinen jüngst erschienenen „Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) habe ich den Versuch
gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser sexuellen Konstitution sowie
die Zusammengesetztheit des Sexualtriebes überhaupt und dessen Her-
kunft aus verschiedenen Beitragsquellen im Organismus zu schildern.Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auf-
fassung der „sexuellen Kindertraumen“ entwickelte sich nun
die Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in den
Veröffentlichungen der Jahre 1894 bis 1896 angezeigt worden
war. Ich hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität in
die ihr gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als
Bedingung für die pathogene Wirksamkeit eines Erlebnisses
angegeben, daß dieses dem Ich unerträglich erscheinen und ein
Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse.1) Auf diese Abwehr
hatte ich die psychische Spaltung – oder wie man damals sagte:
die Bewußtseinsspaltung – der Hysterie zurückgeführt. Gelang
die Abwehr, so war das unerträgliche Erlebnis mit seinen Affekt-
folgen aus dem Bewußtsein und der Erinnerung des Ichs
vertrieben; unter gewissen Verhältnissen entfaltete aber das
Vertriebene als ein nun Unbewußtes seine Wirksamkeit und
kehrte mittels der Symptome und der an ihnen haftenden Affekte
ins Bewußtsein zurück, so daß die Erkrankung einem Mißglücken
der Abwehr entsprach. Diese Auffassung hatte das Verdienst, auf
das Spiel der psychischen Kräfte einzugehen und somit die
seelischen Vorgänge der Hysterie den normalen anzunähern,
anstatt die Charakteristik der Neurose in eine rätselhafte und
weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, daß deren sexuelle1) Die Abwehr‑Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der
akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser
halluzinatorischer Psychosen. Neurol. Zentralblatt, 1894. [Bd. I dieser Gesamtausgabe.]S.
130
Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben der
Neurotiker zu unterscheiden brauche, daß speziell die Rolle der
Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die akzidentellen
Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung“ (wie
ich anstatt „Abwehr“ zu sagen begann) zurück. Es kam also
nicht darauf an, was ein Individuum in seiner Kindheit an
sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern vor allem auf seine
Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob es diese Eindrücke mit der
„Verdrängung“ beantwortet habe oder nicht. Bei spontaner
infantiler Sexualbetätigung ließ sich zeigen, daß dieselbe häufig
im Laufe der Entwicklung durch einen Akt der Verdrängung
abgebrochen wurde. Das geschlechtsreife neurotische Individuum
brachte so ein Stück „Sexualverdrängung“ regelmäßig aus seiner
Kindheit mit, das bei den Anforderungen des realen Lebens zur
Äußerung kam, und die Psychoanalysen Hysterischer zeigten, daß
ihre Erkrankung ein Erfolg des Konflikts zwischen der Libido
und der Sexualverdrängung sei und daß ihre Symptome den
Wert von Kompromissen zwischen beiden seelischen Strömungen
haben.Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen von
der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie nicht weiter
aufklären. Es genüge, hier auf meine „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie“ (1905) hinzuweisen, wo ich auf die somatischen
Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu suchen ist, ein
allerdings erst spärliches Licht zu werfen versucht habe. Ich
habe dort ausgeführt, daß die konstitutionelle sexuelle Anlage
des Kindes eine ungleich buntere ist, als man erwarten konnte,
daß sie „polymorph pervers“ genannt zu werden verdient, und
daß aus dieser Anlage durch Verdrängung gewisser Komponenten
das sogenannte normale Verhalten der Sexualfunktion hervorgeht.
Ich konnte durch den Hinweis auf die infantilen Charaktere der
Sexualität eine einfache Verknüpfung zwischen Gesundheit,
Perversion und Neurose herstellen. Die Norm ergab sich aus derS.
131
Verdrängung gewisser Partialtriebe und Komponenten der infantilen
Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter das Primat
der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungsfunktion; die
Perversionen entsprachen Störungen dieser Zusammenfassung
durch die übermächtige zwangsartige Entwicklung einzelner dieser
Partialtriebe, und die Neurose führte sich auf eine zu weitgehende
Verdrängung der libidinösen Strebungen zurück. Da fast alle
perversen Triebe der infantilen Anlage als symptombildende
Kräfte bei der Neurose nachweisbar sind, sich aber bei ihr im
Zustande der Verdrängung befinden, konnte ich die Neurose als
das „Negativ“ der Perversion bezeichnen.Ich halte es der Hervorhebung wert, daß meine Anschauungen
über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wandlungen
doch zwei Gesichtspunkte nie verleugnet oder verlassen haben,
die Schätzung der Sexualität und des Infantilismus.
Sonst sind an die Stelle akzidenteller Einflüsse konstitutionelle
Momente, für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr“ ist die
organische „Sexualverdrängung“ eingetreten. Sollte nun jemand
fragen, wo ein zwingender Beweis für die behauptete ätiologische
Bedeutung sexueller Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden
sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Gemüts-
bewegungen und selbst auf somatische Anlässe hin ausbrechen
sieht, auf eine spezifische Ätiologie in Gestalt besonderer Kinder-
erlebnisse verzichten muß, so nenne ich die psychoanalytische
Erforschung der Neurotiker als die Quelle, aus welcher die
bestrittene Überzeugung zufließt. Man erfährt, wenn man sich
dieser unersetzlichen Untersuchungsmethode bedient, daß die
Symptome die Sexualbetätigung der Kranken dar-
stellen, die ganze oder eine partielle, aus den Quellen normaler
oder perverser Partialtriebe der Sexualität. Nicht nur, daß ein
guter Teil der hysterischen Symptomatologie direkt aus den
Äußerungen der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht nur, daß
eine Reihe von erogenen Zonen in der Neurose in VerstärkungS.
132
infantiler Eigenschaften sich zur Bedeutung von Genitalien
erhebt; die kompliziertesten Symptome selbst enthüllen sich als
die konvertierten Darstellungen von Phantasien, welche eine
sexuelle Situation zum Inhalte haben. Wer die Sprache der
Hysterie zu deuten versteht, kann vernehmen, daß die Neurose
nur von der verdrängten Sexualität der Kranken handelt. Man
wolle nur die Sexualfunktion in ihrem richtigen, durch die infantile
Anlage umschriebenen Umfange verstehen. Wo eine banale
Emotion zur Verursachung der Erkrankung gerechnet werden
muß, weist die Analyse regelmäßig nach, daß die nicht fehlende
sexuelle Komponente des traumatischen Erlebnisses die pathogene
Wirkung ausgeübt hat.Wir sind unversehens von der Frage nach der Verursachung
der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens vorgedrungen.
Will man dem Rechnung tragen, was man durch die Psycho-
analyse erfahren hat, so kann man nur sagen, das Wesen dieser
Erkrankungen liege in Störungen der Sexualvorgänge, jener
Vorgänge im Organismus, welche die Bildung und Verwendung
der geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu vermeiden,
daß man sich diese Vorgänge in letzter Linie als chemische
vorstelle, so daß man in den sogenannten aktuellen Neurosen
die somatischen, in den Psychoneurosen außerdem noch die
psychischen Wirkungen der Störungen im Sexualstoffwechsel
erkennen dürfte. Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxi-
kations‑ und Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden,
mit dem Morbus Basedowi und Morbus Addisoni drängt sich
ohne weiteres klinisch auf, und so wie man diese beiden letzteren
Erkrankungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten“ beschreiben
darf, so werden wohl auch bald die echten „Neurosen“ ihrer
Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
müssen.Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was schädigend
auf die der Sexualfunktion dienenden Vorgänge einwirken kann.S.
133
In erster Linie also die Noxen, welche die Sexualfunktion
selbst betreffen, insoferne diese von der mit Kultur und Erziehung
veränderlichen Sexualkonstitution als Schädlichkeiten angenommen
werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen Noxen und
Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung des
Organismus die Sexualvorgänge in demselben zu schädigen
vermögen. Man vergesse aber nicht, daß das ätiologische Problem
bei den Neurosen mindestens ebenso kompliziert ist wie sonst
bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Ein-
wirkung ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine
Mehrheit von ätiologischen Momenten erfordert, die einander
unterstützen, die man also nicht in Gegensatz zu einander bringen
darf. Dafür ist auch der Zustand des neurotischen Krankseins
von dem der Gesundheit nicht scharf geschieden. Die Erkrankung
ist das Ergebnis einer Summation, und das Maß der ätiologischen
Bedingungen kann von irgendeiner Seite her voll gemacht
werden. Die Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der
Heredität oder in der Konstitution zu suchen, wäre keine
geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die akzidentellen
Beeinflussungen der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben
wollte, wenn sich doch die Aufklärung ergibt, daß das Wesen
dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvorgänge
im Organismus gelegen ist.
Freud_1924_Gesammelte_Schriften_V_Metapsychologie_k
123
–133