S.
178
JENSEITS DES LUSTPRINZIPS
(1916)
I
In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbe-
denklich an, daß der Ablauf der seelischen Vorgänge auto-
matisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt,
wir glauben, daß er jedesmal durch eine unlustvolle Span-
nung angeregt wird und dann eine solche Richtung ein-
schlägt, daß sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser
Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder
Erzeugung von Lust zusammenfällt. Wenn wir die von uns
studierten seelischen Prozesse mit Rücksicht auf diesen
Ablauf betrachten, führen wir den ökonomischen Gesichts-
punkt in unsere Arbeit ein. Wir meinen, eine Darstellung,
die neben dem topischen und dem dynamischen Moment
noch dies ökonomische zu würdigen versuche, sei die voll-
ständigste, die wir uns derzeit vorstellen können, und ver-
diene es, durch den Namen einer metapsychologi-
schen hervorgehoben zu werden.Es hat dabei für uns kein Interesse, zu untersuchen,
inwieweit wir uns mit der Aufstellung des Lustprinzips
einem bestimmten, historisch festgelegten, philosophischen
System angenähert oder angeschlossen haben. Wir gelangenS.
179
zu solchen spekulativen Annahmen bei dem Bemühen, von
den Tatsachen der täglichen Beobachtung auf unserem
Gebiete Beschreibung und Rechenschaft zu geben. Priorität
und Originalität gehören nicht zu den Zielen, die der
psychoanalytischen Arbeit gesetzt sind, und die Eindrücke,
welche der Aufstellung dieses Prinzips zugrunde liegen, sind
so augenfällig, daß es kaum möglich ist, sie zu übersehen.
Dagegen würden wir uns gerne zur Dankbarkeit gegen eine
philosophische oder psychologische Theorie bekennen, die
uns zu sagen wüßte, was die Bedeutungen der für uns so
imperativen Lust‑ und Unlustempfindungen sind. Leider
wird uns hier nichts Brauchbares geboten. Es ist das
dunkelste und unzugänglichste Gebiet des Seelenlebens, und
wenn wir unmöglich vermeiden können, es zu berühren, so
wird die lockerste Annahme darüber, meine ich, die beste
sein. Wir haben uns entschlossen, Lust und Unlust mit der
Quantität der im Seelenleben vorhandenen – und nicht
irgendwie gebundenen – Erregung in Beziehung zu bringen,
solcher Art, daß Unlust einer Steigerung, Lust einer Verrin-
gerung dieser Quantität entspricht. Wir denken dabei nicht
an ein einfaches Verhältnis zwischen der Stärke der Emp-
findungen und den Veränderungen, auf die sie bezogen
werden; am wenigsten – nach allen Erfahrungen der
Psychophysiologie – an direkte Proportionalität; wahr-
scheinlich ist das Maß der Verringerung oder Vermehrung
in der Zeit das für die Empfindung entscheidende Moment.
Das Experiment fände hier möglicherweise Zutritt, für uns
Analytiker ist weiteres Eingehen in diese Probleme nicht
geraten, solange nicht ganz bestimmte Beobachtungen uns
leiten können.Es kann uns aber nicht gleichgültig lassen, wenn wir
finden, daß ein so tiefblickender Forscher wie G. Th. Fech-
ner eine Auffassung von Lust und Unlust vertreten hat,S.
180
welche im wesentlichen mit der zusammenfällt, die uns von
der psychoanalytischen Arbeit aufgedrängt wird. Die Äuße-
rung Fechners ist in seiner kleinen Schrift: Einige Ideen
zur Schöpfungs‑ und Entwicklungsgeschichte der Organismen,
1873 (Abschnitt XI, Zusatz, p. 94), enthalten und lautet
wie folgt: „Insofern bewußte Antriebe immer mit Lust
oder Unlust in Beziehung stehen, kann auch Lust oder
Unlust mit Stabilitäts‑ und Instabilitätsverhältnissen in
psychophysischer Beziehung gedacht werden, und es läßt
sich hierauf die anderwärts von mir näher zu entwickelnde
Hypothese begründen, daß jede die Schwelle des Bewußt-
seins übersteigende psychophysische Bewegung nach Maß-
gabe mit Lust behaftet sei, als sie sich der vollen Stabilität
über eine gewisse Grenze hinaus nähert, mit Unlust nach
Maßgabe, als sie über eine gewisse Grenze davon abweicht,
indes zwischen beiden, als qualitative Schwelle der Lust
und Unlust zu bezeichnenden Grenzen eine gewisse Breite
ästhetischer Indifferenz besteht …“Die Tatsachen, die uns veranlaßt haben, an die Herrschaft
des Lustprinzips im Seelenleben zu glauben, finden auch
ihren Ausdruck in der Annahme, daß es ein Bestreben des
seelischen Apparates sei, die in ihm vorhandene Quantität
von Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu
erhalten. Es ist dasselbe, nur in andere Fassung gebracht,
denn wenn die Arbeit des seelischen Apparates dahin geht,
die Erregungsquantität niedrig zu halten, so muß alles, was
dieselbe zu steigern geeignet ist, als funktionswidrig, das
heißt als unlustvoll empfunden werden. Das Lustprinzip
leitet sich aus dem Konstanzprinzip ab; in Wirklichkeit
wurde das Konstanzprinzip aus den Tatsachen erschlossen,
die uns die Annahme des Lustprinzips aufnötigten. Bei ein-
gehenderer Diskussion werden wir auch finden, daß dies
von uns angenommene Bestreben des seelischen ApparatesS.
181
sich als spezieller Fall dem Fechnerschen Prinzip der
Tendenz zur Stabilität unterordnet, zu dem er die
Lust‑Unlustempfindungen in Beziehung gebracht hat.Dann müssen wir aber sagen, es sei eigentlich unrichtig,
von einer Herrschaft des Lustprinzips über den Ablauf der
seelischen Prozesse zu reden. Wenn eine solche bestände,
müßte die übergroße Mehrheit unserer Seelenvorgänge von
Lust begleitet sein oder zur Lust führen, während doch die
allgemeinste Erfahrung dieser Folgerung energisch wider-
spricht. Es kann also nur so sein, daß eine starke Tendenz
zum Lustprinzip in der Seele besteht, der sich aber gewisse
andere Kräfte oder Verhältnisse widersetzen, so daß der
Endausgang nicht immer der Lusttendenz entsprechen kann.
Vergleiche die Bemerkung Fechners bei ähnlichem An-
lasse (ebenda, p. 90): „Damit aber, daß die Tendenz zum
Ziele noch nicht die Erreichung des Zieles bedeutet und
das Ziel überhaupt nur in Approximationen erreichbar
ist …“ Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, welche
Umstände die Durchsetzung des Lustprinzips zu vereiteln
vermögen, dann betreten wir wieder sicheren und bekannten
Boden und können unsere analytischen Erfahrungen in rei-
chem Ausmaße zur Beantwortung heranziehen.Der erste Fall einer solchen Hemmung des Lustprinzips
ist uns als ein gesetzmäßiger vertraut. Wir wissen, daß das
Lustprinzip einer primären Arbeitsweise des seelischen Appa-
rates eignet, und daß es für die Selbstbehauptung des Orga-
nismus unter den Schwierigkeiten der Außenwelt so recht
von Anfang an unbrauchbar, ja in hohem Grade gefährlich
ist. Unter dem Einflusse der Selbsterhaltungstriebe des Ichs
wird es vom Realitätsprinzip abgelöst, welches,
ohne die Absicht endlicher Lustgewinnung aufzugeben, doch
den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei
Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung derS.
182
Unlust auf dem langen Umwege zur Lust fordert und durch-
setzt. Das Lustprinzip bleibt dann noch lange Zeit die
Arbeitsweise der schwerer „erziehbaren“ Sexualtriebe, und
es kommt immer wieder vor, daß es, sei es von diesen
letzteren aus, sei es im Ich selbst, das Realitätsprinzip zum
Schaden des ganzen Organismus überwältigt.Es ist indes unzweifelhaft, daß die Ablösung des Lust-
prinzips durch das Realitätsprinzip nur für einen geringen
und nicht für den intensivsten Teil der Unlusterfahrungen
verantwortlich gemacht werden kann. Eine andere, nicht
weniger gesetzmäßige Quelle der Unlustentbindung ergibt
sich aus den Konflikten und Spaltungen im seelischen
Apparat, während das Ich seine Entwicklung zu höher
zusammengesetzten Organisationen durchmacht. Fast alle
Energie, die den Apparat erfüllt, stammt aus den mitge-
brachten Triebregungen, aber diese werden nicht alle zu den
gleichen Entwicklungsphasen zugelassen. Unterwegs geschieht
es immer wieder, daß einzelne Triebe oder Triebanteile sich
in ihren Zielen oder Ansprüchen als unverträglich mit den
übrigen erweisen, die sich zu der umfassenden Einheit des
Ichs zusammenschließen können. Sie werden dann von dieser
Einheit durch den Prozeß der Verdrängung abgespalten,
auf niedrigeren Stufen der psychischen Entwicklung zurück-
gehalten und zunächst von der Möglichkeit einer Befriedi-
gung abgeschnitten. Gelingt es ihnen dann, was bei den ver-
drängten Sexualtrieben so leicht geschieht, sich auf Um-
wegen zu einer direkten oder Ersatzbefriedigung durchzu-
ringen, so wird dieser Erfolg, der sonst eine Lustmöglich-
keit gewesen wäre, vom Ich als Unlust empfunden. Infolge
des alten, in die Verdrängung auslaufenden Konfliktes hat
das Lustprinzip einen neuerlichen Durchbruch erfahren,
gerade während gewisse Triebe am Werke waren, in Befol-
gung des Prinzips neue Lust zu gewinnen. Die EinzelheitenS.
183
des Vorganges, durch welchen die Verdrängung eine Lust-
möglichkeit in eine Unlustquelle verwandelt, sind noch nicht
gut verstanden oder nicht klar darstellbar, aber sicherlich
ist alle neurotische Unlust von solcher Art, ist Lust, die
nicht als solche empfunden werden kann.1Die beiden hier angezeigten Quellen der Unlust decken
noch lange nicht die Mehrzahl unserer Unlusterlebnisse, aber
vom Rest wird man mit einem Anschein von gutem Recht
behaupten, daß sein Vorhandensein der Herrschaft des Lust-
prinzips nicht widerspricht. Die meiste Unlust, die wir ver-
spüren, ist ja Wahrnehmungsunlust, entweder Wahrnehmung
des Drängens unbefriedigter Triebe oder äußere Wahr-
nehmung, sei es, daß diese an sich peinlich ist, oder daß sie
unlustvolle Erwartungen im seelischen Apparat erregt, von
ihm als „Gefahr“ erkannt wird. Die Reaktion auf diese
Triebansprüche und Gefahrdrohungen, in der sich die eigent-
liche Tätigkeit des seelischen Apparates äußert, kann dann
in korrekter Weise vom Lustprinzip oder dem es modifi-
zierenden Realitätsprinzip geleitet werden. Somit scheint es
nicht notwendig, eine weitergehende Einschränkung des
Lustprinzips anzuerkennen, und doch kann gerade die Unter-
suchung der seelischen Reaktion auf die äußerliche Gefahr
neuen Stoff und neue Fragestellungen zu dem hier behan-
delten Problem liefern.II
Nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahn-
zusammenstößen und anderen, mit Lebensgefahr verbundenen
Unfällen ist seit langem ein Zustand beschrieben worden, dem1) Das wesentliche ist wohl, daß Lust und Unlust als bewußte
Empfindungen an das Ich gebunden sind.S.
184
dann der Name „traumatische Neurose“ verblieben ist. Der
schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg hat eine große
Anzahl solcher Erkrankungen entstehen lassen und wenigstens
der Versuchung ein Ende gesetzt, sie auf organische Schädi-
gung des Nervensystems durch Einwirkung mechanischer
Gewalt zurückzuführen.2 Das Zustandsbild der traumatischen
Neurose nähert sich der Hysterie durch seinen Reichtum an
ähnlichen motorischen Symptomen, übertrifft diese aber in
der Regel durch die stark ausgebildeten Anzeichen subjektiven
Leidens, etwa wie bei einer Hypochondrie oder Melancholie,
und durch die Beweise einer weit umfassenderen allgemeinen
Schwächung und Zerrüttung der seelischen Leistungen. Ein
volles Verständnis ist bisher weder für die Kriegsneurosen
noch für die traumatischen Neurosen des Friedens erzielt
worden. Bei den Kriegsneurosen wirkte es einerseits aufklä-
rend, aber doch wiederum verwirrend, daß dasselbe Krank-
heitsbild gelegentlich ohne Mithilfe einer groben mechanischen
Gewalt zustande kam; an der gemeinen traumatischen Neu-
rose heben sich zwei Züge hervor, an welche die Überlegung
anknüpfen konnte, erstens, daß das Hauptgewicht der Ver-
ursachung auf das Moment der Überraschung, auf den
Schreck, zu fallen schien, und zweitens, daß eine gleichzeitig
erlittene Verletzung oder Wunde zumeist der Entstehung der
Neurose entgegenwirkte. Schreck, Furcht, Angst werden mit
Unrecht wie synonyme Ausdrücke gebraucht; sie lassen sich in
ihrer Beziehung zur Gefahr gut auseinanderhalten. Angst
bezeichnet einen gewissen Zustand wie Erwartung der Gefahr
und Vorbereitung auf dieselbe, mag sie auch eine unbekannte
sein; Furcht verlangt ein bestimmtes Objekt, vor dem man
sich fürchtet; Schreck aber benennt den Zustand, in den2) Vgl. Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Mit Beiträgen
von Ferenczi, Abraham, Simmel und E. Jones. Band I
der Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek, 1919.S.
185
man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vor-
bereitet zu sein, betont das Moment der Überraschung. Ich
glaube nicht, daß die Angst eine traumatische Neurose
erzeugen kann; an der Angst ist etwas, was gegen den
Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt. Wir
werden auf diesen Satz später zurückkommen.Das Studium des Traumes dürfen wir als den zuver-
lässigsten Weg zur Erforschung der seelischen Tiefenvorgänge
betrachten. Nun zeigt das Traumleben der traumatischen
Neurose den Charakter, daß es den Kranken immer wieder
in die Situation seines Unfalles zurückführt, aus der er mit
neuem Schrecken erwacht. Darüber verwundert man sich viel
zu wenig. Man meint, es sei eben ein Beweis für die Stärke
des Eindruckes, den das traumatische Erlebnis gemacht hat,
daß es sich dem Kranken sogar im Schlaf immer wieder auf-
drängt. Der Kranke sei an das Trauma sozusagen psychisch
fixiert. Solche Fixierungen an das Erlebnis, welches die
Erkrankung ausgelöst hat, sind uns seit langem bei der
Hysterie bekannt. Breuer und Freud äußerten 1893: Die
Hysterischen leiden großenteils an Reminiszenzen. Auch bei
den Kriegsneurosen haben Beobachter wie Ferenczi und
Simmel manche motorische Symptome durch Fixierung
an den Moment des Traumas erklären können.Allein es ist mir nicht bekannt, daß die an traumatischer
Neurose Krankenden sich im Wachleben viel mit der Erin-
nerung an ihren Unfall beschäftigen. Vielleicht bemühen sie
sich eher, nicht an ihn zu denken. Wenn man es als selbst-
verständlich hinnimmt, daß der nächtliche Traum sie wieder
in die krankmachende Situation versetzt, so verkennt man
die Natur des Traumes. Dieser würde es eher entsprechen,
dem Kranken Bilder aus der Zeit der Gesundheit oder der
erhofften Genesung vorzuführen. Sollen wir durch die
Träume der Unfallsneurotiker nicht an der wunscherfüllendenS.
186
Tendenz des Traumes irre werden, so bleibt uns etwa
noch die Auskunft, bei diesem Zustand sei wie so vieles
andere auch die Traumfunktion erschüttert und von ihren
Absichten abgelenkt worden, oder wir müßten der rätsel-
haften masochistischen Tendenzen des Ichs gedenken.Ich mache nun den Vorschlag, das dunkle und düstere
Thema der traumatischen Neurose zu verlassen und die
Arbeitsweise des seelischen Apparates an einer seiner früh-
zeitigsten normalen Betätigungen zu studieren. Ich meine
das Kinderspiel.Die verschiedenen Theorien des Kinderspieles sind erst
kürzlich von S. Pfeifer in der „Imago“ (V/4) zusammen-
gestellt und analytisch gewürdigt worden; ich kann hier auf
diese Arbeit verweisen. Diese Theorien bemühen sich, die
Motive des Spielens der Kinder zu erraten, ohne daß dabei
der ökonomische Gesichtspunkt, die Rücksicht auf Lust-
gewinn, in den Vordergrund gerückt würde. Ich habe, ohne
das Ganze dieser Erscheinungen umfassen zu wollen, eine
Gelegenheit ausgenützt, die sich mir bot, um das erste selbst-
geschaffene Spiel eines Knaben im Alter von 1½ Jahren
aufzuklären. Es war mehr als eine flüchtige Beobachtung,
denn ich lebte durch einige Wochen mit dem Kinde und
dessen Eltern unter einem Dach, und es dauerte ziemlich
lange, bis das rätselhafte und andauernd wiederholte Tun
mir seinen Sinn verriet.Das Kind war in seiner intellektuellen Entwicklung keines-
wegs voreilig, es sprach mit 1½ Jahren erst wenige ver-
ständliche Worte und verfügte außerdem über mehrere
bedeutungsvolle Laute, die von der Umgebung verstanden
wurden. Aber es war in gutem Rapport mit den Eltern und
dem einzigen Dienstmädchen und wurde wegen seines „an-
ständigen“ Charakters gelobt. Es störte die Eltern nicht zur
Nachtzeit, befolgte gewissenhaft die Verbote, manche GegenständeS.
187
zu berühren und in gewisse Räume zu gehen, und
vor allem anderen, es weinte nie, wenn die Mutter es für
Stunden verließ, obwohl es dieser Mutter zärtlich anhing,
die das Kind nicht nur selbst genährt, sondern auch ohne
jede fremde Beihilfe gepflegt und betreut hatte. Dieses brave
Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle
kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von
sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu schleudern,
so daß das Zusammensuchen seines Spielzeuges oft keine
leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von
Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes
o‑o‑o‑o hervor, das nach dem übereinstimmenden Urteil
der Mutter und des Beobachters keine Interjektion war, son-
dern „Fort“ bedeutete. Ich merkte endlich, daß das ein Spiel
sei, und daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu be-
nütze, mit ihnen „fortsein“ zu spielen. Eines Tages machte
ich dann die Beobachtung, die meine Auffassung bestätigte.
Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden
umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am
Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen,
sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem
Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so
daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles
o‑o‑o‑o und zog dann die Spule am Faden wieder aus
dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit
einem freudigen „Da“. Das war also das komplette Spiel,
Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur
den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich
allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere
Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing3.3) Diese Deutung wurde dann durch eine weitere Beobachtung
völlig gesichert. Als eines Tages die Mutter über viele Stunden
abwesend gewesen war, wurde sie beim Wiederkommen mit derS.
188
Die Deutung des Spieles lag dann nahe. Es war im Zu-
sammenhang mit der großen kulturellen Leistung des Kin-
des, mit dem von ihm zustande gebrachten Triebverzicht
(Verzicht auf Triebbefriedigung), das Fortgehen der Mutter
ohne Sträuben zu gestatten. Es entschädigte sich gleichsam
dafür, indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen
mit den ihm erreichbaren Gegenständen selbst in Szene
setzte. Für die affektive Einschätzung dieses Spieles ist es
natürlich gleichgültig, ob das Kind es selbst erfunden oder
sich infolge einer Anregung zu eigen gemacht hatte. Unser
Interesse wird sich einem anderen Punkte zuwenden. Das
Fortgehen der Mutter kann dem Kinde unmöglich angenehm
oder auch nur gleichgültig gewesen sein. Wie stimmt es also
zum Lustprinzip, daß es dieses ihm peinliche Erlebnis als
Spiel wiederholt? Man wird vielleicht antworten wollen,
das Fortgehen müßte als Vorbedingung des erfreulichen
Wiedererscheinens gespielt werden, im letzteren sei die
eigentliche Spielabsicht gelegen. Dem würde die Beobachtung
widersprechen, daß der erste Akt, das Fortgehen, für sich
allein als Spiel inszeniert wurde, und zwar ungleich häufiger
als das zum lustvollen Ende fortgeführte Ganze.Die Analyse eines solchen einzelnen Falles ergibt keine
sichere Entscheidung; bei unbefangener Betrachtung gewinnt
man den Eindruck, daß das Kind das Erlebnis aus einem
anderen Motiv zum Spiel gemacht hat. Es war dabei passiv,
wurde vom Erlebnis betroffen und bringt sich nun in eine
aktive Rolle, indem es dasselbe, trotzdem es unlustvoll war,
als Spiel wiederholt. Dieses Bestreben könnte man einemMitteilung begrüßt: Bebi o‑o‑o‑o!, die zunächst unverständ-
lich blieb. Es ergab sich aber bald, daß das Kind während dieses
langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst ver-
schwinden zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden
reichenden Standspiegel entdeckt und sich dann niedergekauert,
so daß das Spiegelbild „fort“ war.S.
189
Bemächtigungstrieb zurechnen, der sich davon unabhängig
macht, ob die Erinnerung an sich lustvoll war oder nicht.
Man kann aber auch eine andere Deutung versuchen. Das
Wegwerfen des Gegenstandes, so daß er fort ist, könnte die
Befriedigung eines im Leben unterdrückten Racheimpulses
gegen die Mutter sein, weil sie vom Kinde fortgegangen ist,
und dann die trotzige Bedeutung haben: Ja, geh’ nur fort,
ich brauch’ dich nicht, ich schick’ dich selber weg. Dasselbe
Kind, das ich mit 1½ Jahren bei seinem ersten Spiel beob-
achtete, pflegte ein Jahr später ein Spielzeug, über das es
sich geärgert hatte, auf den Boden zu werfen und dabei zu
sagen: Geh’ in K(r)ieg! Man hatte ihm damals erzählt, der
abwesende Vater befinde sich im Krieg, und es vermißte
den Vater gar nicht, sondern gab die deutlichsten Anzeichen
von sich, daß es im Alleinbesitz der Mutter nicht gestört
werden wolle4. Wir wissen auch von anderen Kindern, daß
sie ähnliche feindselige Regungen durch das Wegschleudern
von Gegenständen an Stelle der Personen auszudrücken ver-
mögen5. Man gerät so in Zweifel, ob der Drang, etwas
Eindrucksvolles psychisch zu verarbeiten, sich seiner voll zu
bemächtigen, sich primär und unabhängig vom Lustprinzip
äußern kann. Im hier diskutierten Falle könnte er einen
unangenehmen Eindruck doch nur darum im Spiel wieder-
holen, weil mit dieser Wiederholung ein andersartiger, aber
direkter Lustgewinn verbunden ist.Auch die weitere Verfolgung des Kinderspieles hilft die-
sem unserem Schwanken zwischen zwei Auffassungen nicht
ab. Man sieht, daß die Kinder alles im Spiele wiederholen,4) Als das Kind fünfdreiviertel Jahre alt war, starb die Mutter.
Jetzt, da sie wirklich „fort“ (o‑o‑o) war, zeigte der Knabe
keine Trauer um sie. Allerdings war inzwischen ein zweites Kind
geboren worden, das seine stärkste Eifersucht erweckt hatte.5) Vgl. Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahr-
heit“. Imago, V, 1917. (Ges. Schriften, Bd. X.)S.
190
was ihnen im Leben großen Eindruck gemacht hat, daß sie
dabei die Stärke des Eindruckes abreagieren und sich sozu-
sagen zu Herren der Situation machen. Aber anderseits ist
es klar genug, daß all ihr Spielen unter dem Einflusse des
Wunsches steht, der diese ihre Zeit dominiert, des Wunsches:
groß zu sein und so tun zu können wie die Großen. Man
macht auch die Beobachtung, daß der Unlustcharakter des
Erlebnisses es nicht immer für das Spiel unbrauchbar macht.
Wenn der Doktor dem Kinde in den Hals geschaut oder
eine kleine Operation an ihm ausgeführt hat, so wird dies
erschreckende Erlebnis ganz gewiß zum Inhalt des nächsten
Spieles werden, aber der Lustgewinn aus anderer Quelle ist
dabei nicht zu übersehen. Indem das Kind aus der Passivität
des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es
einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst
widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses
Stellvertreters.Aus diesen Erörterungen geht immerhin hervor, daß die
Annahme eines besonderen Nachahmungstriebes als Motiv
des Spielens überflüssig ist. Schließen wir noch die Mahnun-
gen an, daß das künstlerische Spielen und Nachahmen der
Erwachsenen, das zum Unterschied vom Verhalten des
Kindes auf die Person des Zuschauers zielt, diesem die
schmerzlichsten Eindrücke zum Beispiel in der Tragödie
nicht erspart und doch von ihm als hoher Genuß empfun-
den werden kann. Wir werden so davon überzeugt, daß es
auch unter der Herrschaft des Lustprinzips Mittel und Wege
genug gibt, um das an sich Unlustvolle zum Gegenstand der
Erinnerung und seelischen Bearbeitung zu machen. Mag sich
mit diesen, in endlichen Lustgewinn auslaufenden Fällen und
Situationen eine ökonomisch gerichtete Ästhetik befassen;
für unsere Absichten leisten sie nichts, denn sie setzen
Existenz und Herrschaft des Lustprinzips voraus und zeugenS.
191
nicht für die Wirksamkeit von Tendenzen jenseits des Lust-
prinzips, das heißt solcher, die ursprünglicher als dies und
von ihm unabhängig wären.III
Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich
gebracht, daß die nächsten Ziele der psychoanalytischen
Technik heute ganz andere sind als zu Anfang. Zuerst
konnte der analysierende Arzt nichts anderes anstreben, als
das dem Kranken verborgene Unbewußte zu erraten, zu-
sammenzusetzen und zur rechten Zeit mitzuteilen. Die
Psychoanalyse war vor allem eine Deutungskunst. Da die
therapeutische Aufgabe dadurch nicht gelöst war, trat so-
fort die nächste Absicht auf, den Kranken zur Bestätigung
der Konstruktion durch seine eigene Erinnerung zu nötigen.
Bei diesem Bemühen fiel das Hauptgewicht auf die Wider-
stände des Kranken; die Kunst war jetzt, diese baldigst
aufzudecken, dem Kranken zu zeigen und ihn durch
menschliche Beeinflussung (hier die Stelle für die als „Über-
tragung“ wirkende Suggestion) zum Aufgeben der Wider-
stände zu bewegen.Dann aber wurde es immer deutlicher, daß das gesteckte
Ziel, die Bewußtwerdung des Unbewußten, auch auf diesem
Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem
in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade
das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung
von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er
ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Er-
lebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es
lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern6.6) S. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse. II.
Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. (Ges. Schriften, Bd. VI.)S.
192
Diese mit unerwünschter Treue auftretende Reproduktion
hat immer ein Stück des infantilen Sexuallebens, also des
Ödipuskomplexes und seiner Ausläufer, zum Inhalt und
spielt sich regelmäßig auf dem Gebiete der Übertragung, das
heißt der Beziehung zum Arzt ab. Hat man es in der Be-
handlung so weit gebracht, so kann man sagen, die frühere
Neurose sei nun durch eine frische Übertragungsneurose er-
setzt. Der Arzt hat sich bemüht, den Bereich dieser Über-
tragungsneurose möglichst einzuschränken, möglichst viel in
die Erinnerung zu drängen und möglichst wenig zur Wieder-
holung zuzulassen. Das Verhältnis, das sich zwischen Er-
innerung und Reproduktion herstellt, ist für jeden Fall ein
anderes. In der Regel kann der Arzt dem Analysierten diese
Phase der Kur nicht ersparen; er muß ihn ein gewisses
Stück seines vergessenen Lebens wiedererleben lassen und hat
dafür zu sorgen, daß ein Maß von Überlegenheit erhalten
bleibt, kraft dessen die anscheinende Realität doch immer
wieder als Spiegelung einer vergessenen Vergangenheit er-
kannt wird. Gelingt dies, so ist die Überzeugung des Kran-
ken und der von ihr abhängige therapeutische Erfolg ge-
wonnen.Um diesen „Wiederholungszwang“, der sich
während der psychoanalytischen Behandlung der Neurotiker
äußert, begreiflicher zu finden, muß man sich vor allem von
dem Irrtum frei machen, man habe es bei der Bekämpfung
der Widerstände mit dem Widerstand des „Unbewußten“
zu tun. Das Unbewußte, das heißt das „Verdrängte“, leistet
den Bemühungen der Kur überhaupt keinen Widerstand, es
strebt ja selbst nichts anderes an, als gegen den auf ihm
lastenden Druck zum Bewußtsein oder zur Abfuhr durch
die reale Tat durchzudringen. Der Widerstand in der Kur
geht von denselben höheren Schichten und Systemen des
Seelenlebens aus, die seinerzeit die Verdrängung durchgeführtS.
193
haben. Da aber die Motive der Widerstände, ja diese
selbst erfahrungsgemäß in der Kur zunächst unbewußt sind,
werden wir gemahnt, eine Unzweckmäßigkeit unserer Aus-
drucksweise zu verbessern. Wir entgehen der Unklarheit,
wenn wir nicht das Bewußte und das Unbewußte, sondern
das zusammenhängende Ich und das Verdrängte in
Gegensatz zueinander bringen. Vieles am Ich ist sicherlich
selbst unbewußt, gerade das, was man den Kern des Ichs
nennen darf; nur einen geringen Teil davon decken wir mit
dem Namen des Vorbewußten. Nach dieser Ersetzung
einer bloß deskriptiven Ausdrucksweise durch eine syste-
matische oder dynamische können wir sagen, der Wider-
stand der Analysierten gehe von ihrem Ich aus, und dann
erfassen wir sofort, der Wiederholungszwang ist dem un-
bewußten Verdrängten zuzuschreiben. Er konnte sich wahr-
scheinlich nicht eher äußern, als bis die entgegenkommende
Arbeit der Kur die Verdrängung gelockert hatte7.Es ist kein Zweifel, daß der Widerstand des bewußten und
vorbewußten Ichs im Dienste des Lustprinzips steht, er will
ja die Unlust ersparen, die durch das Freiwerden des Ver-
drängten erregt würde, und unsere Bemühung geht dahin,
solcher Unlust unter Berufung auf das Realitätsprinzip Zu-
lassung zu erwirken. In welcher Beziehung zum Lustprinzip
steht aber der Wiederholungszwang, die Kraftäußerung des
Verdrängten? Es ist klar, daß das meiste, was der Wieder-
holungszwang wiedererleben läßt, dem Ich Unlust bringen
muß, denn er fördert ja Leistungen verdrängter Triebregun-
gen zutage, aber das ist Unlust, die wir schon gewürdigt
haben, die dem Lustprinzip nicht widerspricht, Unlust für7) Ich setze an anderer Stelle auseinander, daß es die
„Suggestionswirkung“ der Kur ist, welche hier dem Wieder-
holungszwang zu Hilfe kommt, also die tief im unbewußten
Elternkomplex begründete Gefügigkeit gegen den Arzt.S.
194
das eine System und gleichzeitig Befriedigung für das andere.
Die neue und merkwürdige Tatsache aber, die wir jetzt zu
beschreiben haben, ist, daß der Wiederholungszwang auch
solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine
Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedi-
gungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen,
gewesen sein können.Die Frühblüte des infantilen Sexuallebens war infolge der
Unverträglichkeit ihrer Wünsche mit der Realität und der
Unzulänglichkeit der kindlichen Entwicklungsstufe zum
Untergang bestimmt. Sie ging bei den peinlichsten Anlässen
unter tief schmerzlichen Empfindungen zugrunde. Der
Liebesverlust und das Mißlingen hinterließen eine dauernde
Beeinträchtigung des Selbstgefühls als narzißtische Narbe,
nach meinen Erfahrungen wie nach den Ausführungen
Marcinowskis8 den stärksten Beitrag zu dem häufigen
„Minderwertigkeitsgefühl“ der Neurotiker. Die Sexual-
forschung, der durch die körperliche Entwicklung des Kin-
des Schranken gesetzt werden, brachte es zu keinem be-
friedigenden Abschluß; daher die spätere Klage: Ich kann
nichts fertig bringen, mir kann nichts gelingen. Die zärt-
liche Bindung, meist an den gegengeschlechtlichen Elternteil,
erlag der Enttäuschung, dem vergeblichen Warten auf Be-
friedigung, der Eifersucht bei der Geburt eines neuen Kin-
des, die unzweideutig die Untreue des oder der Geliebten
erwies; der eigene mit tragischem Ernst unternommene Ver-
such, selbst ein solches Kind zu schaffen, mißlang in be-
schämender Weise; die Abnahme der dem Kleinen gespen-
deten Zärtlichkeit, der gesteigerte Anspruch der Erziehung,
ernste Worte und eine gelegentliche Bestrafung hatten end-
lich den ganzen Umfang der ihm zugefallenen Verschmähung8) Marcinowski, Die erotischen Quellen der Minder-
wertigkeitsgefühle. Zeitschrift für Sexualwissenschaft, IV. 1918.S.
195
enthüllt. Es gibt hier einige wenige Typen,
die regelmäßig wiederkehren, wie der typischen Liebe dieser
Kinderzeit ein Ende gesetzt wird.Alle diese unerwünschten Anlässe und schmerzlichen
Affektlagen werden nun vom Neurotiker in der Über-
tragung wiederholt und mit großem Geschick neu belebt.
Sie streben den Abbruch der unvollendeten Kur an, sie
wissen sich den Eindruck der Verschmähung wieder zu ver-
schaffen, den Arzt zu harten Worten und kühlem Benehmen
gegen sie zu nötigen, sie finden die geeigneten Objekte für
ihre Eifersucht, sie ersetzen das heiß begehrte Kind der
Urzeit durch den Vorsatz oder das Versprechen eines großen
Geschenkes, das meist ebensowenig real wird wie jenes.
Nichts von alledem konnte damals lustbringend sein; man
sollte meinen, es müßte heute die geringere Unlust bringen,
wenn es als Erinnerung oder in Träumen auftauchte, als
wenn es sich zu neuem Erlebnis gestaltete. Es handelt sich
natürlich um die Aktion von Trieben, die zur Befriedigung
führen sollten, allein die Erfahrung, daß sie anstatt dessen
auch damals nur Unlust brachten, hat nichts gefruchtet. Sie
wird trotzdem wiederholt; ein Zwang drängt dazu.Dasselbe, was die Psychoanalyse an den Übertragungs-
phänomenen der Neurotiker aufzeigt, kann man auch im
Leben nicht neurotischer Personen wiederfinden. Es macht
bei diesen den Eindruck eines sie verfolgenden Schicksals,
eines dämonischen Zuges in ihrem Erleben, und die Psycho-
analyse hat vom Anfang an solches Schicksal für zum großen
Teil selbst bereitet und durch frühinfantile Einflüsse deter-
miniert gehalten. Der Zwang, der sich dabei äußert, ist vom
Wiederholungszwang der Neurotiker nicht verschieden,
wenngleich diese Personen niemals die Zeichen eines durch
Symptombildung erledigten neurotischen Konflikts geboten
haben. So kennt man Personen, bei denen jede menschlicheS.
196
Beziehung den gleichen Ausgang nimmt: Wohltäter, die von
jedem ihrer Schützlinge nach einiger Zeit im Groll verlassen
werden, so verschieden diese sonst auch sein mögen, denen
also bestimmt scheint, alle Bitterkeit des Undankes auszu-
kosten; Männer, bei denen jede Freundschaft den Ausgang
nimmt, daß der Freund sie verrät; andere, die es unbe-
stimmt oft in ihrem Leben wiederholen, eine andere Person
zur großen Autorität für sich oder auch für die Öffentlich-
keit zu erheben, und diese Autorität dann nach abgemesse-
ner Zeit selbst stürzen, um sie durch eine neue zu ersetzen;
Liebende, bei denen jedes zärtliche Verhältnis zum Weibe
dieselben Phasen durchmacht und zum gleichen Ende führt
usw. Wir verwundern uns über diese „ewige Wiederkehr
des Gleichen“ nur wenig, wenn es sich um ein aktives Ver-
halten des Betreffenden handelt, und wenn wir den sich
gleichbleibenden Charakterzug seines Wesens auffinden, der
sich in der Wiederholung der nämlichen Erlebnisse äußern
muß. Weit stärker wirken jene Fälle auf uns, bei denen die
Person etwas passiv zu erleben scheint, worauf ihr ein Ein-
fluß nicht zusteht, während sie doch immer nur die Wieder-
holung desselben Schicksals erlebt. Man denke zum Beispiel
an die Geschichte jener Frau, die dreimal nacheinander
Männer heiratete, die nach kurzer Zeit erkrankten und von
ihr zu Tode gepflegt werden mußten9. Die ergreifendste
poetische Darstellung eines solchen Schicksalszuges hat
Tasso im romantischen Epos „Gerusalemme liberata“ ge-
geben. Held Tankred hat unwissentlich die von ihm geliebte
Clorinda getötet, als sie in der Rüstung eines feindlichen
Ritters mit ihm kämpfte. Nach ihrem Begräbnis dringt er in
den unheimlichen Zauberwald ein, der das Heer der Kreuzfahrer9) Vgl. hiezu die treffenden Bemerkungen in dem Aufsatz von
C. G. Jung. Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des
Einzelnen. Jahrbuch für Psychoanalyse. I. 1909.S.
197
schreckt. Dort zerhaut er einen hohen Baum mit
seinem Schwerte, aber aus der Wunde des Baumes strömt
Blut und die Stimme Clorindas, deren Seele in diesem Baum
gebannt war, klagt ihn an, daß er wiederum die Geliebte
geschädigt habe.Angesichts solcher Beobachtungen aus dem Verhalten in
der Übertragung und aus dem Schicksal der Menschen wer-
den wir den Mut zur Annahme finden, daß es im Seelen-
leben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich
über das Lustprinzip hinaussetzt. Wir werden auch jetzt
geneigt sein, die Träume der Unfallsneurotiker und den
Antrieb zum Spiel des Kindes auf diesen Zwang zu be-
ziehen. Allerdings müssen wir uns sagen, daß wir die Wir-
kungen des Wiederholungszwanges nur in seltenen Fällen
rein, ohne Mithilfe anderer Motive, erfassen können. Beim
Kinderspiel haben wir bereits hervorgehoben, welche andere
Deutungen seine Entstehung zuläßt. Wiederholungszwang
und direkte lustvolle Triebbefriedigung scheinen sich dabei
zu intimer Gemeinsamkeit zu verschränken. Die Phänomene
der Übertragung stehen offenkundig im Dienste des Wider-
standes von seiten des auf der Verdrängung beharrenden
Ichs; der Wiederholungszwang, den sich die Kur dienstbar
machen wollte, wird gleichsam vom Ich, das am Lust-
prinzip festhalten will, auf seine Seite gezogen. An dem,
was man den Schicksalszwang nennen könnte, scheint uns
vieles durch die rationelle Erwägung verständlich, so daß
man ein Bedürfnis nach der Aufstellung eines neuen ge-
heimnisvollen Motivs nicht verspürt. Am unverdächtigsten
ist vielleicht der Fall der Unfallsträume, aber bei näherer
Überlegung muß man doch zugestehen, daß auch in den
anderen Beispielen der Sachverhalt durch die Leistung der
uns bekannten Motive nicht gedeckt wird. Es bleibt genug
übrig, was die Annahme des Wiederholungszwanges rechtfertigt,S.
198
und dieser erscheint uns ursprünglicher, elementarer,
triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip.
Wenn es aber einen solchen Wiederholungszwang im Seeli-
schen gibt, so möchten wir gerne etwas darüber wissen, wel-
cher Funktion er entspricht, unter welchen Bedingungen er
hervortreten kann, und in welcher Beziehung er zum Lust-
prinzip steht, dem wir doch bisher die Herrschaft über den
Ablauf der Erregungsvorgänge im Seelenleben zugetraut
haben.IV
Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Speku-
lation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung
würdigen oder vernachlässigen wird. Im weiteren ein Ver-
such zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neu-
gierde, wohin dies führen wird.Die psychoanalytische Spekulation knüpft an den bei der
Untersuchung unbewußter Vorgänge empfangenen Eindruck
an, daß das Bewußtsein nicht der allgemeinste Charakter
der seelischen Vorgänge, sondern nur eine besondere Funk-
tion derselben sein könne. In metapsychologischer Aus-
drucksweise behauptet sie, das Bewußtsein sei die Leistung
eines besonderen Systems, das sie Bw benennt. Da das Be-
wußtsein im wesentlichen Wahrnehmungen von Erregungen
liefert, die aus der Außenwelt kommen, und Empfindungen
von Lust und Unlust, die nur aus dem Innern des seelischen
Apparates stammen können, kann dem System W‑Bw eine
räumliche Stellung zugewiesen werden. Es muß an der
Grenze von außen und innen liegen, der Außenwelt zuge-
kehrt sein und die anderen psychischen Systeme umhüllen.
Wir bemerken dann, daß wir mit diesen Annahmen nichtsS.
199
Neues gewagt, sondern uns der lokalisierenden Hirn-
anatomie angeschlossen haben, welche den „Sitz“ des Be-
wußtseins in die Hirnrinde, in die äußerste, umhüllende
Schicht des Zentralorgans verlegt. Die Hirnanatomie braucht
sich keine Gedanken darüber zu machen, warum – anato-
misch gesprochen – das Bewußtsein gerade an der Ober-
fläche des Gehirns untergebracht ist, anstatt wohlverwahrt
irgendwo im innersten Innern desselben zu hausen. Vielleicht
bringen wir es in der Ableitung einer solchen Lage für unser
System W‑Bw weiter.Das Bewußtsein ist nicht die einzige Eigentümlichkeit, die
wir den Vorgängen in diesem System zuschreiben. Wir
stützen uns auf die Eindrücke unserer psychoanalytischen
Erfahrung, wenn wir annehmen, daß alle Erregungsvor-
gänge in den anderen Systemen Dauerspuren als Grundlage
des Gedächtnisses in diesen hinterlassen, Erinnerungsreste
also, die nichts mit dem Bewußtwerden zu tun haben. Sie
sind oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurück-
lassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist.
Wir finden es aber beschwerlich zu glauben, daß solche
Dauerspuren der Erregung auch im System W-Bw zustande
kommen. Sie würden die Eignung des Systems zur Auf-
nahme neuer Erregungen sehr bald einschränken10, wenn sie
immer bewußt blieben; im anderen Falle, wenn sie un-
bewußt würden, stellten sie uns vor die Aufgabe, die
Existenz unbewußter Vorgänge in einem System zu er-
klären, dessen Funktionieren sonst vom Phänomen des Be-
wußtseins begleitet wird. Wir hätten sozusagen durch unsere
Annahme, welche das Bewußtwerden in ein besonderes
System verweist, nichts verändert und nichts gewonnen.10) Dies durchaus nach J. Breuers Auseinandersetzung im
theoretischen Abschnitt der „Studien über Hysterie“, 1895.S.
200
Wenn dies auch keine absolut verbindliche Erwägung sein
mag, so kann sie uns doch zur Vermutung bewegen, daß
Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für
dasselbe System miteinander unverträglich sind. Wir würden
so sagen können, im System Bw werde der Erregungsvor-
gang bewußt, hinterlasse aber keine Dauerspur; alle die
Spuren desselben, auf welche sich die Erinnerung stützt,
kämen bei der Fortpflanzung der Erregung auf die nächsten
inneren Systeme in diesen zustande. In diesem Sinne ist
auch das Schema entworfen, welches ich dem spekulativen
Abschnitt meiner „Traumdeutung“ 1900 eingefügt habe.
Wenn man bedenkt, wie wenig wir aus anderen Quellen
über die Entstehung des Bewußtseins wissen, wird man dem
Satze, das Bewußtsein entstehe an Stelle
der Erinnerungsspur, wenigstens die Bedeutung
einer irgendwie bestimmten Behauptung einräumen müssen.Das System Bw wäre also durch die Besonderheit ausge-
zeichnet, daß der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in
allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Ver-
änderung seiner Elemente hinterläßt, sondern gleichsam im
Phänomen des Bewußtwerdens verpufft. Eine solche Ab-
weichung von der allgemeinen Regel fordert eine Erklärung
durch ein Moment, welches ausschließlich bei diesem einen
System in Betracht kommt, und dies den anderen Systemen
abzusprechende Moment könnte leicht die exponierte Lage
des Systems Bw sein, sein unmittelbares Anstoßen an die
Außenwelt.Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größt-
möglichen Vereinfachung als undifferenziertes Bläschen reiz-
barer Substanz vor; dann ist seine der Außenwelt zu-
gekehrte Oberfläche durch ihre Lage selbst differenziert und
dient als reizaufnehmendes Organ. Die Embryologie als
Wiederholung der Entwicklungsgeschichte zeigt auch wirklich,S.
201
daß das Zentralnervensystem aus dem Ektoderm her-
vorgeht, und die graue Hirnrinde ist noch immer ein Ab-
kömmling der primitiven Oberfläche und könnte wesentliche
Eigenschaften derselben durch Erbschaft übernommen haben.
Es wäre dann leicht denkbar, daß durch unausgesetzten An-
prall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens
dessen Substanz bis in eine gewisse Tiefe dauernd verändert
wird, so daß ihr Erregungsvorgang anders abläuft als in
tieferen Schichten. Es bildete sich so eine Rinde, die end-
lich durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, daß sie
der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegen-
bringt und einer weiteren Modifikation nicht fähig ist. Auf
das System Bw übertragen, würde dies meinen, daß dessen
Elemente keine Dauerveränderung beim Durchgang der Er-
regung mehr annehmen können, weil sie bereits aufs äußerste
im Sinne dieser Wirkung modifiziert sind. Dann sind sie
aber befähigt, das Bewußtsein entstehen zu lassen. Worin
diese Modifikation der Substanz und des Erregungsvorganges
in ihr besteht, darüber kann man sich mancherlei Vorstel-
lungen machen, die sich derzeit der Prüfung entziehen. Man
kann annehmen, die Erregung habe bei ihrem Fortgang von
einem Element zum anderen einen Widerstand zu überwin-
den und diese Verringerung des Widerstandes setze eben die
Dauerspur der Erregung (Bahnung); im System Bw bestünde
also ein solcher Übergangswiderstand von einem Element
zum anderen nicht mehr. Man kann mit dieser Vorstellung
die Breuersche Unterscheidung von ruhender (gebunde-
ner) und frei beweglicher Besetzungsenergie in den Elemen-
ten der psychischen Systeme zusammenbringen11; die Ele-
mente des Systems Bw würden dann keine gebundene und11) Studien über Hysterie von J. Breuer und Freud,
4. unveränderte Auflage, 1922. (Ges. Schriften, Bd. I.)S.
202
nur frei abfuhrfähige Energie führen. Aber ich meine, vor-
läufig ist es besser, wenn man sich über diese Verhältnisse
möglichst unbestimmt äußert. Immerhin hätten wir durch
diese Spekulation die Entstehung des Bewußtseins in einen
gewissen Zusammenhang mit der Lage des Systems Bw und
den ihm zuzuschreibenden Besonderheiten des Erregungsvor-
ganges verflochten.An dem lebenden Bläschen mit seiner reizaufnehmenden
Rindenschichte haben wir noch anderes zu erörtern. Dieses
Stückchen lebender Substanz schwebt inmitten einer mit den
stärksten Energien geladenen Außenwelt und würde von
den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es
nicht mit einem Reizschutz versehen wäre. Es bekommt
ihn dadurch, daß seine äußerste Oberfläche die dem Leben-
den zukommende Struktur aufgibt, gewissermaßen anorga-
nisch wird und nun als eine besondere Hülle oder Membran
reizabhaltend wirkt, das heißt, veranlaßt, daß die Energien
der Außenwelt sich nun mit einem Bruchteil ihrer Intensität
auf die nächsten lebend gebliebenen Schichten fortsetzen
können. Dieser können nun hinter dem Reizschutz sich der
Aufnahme der durchgelassenen Reizmengen widmen. Die
Außenschicht hat aber durch ihr Absterben alle tieferen vor
dem gleichen Schicksal bewahrt, wenigstens so lange, bis
nicht Reize von solcher Stärke herankommen, daß sie den
Reizschutz durchbrechen. Für den lebenden Organismus ist
der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die
Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat aus-
gestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen
Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem
gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen,
draußen arbeitenden Energien zu bewahren. Die Reizauf-
nahme dient vor allem der Absicht, Richtung und Art der
äußeren Reize zu erfahren und dazu muß es genügen, derS.
203
Außenwelt kleine Proben zu entnehmen, sie in geringen
Quantitäten zu verkosten. Bei den hochentwickelten Orga-
nismen hat sich die reizaufnehmende Rindenschicht des ein-
stigen Bläschens längst in die Tiefe des Körperinnern zu-
rückgezogen, aber Anteile von ihr sind an der Oberfläche
unmittelbar unter dem allgemeinen Reizschutz zurückge-
lassen. Dies sind die Sinnesorgane, die im wesentlichen Ein-
richtungen zur Aufnahme spezifischer Reizeinwirkungen
enthalten, aber außerdem besondere Vorrichtungen zu neuer-
lichem Schutz gegen übergroße Reizmengen und zur Ab-
haltung unangemessener Reizarten. Es ist für sie charakte-
ristisch, daß sie nur sehr geringe Quantitäten des äußeren
Reizes verarbeiten, sie nehmen nur Stichproben der Außen-
welt vor; vielleicht darf man sie Fühlern vergleichen, die
sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder
von ihr zurückziehen.Ich gestatte mir, an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu
berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen
würde. Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige
Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser
psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen
werden. Wir haben erfahren, daß die unbewußten Seelen-
vorgänge an sich „zeitlos“ sind. Das heißt zunächst, daß sie
nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts von ihnen
verändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heran-
bringen kann. Es sind dies negative Charaktere, die man
sich nur durch Vergleichung mit den bewußten seelischen
Prozessen deutlich machen kann. Unsere abstrakte Zeit-
vorstellung scheint vielmehr durchaus von der Arbeitsweise
des Systems W‑Bw hergeholt zu sein und einer Selbstwahr-
nehmung derselben zu entsprechen. Bei dieser Funktionsweise
des Systems dürfte ein anderer Weg des Reizschutzes be-
schritten werden. Ich weiß, daß diese Behauptungen sehrS.
204
dunkel klingen, muß mich aber auf solche Andeutungen
beschränken.Wir haben bisher ausgeführt, daß das lebende Bläschen
mit einem Reizschutz gegen die Außenwelt ausgestattet ist.
Vorhin hatten wir festgelegt, daß die nächste Rindenschicht
desselben als Organ zur Reizaufnahme von außen differen-
ziert sein muß. Diese empfindliche Rindenschicht, das spätere
System Bw, empfängt aber auch Erregungen von innen her;
die Stellung des Systems zwischen außen und innen und die
Verschiedenheit der Bedingungen für die Einwirkung von der
einen und der anderen Seite werden maßgebend für die
Leistung des Systems und des ganzen seelischen Apparates.
Gegen außen gibt es einen Reizschutz, die ankommenden
Erregungsgrößen werden nur in verkleinertem Maßstab wir-
ken; nach innen zu ist der Reizschutz unmöglich, die Er-
regungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in
unverringertem Maße auf das System fort, indem gewisse
Charaktere ihres Ablaufes die Reihe der Lust‑Unlust-
empfindungen erzeugen. Allerdings werden die von innen
kommenden Erregungen nach ihrer Intensität und nach
anderen qualitativen Charakteren (eventuell nach ihrer
Amplitude) der Arbeitsweise des Systems adaequater sein
als die von der Außenwelt zuströmenden Reize. Aber
zweierlei ist durch diese Verhältnisse entscheidend bestimmt,
erstens die Praevalenz der Lust‑ und Unlustempfindungen,
die ein Index für Vorgänge im Innern des Apparates sind,
über alle äußeren Reize, und zweitens eine Richtung des
Verhaltens gegen solche innere Erregungen, welche allzu
große Unlustvermehrung herbeiführen. Es wird sich die
Neigung ergeben, sie so zu behandeln, als ob sie nicht von
innen, sondern von außen her einwirkten, um die Abwehr-
mittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu
können. Dies ist die Herkunft der Projektion, der eineS.
205
so große Rolle bei der Verursachung pathologischer Prozesse
vorbehalten ist.Ich habe den Eindruck, daß wir durch die letzten Über-
legungen die Herrschaft des Lustprinzips unserem Verständ-
nis angenähert haben; eine Aufklärung jener Fälle, die sich
ihm widersetzen, haben wir aber nicht erreicht. Gehen wir
darum einen Schritt weiter. Solche Erregungen von außen,
die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen
wir traumatische. Ich glaube, daß der Begriff des
Traumas eine solche Beziehung auf eine sonst wirksame Reiz-
abhaltung erfordert. Ein Vorkommnis wie das äußere Trauma
wird gewiß eine großartige Störung im Energiebetrieb des
Organismus hervorrufen und alle Abwehrmittel in Bewegung
setzen. Aber das Lustprinzip ist dabei zunächst außer Kraft
gesetzt. Die Überschwemmung des seelischen Apparates mit
großen Reizmengen ist nicht mehr hintanzuhalten; es ergibt
sich vielmehr eine andere Aufgabe, den Reiz zu bewältigen,
die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden, um
sie dann der Erledigung zuzuführen.Wahrscheinlich ist die spezifische Unlust des körperlichen
Schmerzes der Erfolg davon, daß der Reizschutz in be-
schränktem Umfange durchbrochen wurde. Von dieser Stelle
der Peripherie strömen dann dem seelischen Zentralapparat
kontinuierliche Erregungen zu, wie sie sonst nur aus dem
Innern des Apparates kommen konnten12. Und was können
wir als die Reaktion des Seelenlebens auf diesen Einbruch
erwarten? Von allen Seiten her wird die Besetzungsenergie
aufgeboten, um in der Umgebung der Einbruchsstelle ent-
sprechend hohe Energiebesetzungen zu schaffen. Es wird eine
großartige „Gegenbesetzung“ hergestellt, zu deren Gunsten
alle anderen psychischen Systeme verarmen, so daß eine ausgedehnte12) Vgl. Triebe und Triebschicksale. (S. 58 ff dieses Bandes.)
S.
206
Lähmung oder Herabsetzung der sonstigen psy-
chischen Leistung erfolgt. Wir suchen aus solchen Beispielen
zu lernen, unsere metapsychologischen Vermutungen an
solche Vorbilder anzulehnen. Wir ziehen also aus diesem
Verhalten den Schluß, daß ein selbst hochbesetztes System
imstande ist, neu hinzukommende strömende Energie auf-
zunehmen, sie in ruhende Besetzung umzuwandeln, also sie
psychisch zu „binden“. Je höher die eigene ruhende Be-
setzung ist, desto größer wäre auch ihre bindende Kraft;
umgekehrt also, je niedriger seine Besetzung ist, desto weniger
wird das System für die Aufnahme zuströmender Energie
befähigt sein, desto gewaltsamer müssen dann die Folgen
eines solchen Durchbruches des Reizschutzes sein. Man wird
gegen diese Auffassung nicht mit Recht einwenden, daß die
Erhöhung der Besetzung um die Einbruchsstelle sich weit
einfacher aus der direkten Fortleitung der ankommenden
Erregungsmengen erkläre. Wenn dem so wäre, so würde der
seelische Apparat ja nur eine Vermehrung seiner Energie-
besetzungen erfahren, und der lähmende Charakter des
Schmerzes, die Verarmung aller anderen Systeme bliebe un-
aufgeklärt. Auch die sehr heftigen Abfuhrwirkungen des
Schmerzes stören unsere Erklärung nicht, denn sie gehen
reflektorisch vor sich, das heißt, sie erfolgen ohne Vermitt-
lung des seelischen Apparats. Die Unbestimmtheit all unserer
Erörterungen, die wir metapsychologische heißen, rührt
natürlich daher, daß wir nichts über die Natur des Er-
regungsvorganges in den Elementen der psychischen Systeme
wissen und uns zu keiner Annahme darüber berechtigt fühlen.
So operieren wir also stets mit einem großen X, welches
wir in jede neue Formel mit hinübernehmen. Daß dieser
Vorgang sich mit quantitativ verschiedenen Energien voll-
zieht, ist eine leicht zulässige Forderung, daß er auch mehr
als eine Qualität (zum Beispiel in der Art einer Amplitude)S.
207
hat, mag uns wahrscheinlich sein; als neu haben wir die
Aufstellung Breuers in Betracht gezogen, daß es sich um
zweierlei Formen der Energieerfüllung handelt, so daß eine
freiströmende, nach Abfuhr drängende, und eine ruhende
Besetzung der psychischen Systeme (oder ihrer Elemente) zu
unterscheiden ist. Vielleicht geben wir der Vermutung Raum,
daß die „Bindung“ der in den seelischen Apparat ein-
strömenden Energie in einer Überführung aus dem frei
strömenden in den ruhenden Zustand besteht.Ich glaube, man darf den Versuch wagen, die gemeine
traumatische Neurose als die Folge eines ausgiebigen Durch-
bruchs des Reizschutzes aufzufassen. Damit wäre die alte,
naive Lehre vom Schock in ihre Rechte eingesetzt, an-
scheinend im Gegensatz zu einer späteren und psychologisch
anspruchsvolleren, welche nicht der mechanischen Gewalt-
einwirkung, sondern dem Schreck und der Lebensbedrohung
die ätiologische Bedeutung zuspricht. Allein diese Gegen-
sätze sind nicht unversöhnlich, und die psychoanalytische
Auffassung der traumatischen Neurose ist mit der rohesten
Form der Schocktheorie nicht identisch. Versetzt letztere das
Wesen des Schocks in die direkte Schädigung der molekularen
Struktur, oder selbst der histologischen Struktur der nervösen
Elemente, so suchen wir dessen Wirkung aus der Durch-
brechung des Reizschutzes für das Seelenorgan und aus den
daraus sich ergebenden Aufgaben zu verstehen. Der Schreck
behält seine Bedeutung auch für uns. Seine Bedingung ist das
Fehlen der Angstbereitschaft, welche die Überbesetzung der
den Reiz zunächst aufnehmenden Systeme miteinschließt.
Infolge dieser niedrigeren Besetzung sind die Systeme dann
nicht gut imstande, die ankommenden Erregungsmengen zu
binden, die Folgen der Durchbrechung des Reizschutzes stellen
sich um so vieles leichter ein. Wir finden so, daß die Angst-
bereitschaft mit der Überbesetzung der aufnehmenden SystemeS.
208
die letzte Linie des Reizschutzes darstellt. Für eine ganze
Anzahl von Traumen mag der Unterschied zwischen den
unvorbereiteten und den durch Überbesetzung vorbereiteten
Systemen das für den Ausgang entscheidende Moment sein;
von einer gewissen Stärke des Traumas an wird er wohl
nicht mehr ins Gewicht fallen. Wenn die Träume der Unfalls-
neurotiker die Kranken so regelmäßig in die Situation des
Unfalles zurückführen, so dienen sie damit allerdings nicht
der Wunscherfüllung, deren halluzinatorische Herbeiführung
ihnen unter der Herrschaft des Lustprinzips zur Funktion
geworden ist. Aber wir dürfen annehmen, daß sie sich
dadurch einer anderen Aufgabe zur Verfügung stellen, deren
Lösung vorangehen muß, ehe das Lustprinzip seine Herr-
schaft beginnen kann. Diese Träume suchen die Reiz-
bewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren
Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose ge-
worden ist. Sie geben uns so einen Ausblick auf eine Funktion
des seelischen Apparats, welche, ohne dem Lustprinzip zu
widersprechen, doch unabhängig von ihm ist und ursprüng-
licher scheint als die Absicht des Lustgewinns und der
Unlustvermeidung.Hier wäre also die Stelle, zuerst eine Ausnahme von dem
Satze, der Traum ist eine Wunscherfüllung, zuzugestehen.
Die Angstträume sind keine solche Ausnahme, wie ich wieder-
holt und eingehend gezeigt habe, auch die „Strafträume“
nicht, denn diese setzen nur an die Stelle der verpönten
Wunscherfüllung die dafür gebührende Strafe, sind also die
Wunscherfüllung des auf den verworfenen Trieb reagierenden
Schuldbewußtseins. Aber die obenerwähnten Träume der
Unfallsneurotiker lassen sich nicht mehr unter den Gesichts-
punkt der Wunscherfüllung bringen, und ebensowenig die in
den Psychoanalysen vorfallenden Träume, die uns die Er-
innerung der psychischen Traumen der Kindheit wiederbringen.S.
209
Sie gehorchen vielmehr dem Wiederholungszwang,
der in der Analyse allerdings durch den von der „Suggestion“
geförderten Wunsch, das Vergessene und Verdrängte herauf-
zubeschwören, unterstützt wird. So wäre also auch die Funk-
tion des Traumes, Motive zur Unterbrechung des Schlafes
durch Wunscherfüllung der störenden Regungen zu beseitigen,
nicht seine ursprüngliche; er konnte sich ihrer erst bemäch-
tigen, nachdem das gesamte Seelenleben die Herrschaft des
Lustprinzips angenommen hatte. Gibt es ein „Jenseits des
Lustprinzips“, so ist es folgerichtig, auch für die wunsch-
erfüllende Tendenz des Traumes eine Vorzeit zuzulassen.
Damit wird seiner späteren Funktion nicht widersprochen.
Nur erhebt sich, wenn diese Tendenz einmal durchbrochen
ist, die weitere Frage: Sind solche Träume, welche im Inter-
esse der psychischen Bindung traumatischer Eindrücke dem
Wiederholungszwange folgen, nicht auch außerhalb der
Analyse möglich? Dies ist durchaus zu bejahen.Von den „Kriegsneurosen“, soweit diese Bezeichnung mehr
als die Beziehung zur Veranlassung des Leidens bedeutet,
habe ich an anderer Stelle ausgeführt, daß sie sehr wohl
traumatische Neurosen sein könnten, die durch einen Ich-
konflikt erleichtert worden sind13. Die auf Seite 185 er-
wähnte Tatsache, daß eine gleichzeitige grobe Verletzung
durch das Trauma die Chance für die Entstehung einer Neu-
rose verringert, ist nicht mehr unverständlich, wenn man
zweier von der psychoanalytischen Forschung betonter Ver-
hältnisse gedenkt. Erstens, daß mechanische Erschütterung
als eine der Quellen der Sexualerregung anerkannt werden
muß (vgl. die Bemerkungen über die Wirkung des Schaukelns
und Eisenbahnfahrens in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“13) Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Einleitung. Inter-
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. I, 1919. (Ges. Schriften,
Bd. XI.)S.
210
Ges. Schriften, Bd. V), und zweitens, daß dem
schmerzhaften und fieberhaften Kranksein während seiner
Dauer ein mächtiger Einfluß auf die Verteilung der Libido
zukommt. So würde also die mechanische Gewalt des Traumas
das Quantum Sexualerregung frei machen, welches infolge
der mangelnden Angstvorbereitung traumatisch wirkt, die
gleichzeitige Körperverletzung würde aber durch die An-
spruchnahme einer narzißtischen Überbesetzung des leidenden
Organs den Überschuß an Erregung binden (siehe „Zur Ein-
führung des Narzißmus“, S. 25 ff dieses Bandes). Es ist
auch bekannt, aber für die Libidotheorie nicht genügend
verwertet worden, daß so schwere Störungen in der Libido-
verteilung wie die einer Melancholie durch eine interkurrente
organische Erkrankung zeitweilig aufgehoben werden, ja, daß
sogar der Zustand einer voll entwickelten Dementia praecox
unter der nämlichen Bedingung einer vorübergehenden Rück-
bildung fähig ist.V
Der Mangel eines Reizschutzes für die reizaufnehmende
Rindenschicht gegen Erregungen von innen her wird die
Folge haben müssen, daß diese Reizübertragungen die größere
ökonomische Bedeutung gewinnen und häufig zu ökonomi-
schen Störungen Anlaß geben, die den traumatischen Neu-
rosen gleichzustellen sind. Die ausgiebigsten Quellen solch
innerer Erregung sind die sogenannten Triebe des Organis-
mus, die Repräsentanten aller aus dem Körperinnern stam-
menden, auf den seelischen Apparat übertragenen Kraft-
wirkungen, selbst das wichtigste wie das dunkelste Element
der psychologischen Forschung.Vielleicht finden wir die Annahme nicht zu gewagt, daß
die von den Trieben ausgehenden Regungen nicht den TypusS.
211
des gebundenen, sondern den des frei beweglichen, nach
Abfuhr drängenden Nervenvorganges einhalten. Das Beste,
was wir über diese Vorgänge wissen, rührt aus dem Studium
der Traumarbeit her. Dabei fanden wir, daß die Prozesse
in den unbewußten Systemen von denen in den (vor‑)be-
wußten gründlich verschieden sind, daß im Unbewußten
Besetzungen leicht vollständig übertragen, verschoben, ver-
dichtet werden können, was nur fehlerhafte Resultate er-
geben könnte, wenn es an vorbewußtem Material geschähe,
und was darum auch die bekannten Sonderbarkeiten des
manifesten Traums ergibt, nachdem die vorbewußten Tages-
reste die Bearbeitung nach den Gesetzen des Unbewußten
erfahren haben. Ich nannte die Art dieser Prozesse im Unbe-
wußten den psychischen „Primärvorgang“ zum Unterschied
von dem für unser normales Wachleben gültigen Sekundär-
vorgang. Da die Triebregungen alle an den unbewußten
Systemen angreifen, ist es kaum eine Neuerung, zu sagen,
daß sie dem Primärvorgang folgen, und anderseits gehört
wenig dazu, um den psychischen Primärvorgang mit der frei
beweglichen Besetzung, den Sekundärvorgang mit den Ver-
änderungen an der gebundenen oder tonischen Besetzung
Breuers zu identifizieren14. Es wäre dann die Aufgabe
der höheren Schichten des seelischen Apparates, die im
Primärvorgang anlangende Erregung der Triebe zu binden.
Das Mißglücken dieser Bindung würde eine der traumatischen
Neurose analoge Störung hervorrufen; erst nach erfolgter
Bindung könnte sich die Herrschaft des Lustprinzips (und
seiner Modifikation zum Realitätsprinzip) ungehemmt durch-
setzen. Bis dahin aber würde die andere Aufgabe des Seelen-
apparates, die Erregung zu bewältigen oder zu binden, vor-
anstehen, zwar nicht im Gegensatz zum Lustprinzip, aber14) Vgl. den Abschnitt VII, Psychologie der Traumvorgänge in
meiner „Traumdeutung“. (Ges. Schriften, Bd. II.)S.
212
unabhängig von ihm und zum Teil ohne Rücksicht auf
dieses.Die Äußerungen eines Wiederholungszwanges, die wir an
den frühen Tätigkeiten des kindlichen Seelenlebens wie an
den Erlebnissen der psychoanalytischen Kur beschrieben
haben, zeigen im hohen Grade den triebhaften, und wo sie
sich im Gegensatz zum Lustprinzip befinden, den dämonischen
Charakter. Beim Kinderspiel glauben wir es zu begreifen,
daß das Kind auch das unlustvolle Erlebnis darum wieder-
holt, weil es sich durch seine Aktivität eine weit gründ-
lichere Bewältigung des starken Eindruckes erwirbt, als beim
bloß passiven Erleben möglich war. Jede neuerliche Wieder-
holung scheint diese angestrebte Beherrschung zu verbessern,
und auch bei lustvollen Erlebnissen kann sich das Kind an
Wiederholungen nicht genug tun und wird unerbittlich auf
der Identität des Eindruckes bestehen. Dieser Charakterzug
ist dazu bestimmt, späterhin zu verschwinden. Ein zum
zweitenmal angehörter Witz wird fast wirkungslos bleiben,
eine Theateraufführung wird nie mehr zum zweitenmal den
Eindruck erreichen, den sie das erstemal hinterließ; ja, der
Erwachsene wird schwer zu bewegen sein, ein Buch, das
ihm sehr gefallen hat, sobald nochmals durchzulesen. Immer
wird die Neuheit die Bedingung des Genusses sein. Das Kind
aber wird nicht müde werden, vom Erwachsenen die Wieder-
holung eines ihm gezeigten oder mit ihm angestellten Spieles
zu verlangen, bis dieser erschöpft es verweigert, und wenn
man ihm eine schöne Geschichte erzählt hat, will es immer
wieder die nämliche Geschichte, anstatt einer neuen hören,
besteht unerbittlich auf der Identität der Wiederholung und
verbessert jede Abänderung, die sich der Erzähler zuschulden
kommen läßt, mit der er sich vielleicht sogar ein neues Ver-
dienst erwerben wollte. Dem Lustprinzip wird dabei nicht
widersprochen; es ist sinnfällig, daß die Wiederholung, dasS.
213
Wiederfinden der Identität, selbst eine Lustquelle bedeutet.
Beim Analysierten hingegen wird es klar, daß der Zwang,
die Begebenheiten seiner infantilen Lebensperiode in der
Übertragung zu wiederholen, sich in jeder Weise über
das Lustprinzip hinaussetzt. Der Kranke benimmt sich dabei
völlig wie infantil und zeigt uns so, daß die verdrängten
Erinnerungsspuren seiner urzeitlichen Erlebnisse nicht im ge-
bundenen Zustande in ihm vorhanden, ja gewissermaßen des
Sekundärvorganges nicht fähig sind. Dieser Ungebundenheit
verdanken sie auch ihr Vermögen, durch Anheftung an die
Tagesreste eine im Traum darzustellende Wunschphantasie
zu bilden. Derselbe Wiederholungszwang tritt uns so oft als
therapeutisches Hindernis entgegen, wenn wir zu Ende der
Kur die völlige Ablösung vom Arzte durchsetzen wollen,
und es ist anzunehmen, daß die dunkle Angst der mit der
Analyse nicht Vertrauten, die sich scheuen irgend etwas
aufzuwecken, was man nach ihrer Meinung besser schlafen
ließe, im Grunde das Auftreten dieses dämonischen Zwanges
fürchtet.Auf welche Art hängt aber das Triebhafte mit dem Zwang
zur Wiederholung zusammen? Hier muß sich uns die Idee
aufdrängen, daß wir einem allgemeinen, bisher nicht klar
erkannten – oder wenigstens nicht ausdrücklich betonten –
Charakter der Triebe, vielleicht alles organischen Lebens
überhaupt, auf die Spur gekommen sind. Ein Trieb
wäre also ein dem belebten Organischen
innewohnender Drang zur Wiederher-
stellung eines früheren Zustandes, welchen
dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte auf-
geben mußte, eine Art von organischer Elastizität, oder wenn
man will, die Äußerung der Trägheit im organischen Leben.1515) Ich bezweifle nicht, daß ähnliche Vermutungen über die
Natur der „Triebe“ bereits wiederholt geäußert worden sind.S.
214
Diese Auffassung des Triebes klingt befremdlich, denn
wir haben uns daran gewöhnt, im Triebe das zur Verände-
rung und Entwicklung drängende Moment zu sehen, und
sollen nun das gerade Gegenteil in ihm erkennen, den Aus-
druck der konservativen Natur des Lebenden. Ander-
seits fallen uns sehr bald jene Beispiele aus dem Tierleben
ein, welche die historische Bedingtheit der Triebe zu be-
stätigen scheinen. Wenn gewisse Fische um die Laichzeit
beschwerliche Wanderungen unternehmen, um den Laich in
bestimmten Gewässern, weit entfernt von ihren sonstigen
Aufenthalten, abzulegen, so haben sie nach der Deutung
vieler Biologen nur die früheren Wohnstätten ihrer Art aufge-
sucht, die sie im Laufe der Zeit gegen andere vertauscht
hatten. Dasselbe soll für die Wanderflüge der Zugvögel
gelten, aber der Suche nach weiteren Beispielen enthebt uns
bald die Mahnung, daß wir in den Phänomenen der Erb-
lichkeit und in den Tatsachen der Embryologie die groß-
artigsten Beweise für den organischen Wiederholungszwang
haben. Wir sehen, der Keim eines lebenden Tieres ist ge-
nötigt, in seiner Entwicklung die Strukturen all der Formen,
von denen das Tier abstammt – wenn auch in flüchtiger
Abkürzung – zu wiederholen, anstatt auf dem kürzesten
Wege zu seiner definitiven Gestaltung zu eilen, und können
dies Verhalten nur zum geringsten Teile mechanisch er-
klären, dürfen die historische Erklärung nicht beiseite
lassen. Und ebenso erstreckt sich weit in die Tierreihe hinauf
ein Reproduktionsvermögen, welches ein verlorenes Organ
durch die Neubildung eines ihm durchaus gleichen ersetzt.Der naheliegende Einwand, es verhalte sich wohl so, daß
es außer den konservativen Trieben, die zur Wiederholung
nötigen, auch andere gibt, die zur Neugestaltung und zum
Fortschritt drängen, darf gewiß nicht unberücksichtigt
bleiben; er soll auch späterhin in unsere Erwägungen einbezogenS.
215
werden. Aber vorher mag es uns verlocken, die
Annahme, daß alle Triebe Früheres wiederherstellen wollen,
in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen. Mag, was dabei
herauskommt, den Anschein des „Tiefsinnigen“ erwecken
oder an Mystisches anklingen, so wissen wir uns doch von
dem Vorwurf frei, etwas Derartiges angestrebt zu haben.
Wir suchen nüchterne Resultate der Forschung oder der
auf sie gegründeten Überlegung, und unser Wunsch möchte
diesen keinen anderen Charakter als den der Sicherheit
verleihen16.Wenn also alle organischen Triebe konservativ, historisch
erworben und auf Regression, Wiederherstellung von
Früherem, gerichtet sind, so müssen wir die Erfolge der
organischen Entwicklung auf die Rechnung äußerer,
störender und ablenkender Einflüsse setzen. Das elementare
Lebewesen würde sich von seinem Anfang an nicht haben
ändern wollen, hätte unter sich gleichbleibenden Verhält-
nissen stets nur den nämlichen Lebenslauf wiederholt. Aber
im letzten Grunde müßte es die Entwicklungsgeschichte
unserer Erde und ihres Verhältnisses zur Sonne sein, die
uns in der Entwicklung der Organismen ihren Abdruck
hinterlassen hat. Die konservativen organischen Triebe haben
jede dieser aufgezwungenen Abänderungen des Lebenslaufes
aufgenommen und zur Wiederholung aufbewahrt und müssen
so den täuschenden Eindruck von Kräften machen, die nach
Veränderung und Fortschritt streben, während sie bloß ein
altes Ziel auf alten und neuen Wegen zu erreichen trachten.
Auch dieses Endziel alles organischen Strebens ließe sich
angeben. Der konservativen Natur der Triebe widerspräche16) Man möge nicht übersehen, daß das folgende die Entwick-
lung eines extremen Gedankenganges ist, der späterhin, wenn die
Sexualtriebe in Betracht gezogen werden, Einschränkung und Be-
richtigung findet.S.
216
es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter
Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangs-
zustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und
zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt.
Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen,
daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins An-
organische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das
Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurück-
greifend: Das Leblose war früher da als das
Lebende.Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine
noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften
des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang, vor-
bildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht
der lebenden Materie später das Bewußtsein entstehen ließ.
Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten
Stoff trachtete darnach sich abzugleichen; es war der erste
Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren. Die
damals lebende Substanz hatte das Sterben noch leicht, es
war wahrscheinlich nur ein kurzer Lebensweg zu durch-
laufen, dessen Richtung durch die chemische Struktur des
jungen Lebens bestimmt war. Eine lange Zeit hindurch mag
so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen wor-
den und leicht gestorben sein, bis sich maßgebende äußere
Einflüsse so änderten, daß sie die noch überlebende Substanz
zu immer größeren Ablenkungen vom ursprünglichen Lebens-
weg und zu immer komplizierteren Umwegen bis zur Er-
reichung des Todeszieles nötigten. Diese Umwege zum Tode,
von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten
uns heute das Bild der Lebenserscheinungen. Wenn man an
der ausschließlich konservativen Natur der Triebe festhält,
kann man zu anderen Vermutungen über Herkunft und Ziel
des Lebens nicht gelangen.S.
217
Ebenso befremdend wie diese Folgerungen klingt dann,
was sich für die großen Gruppen von Trieben ergibt, die
wir hinter den Lebenserscheinungen der Organismen
statuieren. Die Aufstellung der Selbsterhaltungstriebe, die wir
jedem lebenden Wesen zugestehen, steht in merkwürdigem
Gegensatz zur Voraussetzung, daß das gesamte Triebleben
der Herbeiführung des Todes dient. Die theoretische Bedeu-
tung der Selbsterhaltungs‑, Macht‑ und Geltungstriebe
schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partial-
triebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus
zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum
Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das
rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben
des Organismus sich aller Welt zum Trotz zu behaupten,
entfällt. Es erübrigt, daß der Organismus nur auf seine
Weise sterben will; auch diese Lebenswächter sind ursprüng-
lich Trabanten des Todes gewesen. Dabei kommt das
Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf
das energischeste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt,
die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem
Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies
Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegen-
satz zu einem intelligenten Streben.Aber besinnen wir uns, dem kann nicht so sein! In ein
ganz anderes Licht rücken die Sexualtriebe, für welche die
Neurosenlehre eine Sonderstellung in Anspruch genommen
hat. Nicht alle Organismen sind dem äußeren Zwang unter-
legen, der sie zu immer weiter gehender Entwicklung an-
trieb. Vielen ist es gelungen, sich auf ihrer niedrigen Stufe
bis auf die Gegenwart zu bewahren; es leben ja noch heute,
wenn nicht alle, so doch viele Lebewesen, die den Vorstufen
der höheren Tiere und Pflanzen ähnlich sein müssen. Und
ebenso machen nicht alle Elementarorganismen, welche denS.
218
komplizierten Leib eines höheren Lebewesens zusammen-
setzen, den ganzen Entwicklungsweg bis zum natürlichen
Tode mit. Einige unter ihnen, die Keimzellen, bewahren
wahrscheinlich die ursprüngliche Struktur der lebenden
Substanz und lösen sich, mit allen ererbten und neu erwor-
benen Triebanlagen beladen, nach einer gewissen Zeit vom
ganzen Organismus ab. Vielleicht sind es gerade diese beiden
Eigenschaften, die ihnen ihre selbständige Existenz ermög-
lichen. Unter günstige Bedingungen gebracht, beginnen sie
sich zu entwickeln, das heißt, das Spiel, dem sie ihre Ent-
stehung verdanken, zu wiederholen, und dies endet damit,
daß wieder ein Anteil ihrer Substanz die Entwicklung bis
zum Ende fortführt, während ein anderer als neuer Keim-
rest von neuem auf den Anfang der Entwicklung zurück-
greift. So arbeiten diese Keimzellen dem Sterben der lebenden
Substanz entgegen und wissen für sie zu erringen, was uns
als potentielle Unsterblichkeit erscheinen muß, wenn-
gleich es vielleicht nur eine Verlängerung des Todesweges
bedeutet. Im höchsten Grade bedeutungsvoll ist uns die Tat-
sache, daß die Keimzelle für diese Leistung durch die Ver-
schmelzung mit einer anderen, ihr ähnlichen und doch von
ihr verschiedenen, gekräftigt oder überhaupt erst befähigt
wird.Die Triebe, welche die Schicksale dieser das Einzelwesen
überlebenden Elementarorganismen in acht nehmen, für ihre
sichere Unterbringung sorgen, solange sie wehrlos gegen die
Reize der Außenwelt sind, ihr Zusammentreffen mit den
anderen Keimzellen herbeiführen usw., bilden die Gruppe
der Sexualtriebe. Sie sind in demselben Sinne konservativ
wie die anderen, indem sie frühere Zustände der lebenden
Substanz wiederbringen, aber sie sind es in stärkerem Maße,
indem sie sich als besonders resistent gegen äußere Einwir-
kungen erweisen, und dann noch in einem weiteren Sinne,S.
219
da sie das Leben selbst für längere Zeiten erhalten.17 Sie
sind die eigentlichen Lebenstriebe; dadurch, daß sie der
Absicht der anderen Triebe, welche durch die Funktion zum
Tode führt, entgegenwirken, deutet sich ein Gegensatz
zwischen ihnen und den übrigen an, den die Neurosenlehre
frühzeitig als bedeutungsvoll erkannt hat. Es ist wie ein
Zauderrhythmus im Leben der Organismen; die eine Trieb-
gruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens
möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer
gewissen Stelle dieses Weges zurück, um ihn von einem
bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer
des Weges zu verlängern. Aber wenn auch Sexualität und
Unterschied der Geschlechter zu Beginn des Lebens gewiß
nicht vorhanden waren, so bleibt es doch möglich, daß die
später als sexuell zu bezeichnenden Triebe von allem Anfang
an in Tätigkeit getreten sind und ihre Gegenarbeit gegen
das Spiel der „Ichtriebe“ nicht erst zu einem späteren Zeit-
punkte aufgenommen haben.18Greifen wir nun selbst ein erstes Mal zurück, um zu
fragen, ob nicht alle diese Spekulationen der Begründung
entbehren. Gibt es wirklich, abgesehen von den
Sexualtrieben, keine anderen Triebe als solche, die
einen früheren Zustand wiederherstellen wollen, nicht auch
andere, die nach einem noch nie erreichten streben? Ich
weiß in der organischen Welt kein sicheres Beispiel, das
unserer vorgeschlagenen Charakteristik widerspräche. Ein
allgemeiner Trieb zur Höherentwicklung in der Tier‑ und
Pflanzenwelt läßt sich gewiß nicht feststellen, wenn auch17) Und doch sind sie es, die wir allein für eine innere Tendenz
zum „Fortschritt“ und zur Höherentwicklung in Anspruch nehmen
können! (S. u.)18) Es sollte aus dem Zusammenhange verstanden werden, daß
„Ichtriebe“ hier als eine vorläufige Bezeichnung gemeint sind,
welche an die erste Namengebung der Psychoanalyse anknüpft.S.
220
eine solche Entwicklungsrichtung tatsächlich unbestritten
bleibt. Aber einerseits ist es vielfach nur Sache unserer Ein-
schätzung, wenn wir eine Entwicklungsstufe für höher als
eine andere erklären, und anderseits zeigt uns die Wissen-
schaft des Lebenden, daß Höherentwicklung in einem Punkte
sehr häufig durch Rückbildung in einem anderen erkauft
oder wettgemacht wird. Auch gibt es Tierformen genug,
deren Jugendzustände uns erkennen lassen, daß ihre Ent-
wicklung vielmehr einen rückschreitenden Charakter ge-
nommen hat. Höherentwicklung wie Rückbildung könnten
beide Folgen der zur Anpassung drängenden äußeren Kräfte
sein und die Rolle der Triebe könnte sich für beide Fälle
darauf beschränken, die aufgezwungene Veränderung als
innere Lustquelle festzuhalten19.Vielen von uns mag es auch schwer werden, auf den
Glauben zu verzichten, daß im Menschen selbst ein Trieb
zur Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige
Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht
hat, und von dem man erwarten darf, daß er seine Ent-
wicklung zum Übermenschen besorgen wird. Allein ich
glaube nicht an einen solchen inneren Trieb und sehe keinen
Weg, diese wohltuende Illusion zu schonen. Die bisherige
Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Er-
klärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man an
einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen
Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, läßt sich19) Auf anderem Wege ist Ferenczi zur Möglichkeit der-
selben Auffassung gelangt (Entwicklungsstufen des Wirklichkeits-
sinnes, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1913): „Bei
konsequenter Durchführung dieses Gedankenganges muß man sich
mit der Idee einer auch das organische Leben beherrschenden
Beharrungs‑, respektive Regressionstendenz vertraut machen,
während die Tendenz nach Fortentwicklung, Anpassung usw. nur
auf äußere Reize hin lebendig wird.“ (S. 137.)S.
221
ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf
welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur auf-
gebaut ist. Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner
vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung
eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz‑,
Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend,
um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der
Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten
Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches
bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren ge-
stattet, sondern nach des Dichters Worten „ungebändigt
immer vorwärts dringt“ (Mephisto im „Faust“, I, Studier-
zimmer). Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung,
ist in der Regel durch die Widerstände, welche die Ver-
drängungen aufrecht halten, verlegt, und somit bleibt nichts
anderes übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungs-
richtung fortzuschreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozeß
abschließen und das Ziel erreichen zu können. Die Vorgänge
bei der Ausbildung einer neurotischen Phobie, die ja nichts
anderes als ein Fluchtversuch vor einer Triebbefriedigung
ist, geben uns das Vorbild für die Entstehung dieses an-
scheinenden „Vervollkommnungstriebes“, den wir aber un-
möglich allen menschlichen Individuen zuschreiben können.
Die dynamischen Bedingungen dafür sind zwar ganz allge-
mein vorhanden, aber die ökonomischen Verhältnisse scheinen
das Phänomen nur in seltenen Fällen zu begünstigen.Nur mit einem Wort sei aber auf die Wahrscheinlichkeit
hingewiesen, daß das Bestreben des Eros, das Organische
zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen Ersatz
für den nicht anzuerkennenden „Vervollkommnungstrieb“
leistet. Im Verein mit den Wirkungen der Verdrängung
würde es die dem letzteren zugeschriebenen Phänomene
erklären können.S.
222
VI
Unser bisheriges Ergebnis, welches einen scharfen Gegen-
satz zwischen den „Ichtrieben“ und den Sexualtrieben auf-
stellt, die ersteren zum Tode und die letzteren zur Lebens-
fortsetzung drängen läßt, wird uns gewiß nach vielen Rich-
tungen selbst nicht befriedigen. Dazu kommt, daß wir eigent-
lich nur für die ersteren den konservativen oder besser
regredierenden, einem Wiederholungszwang entsprechenden
Charakter des Triebes in Anspruch nehmen konnten. Denn
nach unserer Annahme rühren die Ichtriebe von der Belebung
der unbelebten Materie her und wollen die Unbelebtheit
wieder herstellen. Die Sexualtriebe hingegen – es ist augen-
fällig, daß sie primitive Zustände des Lebewesens repro-
duzieren, aber ihr mit allen Mitteln angestrebtes Ziel ist die
Verschmelzung zweier in bestimmter Weise differenzierter
Keimzellen. Wenn diese Vereinigung nicht zustande kommt,
dann stirbt die Keimzelle wie alle anderen Elemente des
vielzelligen Organismus. Nur unter dieser Bedingung kann
die Geschlechtsfunktion das Leben verlängern und ihm den
Schein der Unsterblichkeit verleihen. Welches wichtige Er-
eignis im Entwicklungsgang der lebenden Substanz wird aber
durch die geschlechtliche Fortpflanzung oder ihren Vorläufer,
die Kopulation zweier Individuen unter den Protisten,
wiederholt? Das wissen wir nicht zu sagen, und darum
würden wir es als Erleichterung empfinden, wenn unser
ganzer Gedankenaufbau sich als irrtümlich erkennen ließe.
Der Gegensatz von Ich(Todes‑)trieben und Sexual(Lebens‑)trieben
würde dann entfallen, damit auch der Wiederholungs-
zwang die ihm zugeschriebene Bedeutung einbüßen.Kehren wir darum zu einer von uns eingeflochtenen An-
nahme zurück, in der Erwartung, sie werde sich exakt widerlegenS.
223
lassen. Wir haben auf Grund der Voraussetzung weitere
Schlüsse aufgebaut, daß alles Lebende aus inneren Ursachen
sterben müsse. Wir haben diese Annahme so sorglos ge-
macht, weil sie uns nicht als solche erscheint. Wir sind ge-
wohnt, so zu denken, unsere Dichter bestärken uns darin.
Vielleicht haben wir uns dazu entschlossen, weil ein Trost
in diesem Glauben liegt. Wenn man schon selbst sterben
und vorher seine Liebsten durch den Tod verlieren soll, so
will man lieber einem unerbittlichen Naturgesetz, der hehren
‚Ανάγκη‘ erlegen sein, als einem Zufall, der sich etwa
noch hätte vermeiden lassen. Aber vielleicht ist dieser Glaube
an die innere Gesetzmäßigkeit des Sterbens auch nur eine
der Illusionen, die wir uns geschaffen haben, „um die
Schwere des Daseins zu ertragen“. Ursprünglich ist er sicher-
lich nicht, den primitiven Völkern ist die Idee eines „natür-
lichen Todes“ fremd; sie führen jedes Sterben unter ihnen
auf den Einfluß eines Feindes oder eines bösen Geistes zurück.
Versäumen wir es darum nicht, uns zur Prüfung dieses
Glaubens an die biologische Wissenschaft zu wenden.Wenn wir so tun, dürfen wir erstaunt sein, wie wenig
die Biologen in der Frage des natürlichen Todes einig sind,
ja, daß ihnen der Begriff des Todes überhaupt unter den
Händen zerrinnt. Die Tatsache einer bestimmten durchschnitt-
lichen Lebensdauer wenigstens bei höheren Tieren spricht
natürlich für den Tod aus inneren Ursachen, aber der
Umstand, daß einzelne große Tiere und riesenhafte Baum-
gewächse ein sehr hohes und bisher nicht abschätzbares Alter
erreichen, hebt diesen Eindruck wieder auf. Nach der groß-
artigen Konzeption von W. Fließ sind alle Lebens-
erscheinungen – und gewiß auch der Tod – der Organismen
an die Erfüllung bestimmter Termine gebunden, in denen
die Abhängigkeit zweier lebenden Substanzen, einer männ-
lichen und einer weiblichen, vom Sonnenjahr zum AusdruckS.
224
kommt. Allein die Beobachtungen, wie leicht und bis zu
welchem Ausmaß es dem Einflusse äußerer Kräfte möglich
ist, die Lebensäußerungen insbesondere der Pflanzenwelt in
ihrem zeitlichen Auftreten zu verändern, sie zu verfrühen
oder hintanzuhalten, sträuben sich gegen die Starrheit der
Fließschen Formeln und lassen zum mindesten an der
Alleinherrschaft der von ihm aufgestellten Gesetze zweifeln.Das größte Interesse knüpft sich für uns an die Behand-
lung, welche das Thema von der Lebensdauer und vom
Tode der Organismen in den Arbeiten von A. Weismann
gefunden hat20. Von diesem Forscher rührt die Unter-
scheidung der lebenden Substanz in eine sterbliche und un-
sterbliche Hälfte her; die sterbliche ist der Körper im
engeren Sinne, das Soma, sie allein ist dem natürlichen Tode
unterworfen, die Keimzellen aber sind potentia unsterblich,
insofern sie imstande sind, unter gewissen günstigen Bedin-
gungen sich zu einem neuen Individuum zu entwickeln, oder
anders ausgedrückt, sich mit einem neuen Soma zu um-
geben21.Was uns hieran fesselt, ist die unerwartete Analogie mit
unserer eigenen, auf so verschiedenem Wege entwickelten
Auffassung. Weismann, der die lebende Substanz mor-
phologisch betrachtet, erkennt in ihr einen Bestandteil, der
dem Tode verfallen ist, das Soma, den Körper abgesehen
vom Geschlechts‑ und Vererbungsstoff, und einen unsterb-
lichen, eben dieses Keimplasma, welches der Erhaltung der
Art, der Fortpflanzung, dient. Wir haben nicht den lebenden
Stoff, sondern die in ihm tätigen Kräfte eingestellt, und sind
dazu geführt worden, zwei Arten von Trieben zu unter-
scheiden, jene, welche das Leben zum Tod führen wollen,20) Über die Dauer des Lebens, 1882; Über Leben und Tod, 1892;
Das Keimplasma, 1892, u. a.21) Über Leben und Tod, 2. Aufl. 1892, S. 20.
S.
225
die anderen, die Sexualtriebe, welche immer wieder die
Erneuerung des Lebens anstreben und durchsetzen. Das klingt
wie ein dynamisches Korollar zu Weismanns morpho-
logischer Theorie.Der Anschein einer bedeutsamen Übereinstimmung ver-
flüchtigt sich alsbald, wenn wir Weismanns Entschei-
dung über das Problem des Todes vernehmen. Denn Weis-
mann läßt die Sonderung von sterblichem Soma und un-
sterblichem Keimplasma erst bei den vielzelligen Organismen
gelten, bei den einzelligen Tieren sind Individuum und Fort-
pflanzungszelle noch ein‑ und dasselbe22. Die Einzelligen
erklärt er also für potentiell unsterblich, der Tod tritt erst
bei den Metazoen, den Vielzelligen, auf. Dieser Tod der
höheren Lebewesen ist allerdings ein natürlicher, ein Tod
aus inneren Ursachen, aber er beruht nicht auf einer Ur-
eigenschaft der lebenden Substanz23, kann nicht als eine
absolute, im Wesen des Lebens begründete Notwendigkeit
aufgefaßt werden24. Der Tod ist vielmehr eine Zweckmäßig-
keitseinrichtung, eine Erscheinung der Anpassung an die
äußeren Lebensbedingungen, weil von der Sonderung der
Körperzellen in Soma und Keimplasma an die unbegrenzte
Lebensdauer des Individuums ein ganz unzweckmäßiger
Luxus geworden wäre. Mit dem Eintritt dieser Differenzie-
rung bei den Vielzelligen wurde der Tod möglich und zweck-
mäßig. Seither stirbt das Soma der höheren Lebewesen aus
inneren Gründen zu bestimmten Zeiten ab, die Protisten
aber sind unsterblich geblieben. Die Fortpflanzung hingegen
ist nicht erst mit dem Tode eingeführt worden, sie ist viel-
mehr eine Ureigenschaft der lebenden Materie wie das
Wachstum, aus welchem sie hervorging, und das Leben ist22) Dauer des Lebens, S. 38.
23) Leben und Tod, 2. Aufl., S. 67.
24) Dauer des Lebens, S. 33.
S.
226
von seinem Beginn auf Erden an kontinuierlich geblieben25.
Es ist leicht einzusehen, daß das Zugeständnis eines natür-
lichen Todes für die höheren Organismen unserer Sache
wenig hilft. Wenn der Tod eine späte Erwerbung der Lebe-
wesen ist, dann kommen Todestriebe, die sich vom Beginn
des Lebens auf Erden ableiten, weiter nicht in Betracht.
Die Vielzelligen mögen dann immerhin aus inneren Gründen
sterben, an den Mängeln ihrer Differenzierung oder an den
Unvollkommenheiten ihres Stoffwechsels; es hat für die
Frage, die uns beschäftigt, kein Interesse. Eine solche Auf-
fassung und Ableitung des Todes liegt dem gewohnten Den-
ken der Menschen auch sicherlich viel näher als die befrem-
dende Annahme von „Todestrieben“.Die Diskussion, die sich an die Aufstellungen von Weis-
mann angeschlossen, hat nach meinem Urteil in keiner
Richtung Entscheidendes ergeben26. Manche Autoren sind
zum Standpunkt von Goette zurückgekehrt (1883), der
in dem Tod die direkte Folge der Fortpflanzung sah. Hart-
mann charakterisiert den Tod nicht durch Auftreten einer
„Leiche“, eines abgestorbenen Anteiles der lebenden Substanz,
sondern definiert ihn als den „Abschluß der individuellen
Entwicklung“. In diesem Sinne sind auch die Protozoen
sterblich, der Tod fällt bei ihnen immer mit der Fort-
pflanzung zusammen, aber er wird durch diese gewisser-
maßen verschleiert, indem die ganze Substanz des Eltern-
tieres direkt in die jungen Kinderindividuen übergeführt
werden kann (l. c., S. 29).Das Interesse der Forschung hat sich bald darauf gerichtet,
die behauptete Unsterblichkeit der lebenden Substanz an den25) Über Leben und Tod, Schluß.
26) Vgl. Max Hartmann, Tod und Fortpflanzung, 1906.
Alex. Lipschütz, Warum wir sterben, Kosmosbücher, 1914.
Franz Doflein, Das Problem des Todes und der Unsterblich-
keit bei den Pflanzen und Tieren, 1909.S.
227
Einzelligen experimentell zu erproben. Ein Amerikaner,
Woodruff, hat ein bewimpertes Infusorium, ein „Pan-
toffeltierchen“, das sich durch Teilung in zwei Individuen
fortpflanzt, in Zucht genommen und es bis zur 3029sten
Generation, wo er den Versuch abbrach, verfolgt, indem er
jedesmal das eine der Teilprodukte isolierte und in frisches
Wasser brachte. Dieser späte Abkömmling des ersten Pan-
toffeltierchens war ebenso frisch wie der Urahn, ohne alle
Zeichen des Alterns oder der Degeneration; somit schien,
wenn solchen Zahlen bereits Beweiskraft zukommt, die
Unsterblichkeit der Protisten experimentell erweisbar27.Andere Forscher sind zu anderen Resultaten gekommen.
Maupas, Calkins und andere haben im Gegensatz zu
Woodruff gefunden, daß auch diese Infusorien nach
einer gewissen Anzahl von Teilungen schwächer werden, an
Größe abnehmen, einen Teil ihrer Organisation einbüßen
und endlich sterben, wenn sie nicht gewisse auffrischende
Einflüsse erfahren. Demnach stürben die Protozoen nach einer
Phase des Altersverfalles ganz wie die höheren Tiere, so
recht im Widerspruch zu den Behauptungen Weismanns,
der den Tod als eine späte Erwerbung der lebenden Orga-
nismen anerkennt.Aus dem Zusammenhang dieser Untersuchungen heben wir
zwei Tatsachen heraus, die uns einen festen Anhalt zu bieten
scheinen. Erstens: Wenn die Tierchen zu einem Zeitpunkt,
da sie noch keine Altersveränderung zeigen, miteinander zu
zweit verschmelzen, „kopulieren“ können – worauf sie nach
einiger Zeit wieder auseinandergehen, – so bleiben sie vom
Alter verschont, sie sind „verjüngt“ worden. Diese Kopulation
ist doch wohl der Vorläufer der geschlechtlichen Fort-
pflanzung höherer Wesen; sie hat mit der Vermehrung noch27) Für dies und das Folgende vgl. Lipschütz l. c., S. 26
und 52 ff.S.
228
nichts zu tun, beschränkt sich auf die Vermischung der Sub-
stanzen beider Individuen (Weismanns Amphimixis).
Der auffrischende Einfluß der Kopulation kann aber auch
ersetzt werden durch bestimmte Reizmittel, Veränderungen
in der Zusammensetzung der Nährflüssigkeit, Temperatur-
steigerung oder Schütteln. Man erinnert sich an das berühmte
Experiment von J. Loeb, der Seeigeleier durch gewisse
chemische Reize zu Teilungsvorgängen zwang, die sonst nur
nach der Befruchtung auftreten.Zweitens: Es ist doch wahrscheinlich, daß die Infusorien
durch ihren eigenen Lebensprozeß zu einem natürlichen Tod
geführt werden, denn der Widerspruch zwischen den Er-
gebnissen von Woodruff und von anderen rührt daher,
daß Woodruff jede neue Generation in frische Nähr-
flüssigkeit brachte. Unterließ er dies, so beobachtete er die-
selben Altersveränderungen der Generationen wie die anderen
Forscher. Er schloß, daß die Tierchen durch die Produkte
des Stoffwechsels, die sie an die umgebende Flüssigkeit ab-
geben, geschädigt werden, und konnte dann überzeugend
nachweisen, daß nur die Produkte des eigenen Stoff-
wechsels diese zum Tod der Generation führende Wirkung
haben. Denn in einer Lösung, die mit den Abfallsprodukten
einer entfernter verwandten Art übersättigt war, gediehen
dieselben Tierchen ausgezeichnet, die, in ihrer eigenen Nähr-
flüssigkeit angehäuft, sicher zugrunde gingen. Das Infusor
stirbt also, sich selbst überlassen, eines natürlichen Todes an
der Unvollkommenheit der Beseitigung seiner eigenen Stoff-
wechselprodukte; aber vielleicht sterben auch alle höheren
Tiere im Grunde an dem gleichen Unvermögen.Es mag uns da der Zweifel anwandeln, ob es überhaupt
zweckdienlich war, die Entscheidung der Frage nach dem
natürlichen Tod im Studium der Protozoen zu suchen. Die
primitive Organisation dieser Lebewesen mag uns wichtigeS.
229
Verhältnisse verschleiern, die auch bei ihnen statthaben, aber
erst bei höheren Tieren erkannt werden können, wo sie sich
einen morphologischen Ausdruck verschafft haben. Wenn wir
den morphologischen Standpunkt verlassen, um den
dynamischen einzunehmen, so kann es uns überhaupt gleich-
gültig sein, ob sich der natürliche Tod der Protozoen er-
weisen läßt oder nicht. Bei ihnen hat sich die später als
unsterblich erkannte Substanz von der sterblichen noch in
keiner Weise gesondert. Die Triebkräfte, die das Leben in
den Tod überführen wollen, könnten auch in ihnen von
Anfang an wirksam sein, und doch könnte ihr Effekt durch
den der lebenserhaltenden Kräfte so gedeckt werden, daß ihr
direkter Nachweis sehr schwierig wird. Wir haben allerdings
gehört, daß die Beobachtungen der Biologen uns die An-
nahme solcher zum Tod führenden inneren Vorgänge auch
für die Protisten gestatten. Aber selbst wenn die Protisten
sich als unsterblich im Sinne von Weismann erweisen,
so gilt seine Behauptung, der Tod sei eine späte Erwerbung,
nur für die manifesten Äußerungen des Todes und macht
keine Annahme über die zum Tode drängenden Prozesse
unmöglich. Unsere Erwartung, die Biologie werde die An-
erkennung der Todestriebe glatt beseitigen, hat sich nicht
erfüllt. Wir können uns mit ihrer Möglichkeit weiter be-
schäftigen, wenn wir sonst Gründe dafür haben. Die auf-
fällige Ähnlichkeit der Weismannschen Sonderung von
Soma und Keimplasma mit unserer Scheidung der Todes-
triebe von den Lebenstrieben bleibt aber bestehen und erhält
ihren Wert wieder.Verweilen wir kurz bei dieser exquisit dualistischen Auf-
fassung des Trieblebens. Nach der Theorie E. Herings
von den Vorgängen in der lebenden Substanz laufen in ihr
unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung
ab, die einen aufbauend – assimilatorisch, die anderen abbauend –S.
230
dissimilatorisch. Sollen wir es wagen, in diesen
beiden Richtungen der Lebensprozesse die Betätigung unserer
beiden Triebregungen, der Lebenstriebe und der Todestriebe,
zu erkennen? Aber etwas anderes können wir uns nicht ver-
hehlen: daß wir unversehens in den Hafen der Philosophie
Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der Tod
„das eigentliche Resultat“ und insofern der Zweck des
Lebens ist28, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des
Willens zum Leben.Versuchen wir kühn, einen Schritt weiter zu gehen. Nach
allgemeiner Einsicht ist die Vereinigung zahlreicher Zellen
zu einem Lebensverband, die Vielzelligkeit der Organismen,
ein Mittel zur Verlängerung ihrer Lebensdauer geworden.
Eine Zelle hilft dazu, das Leben der anderen zu erhalten,
und der Zellenstaat kann weiter leben, auch wenn einzelne
Zellen absterben müssen. Wir haben bereits gehört, daß auch
die Kopulation, die zeitweilige Verschmelzung zweier Ein-
zelliger, lebenserhaltend und verjüngend auf beide wirkt.
Somit könnte man den Versuch machen, die in der Psycho-
analyse gewonnene Libidotheorie auf das Verhältnis der
Zellen zu einander zu übertragen und sich vorzustellen, daß
es die in jeder Zelle tätigen Lebens‑ oder Sexualtriebe sind,
welche die anderen Zellen zum Objekt nehmen, deren Todes-
triebe, das ist die von diesen angeregten Prozesse, teilweise
neutralisieren und sie so am Leben erhalten, während andere
Zellen dasselbe für sie besorgen und noch andere in der Aus-
übung dieser libidinösen Funktion sich selbst aufopfern. Die
Keimzellen selbst würden sich absolut „narzißtisch“ be-
nehmen, wie wir es in der Neurosenlehre zu bezeichnen ge-
wohnt sind, wenn ein ganzes Individuum seine Libido im
Ich behält und nichts von ihr für Objektbesetzungen verausgabt.28) „Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des
Einzelnen“, Großherzog Wilhelm Ernst‑Ausgabe, IV. Bd., S. 268.S.
231
Die Keimzellen brauchen ihre Libido, die Tätigkeit
ihrer Lebenstriebe, für sich selbst als Vorrat für ihre spätere,
großartig aufbauende Tätigkeit. Vielleicht darf man auch
die Zellen der bösartigen Neugebilde, die den Organismus
zerstören, für narzißtisch in demselben Sinne erklären. Die
Pathologie ist ja bereit, ihre Keime für mitgeboren zu halten
und ihnen embryonale Eigenschaften zuzugestehen. So würde
also die Libido unserer Sexualtriebe mit dem Eros der Dichter
und Philosophen zusammenfallen, der alles Lebende zu-
sammenhält.An dieser Stelle finden wir den Anlaß, die langsame Ent-
wicklung unserer Libidotheorie zu überschauen. Die Analyse
der Übertragungsneurosen zwang uns zunächst den Gegen-
satz zwischen „Sexualtrieben“, die auf das Objekt gerichtet
sind, und anderen Trieben auf, die wir nur sehr ungenügend
erkannten und vorläufig als „Ichtriebe“ bezeichneten. Unter
ihnen mußten Triebe, die der Selbsterhaltung des Individuums
dienen, in erster Linie anerkannt werden. Was für andere
Unterscheidungen da zu machen waren, konnte man nicht
wissen. Keine Kenntnis wäre für die Begründung einer rich-
tigen Psychologie so wichtig gewesen, wie eine ungefähre
Einsicht in die gemeinsame Natur und die etwaigen Besonder-
heiten der Triebe. Aber auf keinem Gebiete der Psycho-
logie tappte man so sehr im Dunkeln. Jedermann stellte so
viele Triebe oder „Grundtriebe“ auf, als ihm beliebte, und
wirtschaftete mit ihnen, wie die alten griechischen Natur-
philosophen mit ihren vier Elementen: dem Wasser, der
Erde, dem Feuer und der Luft. Die Psychoanalyse, die
irgend einer Annahme über die Triebe nicht entraten konnte,
hielt sich vorerst an die populäre Triebunterscheidung, für
die das Wort von „Hunger und Liebe“ vorbildlich ist. Es
war wenigstens kein neuer Willkürakt. Damit reichte man
in der Analyse der Psychoneurosen ein ganzes Stück weitS.
232
aus. Der Begriff der „Sexualität“ – und damit der eines
Sexualtriebes – mußte freilich erweitert werden, bis er vieles
einschloß, was sich nicht der Fortpflanzungsfunktion ein-
ordnete, und darüber gab es Lärm genug in der strengen,
vornehmen oder bloß heuchlerischen Welt.Der nächste Schritt erfolgte, als sich die Psychoanalyse
näher an das psychologische Ich herantasten konnte, das
ihr zunächst nur als verdrängende, zensurierende und zu
Schutzbauten, Reaktionsbildungen befähigte Instanz bekannt
geworden war. Kritische und andere weitblickende Geister
hatten zwar längst gegen die Einschränkung des Libido-
begriffes auf die Energie der dem Objekt zugewendeten
Sexualtriebe Einspruch erhoben. Aber sie versäumten es mit-
zuteilen, woher ihnen die bessere Einsicht gekommen war,
und verstanden nicht, etwas für die Analyse Brauchbares aus
ihr abzuleiten. In bedächtigerem Fortschreiten fiel es nun der
psychoanalytischen Beobachtung auf, wie regelmäßig Libido
vom Objekt abgezogen und aufs Ich gerichtet wird (Intro-
version), und indem sie die Libidoentwicklung des Kindes
in ihren frühesten Phasen studierte, kam sie zur Einsicht,
daß das Ich das eigentliche und ursprüngliche Reservoir der
Libido sei, die erst von da aus auf das Objekt erstreckt
werde. Das Ich trat unter die Sexualobjekte und wurde gleich
als das vornehmste unter ihnen erkannt. Wenn die Libido
so im Ich verweilte, wurde sie narzißtisch genannt29. Diese
narzißtische Libido war natürlich auch die Kraftäußerung
von Sexualtrieben im analytischen Sinne, die man mit den
von Anfang an zugestandenen „Selbsterhaltungstrieben“
identifizieren mußte. Somit war der ursprüngliche Gegen-
satz von Ichtrieben und Sexualtrieben unzureichend ge-
worden. Ein Teil der Ichtriebe war als libidinös erkannt;29) Zur Einführung des Narzißmus. (In diesem Bande.)
S.
233
im Ich waren – neben anderen wahrscheinlich – auch
Sexualtriebe wirksam, doch ist man berechtigt zu sagen, daß
die alte Formel, die Psychoneurose beruhe auf einem Konflikt
zwischen den Ichtrieben und den Sexualtrieben, nichts ent-
hielt, was heute zu verwerfen wäre. Der Unterschied der
beiden Triebarten, der ursprünglich irgendwie qualitativ
gemeint war, ist jetzt nur anders, nämlich topisch zu
bestimmen. Insbesondere die Übertragungsneurose, das eigent-
liche Studienobjekt der Psychoanalyse, bleibt das Ergebnis
eines Konflikts zwischen dem Ich und der libidinösen Objekt-
besetzung.Um so mehr müssen wir den libidinösen Charakter der
Selbsterhaltungstriebe jetzt betonen, da wir den weiteren
Schritt wagen, den Sexualtrieb als den alles erhaltenden
Eros zu erkennen und die narzißtische Libido des Ichs aus
den Libidobeiträgen ableiten, mit denen die Somazellen an-
einander haften. Nun aber finden wir uns plötzlich fol-
gender Frage gegenüber: Wenn auch die Selbsterhaltungs-
triebe libidinöser Natur sind, dann haben wir vielleicht
überhaupt keine anderen Triebe als libidinöse. Es sind
wenigstens keine anderen zu sehen. Dann muß man aber
doch den Kritikern recht geben, die von Anfang an
geahnt haben, die Psychoanalyse erkläre alles aus der
Sexualität, oder den Neuerern wie Jung, die, kurz ent-
schlossen, Libido für „Triebkraft“ überhaupt gebraucht
haben. Ist dem nicht so?In unserer Absicht läge dies Resultat allerdings nicht. Wir
sind ja vielmehr von einer scharfen Scheidung zwischen Ich-
trieben = Todestrieben und Sexualtrieben = Lebenstrieben
ausgegangen. Wir waren ja bereit, auch die angeblichen
Selbsterhaltungstriebe des Ichs zu den Todestrieben zu rech-
nen, was wir seither berichtigend zurückgezogen haben.
Unsere Auffassung war von Anfang eine dualistischeS.
234
und sie ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die
Gegensätze nicht mehr Ich‑ und Sexualtriebe, sondern
Lebens‑ und Todestriebe benennen. Jungs Libidotheorie ist
dagegen eine monistische; daß er seine einzige Triebkraft
Libido geheißen hat, mußte Verwirrung stiften, soll uns aber
weiter nicht beeinflussen. Wir vermuten, daß im Ich noch
andere als die libidinösen Selbsterhaltungstriebe tätig sind;
wir sollten nur imstande sein, sie aufzuzeigen. Es ist zu
bedauern, daß die Analyse des Ichs so wenig fortgeschritten
ist, daß dieser Nachweis uns recht schwer wird. Die
libidinösen Triebe des Ichs mögen allerdings in besonderer
Weise mit den anderen, uns noch fremden Ichtrieben ver-
knüpft sein. Noch ehe wir den Narzißmus klar erkannt
hatten, bestand bereits in der Psychoanalyse die Vermutung,
daß die „Ichtriebe“ libidinöse Komponenten an sich ge-
zogen haben. Aber das sind recht unsichere Möglichkeiten,
denen die Gegner kaum Rechnung tragen werden. Es bleibt
mißlich, daß uns die Analyse bisher immer nur in den Stand
gesetzt hat, libidinöse Triebe nachzuweisen. Den Schluß,
daß es andere nicht gibt, möchten wir darum doch nicht
mitmachen.Bei dem gegenwärtigen Dunkel der Trieblehre tun wir
wohl nicht gut, irgend einen Einfall, der uns Aufklärung
verspricht, zurückzuweisen. Wir sind von der großen Gegen-
sätzlichkeit von Lebens‑ und Todestrieben ausgegangen. Die
Objektliebe selbst zeigt uns eine zweite solche Polarität, die
von Liebe (Zärtlichkeit) und Haß (Aggression). Wenn es uns
gelänge, diese beiden Polaritäten in Beziehung zu einander
zu bringen, die eine auf die andere zurückzuführen! Wir
haben von jeher eine sadistische Komponente des Sexual-
triebes anerkannt30; sie kann sich, wie wir wissen, selbständig30) „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, von der I. Auflage,
1905, an. (Ges. Schriften, Bd. V.)S.
235
machen und als Perversion das gesamte Sexualstreben der
Person beherrschen. Sie tritt auch in einer der von mir
sogenannten „prägenitalen Organisationen“ als dominierender
Partialtrieb hervor. Wie soll man aber den sadistischen
Trieb, der auf die Schädigung des Objekts zielt, vom lebens-
erhaltenden Eros ableiten können? Liegt da nicht die An-
nahme nahe, daß dieser Sadismus eigentlich ein Todestrieb
ist, der durch den Einfluß der narzißtischen Libido vom Ich
abgedrängt wurde, so daß er erst am Objekt zum Vorschein
kommt? Er tritt dann in den Dienst der Sexualfunktion; im
oralen Organisationsstadium der Libido fällt die Liebes-
bemächtigung noch mit der Vernichtung des Objekts zu-
sammen, später trennt sich der sadistische Trieb ab und end-
lich übernimmt er auf der Stufe des Genitalprimats zum
Zwecke der Fortpflanzung die Funktion, das Sexualobjekt
so weit zu bewältigen, als es die Ausführung des Geschlechts-
aktes erfordert. Ja, man könnte sagen, der aus dem Ich
herausgedrängte Sadismus habe den libidinösen Komponenten
des Sexualtriebs den Weg gezeigt; späterhin drängen diese
zum Objekt nach. Wo der ursprüngliche Sadismus keine
Ermäßigung und Verschmelzung erfährt, ist die bekannte
Liebe‑Haß‑Ambivalenz des Liebeslebens hergestellt.Wenn es erlaubt ist, eine solche Annahme zu machen, so
wäre die Forderung erfüllt, ein Beispiel eines – allerdings
verschobenen – Todestriebes aufzuzeigen. Nur daß diese Auf-
fassung von jeder Anschaulichkeit weit entfernt ist und einen
geradezu mystischen Eindruck macht. Wir kommen in den
Verdacht, um jeden Preis eine Auskunft aus einer großen
Verlegenheit gesucht zu haben. Dann dürfen wir uns darauf
berufen, daß eine solche Annahme nicht neu ist, daß wir
sie bereits früher einmal gemacht haben, als von einer Ver-
legenheit noch keine Rede war. Klinische Beobachtungen
haben uns seinerzeit zur Auffassung genötigt, daß der demS.
236
Sadismus komplementäre Partialtrieb des Masochismus als
eine Rückwendung des Sadismus gegen das eigene Ich zu
verstehen sei31. Eine Wendung des Triebes vom Objekt zum
Ich ist aber prinzipiell nichts anderes als die Wendung vom
Ich zum Objekt, die hier als neu in Frage steht. Der
Masochismus, die Wendung des Triebes gegen das eigene
Ich, wäre dann in Wirklichkeit eine Rückkehr zu einer
früheren Phase desselben, eine Regression. In einem Punkte
bedürfte die damals vom Masochismus gegebene Darstellung
einer Berichtigung als allzu ausschließlich; der Masochismus
könnte auch, was ich dort bestreiten wollte, ein primärer
sein32.Aber kehren wir zu den lebenserhaltenden Sexualtrieben
zurück. Schon aus der Protistenforschung haben wir erfahren,
daß die Verschmelzung zweier Individuen ohne nachfolgende
Teilung, die Kopulation, auf beide Individuen, die sich dann
bald von einander lösen, stärkend und verjüngend wirkt.
(S. o. Lipschütz.) Sie zeigen in weiteren Generationen
keine Degenerationserscheinungen und scheinen befähigt, den
Schädlichkeiten ihres eigenen Stoffwechsels länger zu wider-
stehen. Ich meine, daß diese eine Beobachtung als vorbildlich
für den Effekt auch der geschlechtlichen Vereinigung genommen31) Vgl. Drei Abhandl. zur Sexualtheorie (Ges. Schriften, Bd. V)
und „Triebe und Triebschicksale“ (in diesem Bande, S. 58 ff).32) In einer inhalts‑ und gedankenreichen, für mich leider nicht
ganz durchsichtigen Arbeit hat Sabina Spielrein ein ganzes
Stück dieser Spekulation vorweggenommen. Sie bezeichnet die
sadistische Komponente des Sexualtriebs als die „destruktive“. (Die
Destruktion als Ursache des Werdens. Jahrbuch für Psychoanalyse,
IV, 1912.) In noch anderer Weise suchte A. Stärcke (Inleiding
by de vertaling von S. Freud, De sexuele beschavingsmoral etc.,
1914) den Libidobegriff selbst mit dem theoretisch zu supponieren-
den biologischen Begriff eines Antriebes zum Tode zu
identifizieren. (Vgl. auch Rank, Der Künstler.) Alle diese Be-
mühungen zeigen, wie die im Texte, von dem Drang nach einer
noch nicht erreichten Klärung in der Trieblehre.S.
237
werden darf. Aber auf welche Weise bringt die
Verschmelzung zweier wenig verschiedener Zellen eine solche
Erneuerung des Lebens zustande? Der Versuch, der die
Kopulation bei den Protozoen durch die Einwirkung
chemischer, ja selbst mechanischer Reize (l. c.) ersetzt, ge-
stattet wohl, eine sichere Antwort zu geben: Es geschieht
durch die Zufuhr neuer Reizgrößen. Das stimmt nun aber
gut zur Annahme, daß der Lebensprozeß des Individuums
aus inneren Gründen zur Abgleichung chemischer Span-
nungen, das heißt zum Tode führt, während die Vereinigung
mit einer individuell verschiedenen lebenden Substanz diese
Spannungen vergrößert, sozusagen neue Vitaldifferen-
zen einführt, die dann abgelebt werden müssen. Für
diese Verschiedenheit muß es natürlich ein oder mehrere
Optima geben. Daß wir als die herrschende Tendenz des
Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das
Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung
der inneren Reizspannung erkannten (das Nirwana-
prinzip nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie
es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines
unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben
zu glauben.Als empfindliche Störung unseres Gedankenganges ver-
spüren wir es aber noch immer, daß wir gerade für den
Sexualtrieb jenen Charakter eines Wiederholungszwanges
nicht nachweisen können, der uns zuerst zur Aufspürung der
Todestriebe führte. Das Gebiet der embryonalen Entwick-
lungsvorgänge ist zwar überreich an solchen Wiederholungs-
erscheinungen, die beiden Keimzellen der geschlechtlichen
Fortpflanzung und ihre Lebensgeschichte sind selbst nur
Wiederholungen der Anfänge des organischen Lebens; aber
das Wesentliche an den vom Sexualtrieb intendierten Vor-
gängen ist doch die Verschmelzung zweier Zelleiber. ErstS.
238
durch diese wird bei den höheren Lebewesen die Unsterb-
lichkeit der lebenden Substanz gesichert.Mit anderen Worten: wir sollen Auskunft schaffen über
die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung und die
Herkunft der Sexualtriebe überhaupt, eine Aufgabe, vor der
ein Außenstehender zurückschrecken muß, und die von den
Spezialforschern selbst bisher noch nicht gelöst werden
konnte. In knappster Zusammendrängung sei darum aus all
den widerstreitenden Angaben und Meinungen hervor-
gehoben, was einen Anschluß an unseren Gedankengang zu-
läßt.Die eine Auffassung benimmt dem Problem der Fort-
pflanzung seinen geheimnisvollen Reiz, indem sie die Fort-
pflanzung als eine Teilerscheinung des Wachstums darstellt
(Vermehrung durch Teilung, Sprossung, Knospung). Die
Entstehung der Fortpflanzung durch geschlechtlich differen-
zierte Keimzellen könnte man sich nach nüchterner Dar-
winscher Denkungsart so vorstellen, daß der Vorteil der
Amphimixis, der sich dereinst bei der zufälligen Kopulation
zweier Protisten ergab, in der ferneren Entwicklung fest-
gehalten und weiter ausgenützt wurde33. Das „Geschlecht“
wäre also nicht sehr alt, und die außerordentlich heftigen
Triebe, welche die geschlechtliche Vereinigung herbeiführen
wollen, wiederholten dabei etwas, was sich zufällig einmal
ereignet und seither als vorteilhaft befestigt hat.Es ist hier wiederum wie beim Tod die Frage, ob man
33) Obwohl Weismann (Das Keimplasma, 1892) auch diesen
Vorteil leugnet: „Die Befruchtung bedeutet keinesfalls eine Ver-
jüngung oder Erneuerung des Lebens, sie wäre durchaus nicht
notwendig zur Fortdauer des Lebens, sie ist nichts als eine
Einrichtung, um die Vermischung zweier ver-
schiedener Vererbungstendenzen möglich zu
machen.“ Als die Wirkung einer solchen Vermischung betrachtet
er aber doch eine Steigerung der Variabilität der Lebewesen.S.
239
bei den Protisten nichts anderes gelten lassen soll, als was
sie zeigen, und ob man annehmen darf, daß Kräfte und
Vorgänge, die erst bei höheren Lebewesen sichtbar werden,
auch bei diesen zuerst entstanden sind. Für unsere Absichten
leistet die erwähnte Auffassung der Sexualität sehr wenig.
Man wird gegen sie einwenden dürfen, daß sie die Existenz
von Lebenstrieben, die schon im einfachsten Lebewesen wir-
ken, voraussetzt, denn sonst wäre ja die Kopulation, die dem
Lebenslauf entgegenwirkt und die Aufgabe des Ablebens er-
schwert, nicht festgehalten und ausgearbeitet, sondern ver-
mieden worden. Wenn man also die Annahme von Todes-
trieben nicht fahren lassen will, muß man ihnen von allem
Anfang an Lebenstriebe zugesellen. Aber man muß es zu-
gestehen, wir arbeiten da an einer Gleichung mit zwei Un-
bekannten. Was wir sonst in der Wissenschaft über die
Entstehung der Geschlechtlichkeit finden, ist so wenig, daß
man dies Problem einem Dunkel vergleichen kann, in welches
auch nicht der Lichtstrahl einer Hypothese gedrungen ist.
An ganz anderer Stelle begegnen wir allerdings einer solchen
Hypothese, die aber von so phantastischer Art ist, – gewiß
eher ein Mythus als eine wissenschaftliche Erklärung – daß
ich nicht wagen würde, sie hier anzuführen, wenn sie nicht
gerade die eine Bedingung erfüllen würde, nach deren Er-
füllung wir streben. Sie leitet nämlich einen Trieb ab von
dem Bedürfnis nach Wiederherstellung
eines früheren Zustandes.Ich meine natürlich die Theorie, die Plato im Sym-
posion durch Aristophanes entwickeln läßt, und die
nicht nur die Herkunft des Geschlechtstriebes, sondern auch
seiner wichtigsten Variation in Bezug auf das Objekt be-
handelt34.34) Übersetzung von U. v. Wilamowitz‑Moellen-
dorff (Platon I, S. 366f.).S.
240
„Unser Leib war nämlich zuerst gar nicht ebenso gebildet
wie jetzt; er war ganz anders. Erstens gab es drei Ge-
schlechter, nicht bloß wie jetzt männlich und weiblich, son-
dern noch ein drittes, das die beiden vereinigte … das Mann-
weibliche …“ Alles an diesen Menschen war aber doppelt,
sie hatten also vier Hände und vier Füße, zwei Gesichter,
doppelte Schamteile usw. Da ließ sich Zeus bewegen, jeden
Menschen in zwei Teile zu teilen, „wie man die Quitten
zum Einmachen durchschneidet … Weil nun das ganze
Wesen entzweigeschnitten war, trieb die Sehnsucht die beiden
Hälften zusammen: sie umschlangen sich mit den Händen,
verflochten sich ineinander im Verlangen, zusam-
menzuwachsen …“3535) Prof. Heinrich Gomperz (Wien) verdanke ich die nach-
stehenden Andeutungen über die Herkunft des Platonischen
Mythus, die ich zum Teil in seinen Worten wiedergebe: Ich möchte
darauf aufmerksam machen, daß sich wesentlich dieselbe Theorie
auch schon in den Upanishaden findet. Denn Brihad‑
Āranyaka‑Upanishad, I, 4‚ 3 (Deussen, 60 Upanishads
des Veda, S. 393), wo das Hervorgehen der Welt aus dem Ātman
(dem Selbst oder Ich) geschildert wird, heißt es: „… Aber er (der
Ātman‚ das Selbst oder das Ich) hatte auch keine Freude; darum
hat einer keine Freude, wenn er allein ist. Da begehrte er nach
einem Zweiten. Nämlich er war so groß wie ein Weib und ein
Mann, wenn sie sich umschlungen halten. Dieses sein Selbst zer-
fällte er in zwei Teile: daraus entstanden Gatte und Gattin.
Darum ist dieser Leib an dem Selbst gleichsam eine Halbscheid,
so nämlich hat es Yâjñavalkya erklärt. Darum wird dieser
leere Raum hier durch das Weib ausgefüllt.“
Die Brihad‑Āranyaka‑Upanishad ist die älteste aller
Upanishaden und wird wohl von keinem urteilsfähigen Forscher
angesetzt als etwa um das Jahr 800 v. Chr. Die Frage, ob
eine, wenn auch nur mittelbare Abhängigkeit Platos von diesen
indischen Gedanken möglich wäre, möchte ich im Gegensatz zur
herrschenden Meinung nicht unbedingt verneinen, da eine solche
Möglichkeit wohl auch für die Seelenwanderungslehre nicht ge-
radezu in Abrede gestellt werden kann. Eine solche, zunächst
durch Pythagoreer vermittelte Abhängigkeit würde dem gedank-
lichen Zusammentreffen kaum etwas von seiner BedeutsamkeitS.
241
Sollen wir, dem Wink des Dichterphilosophen folgend, die
Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Be-
lebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch
die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben? Daß diese
Triebe, in denen sich die chemische Affinität der unbelebten
Materie fortsetzt, durch das Reich der Protisten hindurch
allmählich die Schwierigkeiten überwinden, welche eine mit
lebensgefährlichen Reizen geladene Umgebung diesem
Streben entgegensetzt, die sie zur Bildung einer schützenden
Rindenschicht nötigt? Daß diese zersprengten Teilchen
lebender Substanz so die Vielzelligkeit erreichen und endlich
den Keimzellen den Trieb zur Wiedervereinigung in höchster
Konzentration übertragen? Ich glaube, es ist hier die Stelle,
abzubrechen.Doch nicht, ohne einige Worte kritischer Besinnung anzu-
schließen. Man könnte mich fragen, ob und inwieweit ich
selbst von den hier entwickelten Annahmen überzeugt bin.
Meine Antwort würde lauten, daß ich weder selbst über-
zeugt bin, noch bei anderen um Glauben für sie werbe.
Richtiger: ich weiß nicht, wie weit ich an sie glaube. Es
scheint mir, daß das affektive Moment der Überzeugung hier
gar nicht in Betracht zu kommen braucht. Man kann sich
doch einem Gedankengang hingeben, ihn verfolgen, soweit
er führt, nur aus wissenschaftlicher Neugierde oder, wenn
man will, als advocatus diaboli, der sich darum doch nichtnehmen, da Plato eine derartige ihm irgendwie aus orientalischer
Überlieferung zugetragene Geschichte sich nicht zu eigen gemacht,
geschweige denn ihr eine so bedeutsame Stellung angewiesen hätte,
hätte sie ihm nicht selbst als wahrheitshältig eingeleuchtet.
In einem Aufsatz von K. Ziegler, Menschen‑ und Welten-
werden (Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Bd. 31,
S. 529 ff., 1913), der sich planmäßig mit der Erforschung des
fraglichen Gedankens vor Plato beschäftigt, wird dieser auf
babylonische Vorstellungen zurückgeführt.S.
242
dem Teufel selbst verschreibt. Ich verkenne nicht, daß der
dritte Schritt in der Trieblehre, den ich hier unternehme,
nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen kann wie die beiden
früheren, die Erweiterung des Begriffs der Sexualität und die
Aufstellung des Narzißmus. Diese Neuerungen waren direkte
Übersetzungen der Beobachtung in Theorie, mit nicht größeren
Fehlerquellen behaftet, als in all solchen Fällen unvermeidlich
ist. Die Behauptung des regressiven Charakters der
Triebe ruht allerdings auch auf beobachtetem Material, näm-
lich auf den Tatsachen des Wiederholungszwanges. Allein
vielleicht habe ich deren Bedeutung überschätzt. Die Durch-
führung dieser Idee ist jedenfalls nicht anders möglich, als
daß man mehrmals nacheinander Tatsächliches mit bloß
Erdachtem kombiniert und sich dabei weit von der Be-
obachtung entfernt. Man weiß, daß das Endergebnis um so
unverläßlicher wird, je öfter man dies während des Aufbaues
einer Theorie tut, aber der Grad der Unsicherheit ist nicht
angebbar. Man kann dabei glücklich geraten haben oder
schmählich in die Irre gegangen sein. Der sogenannten In-
tuition traue ich bei solchen Arbeiten wenig zu; was ich von
ihr gesehen habe, schien mir eher der Erfolg einer gewissen
Unparteilichkeit des Intellekts. Nur daß man leider selten
unparteiisch ist, wo es sich um die letzten Dinge, die großen
Probleme der Wissenschaft und des Lebens handelt. Ich
glaube, ein jeder wird da von innerlich tief begründeten
Vorlieben beherrscht, denen er mit seiner Spekulation un-
wissentlich in die Hände arbeitet. Bei so guten Gründen zum
Mißtrauen bleibt wohl nichts anderes als ein kühles Wohl-
wollen für die Ergebnisse der eigenen Denkbemühung mög-
lich. Ich beeile mich nur hinzuzufügen, daß solche Selbst-
kritik durchaus nicht zu besonderer Toleranz gegen ab-
weichende Meinungen verpflichtet. Man darf unerbittlich
Theorien abweisen, denen schon die ersten Schritte in derS.
243
Analyse der Beobachtung widersprechen, und kann dabei
doch wissen, daß die Richtigkeit derer, die man vertritt, doch
nur eine vorläufige ist. In der Beurteilung unserer Speku-
lation über die Lebens‑ und Todestriebe würde es uns wenig
stören, daß so viel befremdende und unanschauliche Vor-
gänge darin vorkommen, wie ein Trieb werde von anderen
herausgedrängt, oder er wende sich vom Ich zum Objekt
und dergleichen. Dies rührt nur daher, daß wir genötigt
sind, mit den wissenschaftlichen Terminis, das heißt mit der
eigenen Bildersprache der Psychologie (richtig: der Tiefen-
psychologie) zu arbeiten. Sonst könnten wir die entspre-
chenden Vorgänge überhaupt nicht beschreiben, ja, wür-
den sie gar nicht wahrgenommen haben. Die Mängel
unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwin-
den, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon
die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten.
Diese gehören zwar auch nur einer Bildersprache an, aber
einer uns seit längerer Zeit vertrauten und vielleicht auch
einfacheren.Hingegen wollen wir uns recht klar machen, daß die
Unsicherheit unserer Spekulation zu einem hohen Grade
durch die Nötigung gesteigert wurde, Anleihen bei der bio-
logischen Wissenschaft zu machen. Die Biologie ist wahr-
lich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben
die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und
können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von
uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben
würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer
künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird. Wenn
dem so ist, könnte jemand fragen, wozu unternimmt man
also solche Arbeiten, wie die in diesem Abschnitt nieder-
gelegte, und warum bringt man sie doch zur Mitteilung?
Nun, ich kann nicht in Abrede stellen, daß einige derS.
244
Analogien, Verknüpfungen und Zusammenhänge darin mir
der Beachtung würdig erschienen sind36.VII
Wenn es wirklich ein so allgemeiner Charakter der Triebe
ist, daß sie einen früheren Zustand wiederherstellen wollen,36) Anschließend hier einige Worte zur Klärung unserer Namen-
gebung, die im Laufe dieser Erörterungen eine gewisse Entwick-
lung durchgemacht hat. Was „Sexualtriebe“ sind, wußten wir
aus ihrer Beziehung zu den Geschlechtern und zur Fortpflanzungs-
funktion. Wir behielten dann diesen Namen bei, als wir durch
die Ergebnisse der Psychoanalyse genötigt waren, deren Beziehung
zur Fortpflanzung zu lockern. Mit der Aufstellung der narziß-
tischen Libido und der Ausdehnung des Libidobegriffes auf die
einzelne Zelle wandelte sich uns der Sexualtrieb zum Eros, der
die Teile der lebenden Substanz zueinanderzudrängen und zu-
sammenzuhalten sucht, und die gemeinhin so genannten Sexual-
triebe erschienen als der dem Objekt zugewandte Anteil dieses
Eros. Die Spekulation läßt dann diesen Eros vom Anfang des
Lebens an, wirken und als „Lebenstrieb“ im Gegensatz zum
„Todestrieb“ treten, der durch die Belebung des Anorganischen
entstanden ist. Sie versucht das Rätsel des Lebens durch die An-
nahme dieser beiden von Uranfang an miteinander ringenden
Triebe zu lösen. Unübersichtlicher ist vielleicht die Wandlung, die
der Begriff der „Ichtriebe“ erfahren hat. Ursprünglich nannten
wir so alle jene von uns nicht näher gekannten Triebrichtungen,
die sich von den auf das Objekt gerichteten Sexualtrieben ab-
scheiden lassen, und brachten die Ichtriebe im Gegensatz zu den
Sexualtrieben, deren Ausdruck die Libido ist. Späterhin näherten
wir uns der Analyse des Ichs und erkannten, daß auch ein Teil
der „Ichtriebe“ libidinöser Natur ist, das eigene Ich zum Objekt
genommen hat. Diese narzißtischen Selbsterhaltungstriebe mußten
also jetzt den libidinösen Sexualtrieben zugerechnet werden. Der
Gegensatz zwischen Ich- und Sexualtrieben wandelte sich in den
zwischen Ich‑ und Objekttrieben, beide libidinöser Natur. An
seine Stelle trat aber ein neuer Gegensatz zwischen libidinösen
(Ich‑ und Objekt‑) Trieben und anderen, die im Ich zu statuieren
und vielleicht in den Destruktionstrieben aufzuzeigen sind. Die
Spekulation wandelt diesen Gegensatz in den von Lebenstrieben
(Eros) und von Todestrieben um.S.
245
so dürfen wir uns nicht darüber verwundern, daß im Seelen-
leben so viele Vorgänge sich unabhängig vom Lustprinzip
vollziehen. Dieser Charakter würde sich jedem Partialtrieb
mitteilen und sich in seinem Falle auf die Wiedererreichung
einer bestimmten Station des Entwicklungsweges beziehen.
Aber all dies, worüber das Lustprinzip noch keine Macht
bekommen hat, brauchte darum noch nicht im Gegensatz
zu ihm zu stehen, und die Aufgabe ist noch ungelöst, das
Verhältnis der triebhaften Wiederholungsvorgänge zur Herr-
schaft des Lustprinzips zu bestimmen.Wir haben es als eine der frühesten und wichtigsten
Funktionen des seelischen Apparates erkannt, die anlangen-
den Triebregungen zu „binden“, den in ihnen herrschenden
Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen, ihre
frei bewegliche Besetzungsenergie in vorwiegend ruhende
(tonische) Besetzung umzuwandeln. Während dieser Um-
setzung kann auf die Entwicklung von Unlust nicht Rück-
sicht genommen werden, allein das Lustprinzip wird dadurch
nicht aufgehoben. Die Umsetzung geschieht vielmehr im
Dienste des Lustprinzips; die Bindung ist ein vorbereitender
Akt, der die Herrschaft des Lustprinzips einleitet und
sichert.Trennen wir Funktion und Tendenz schärfer voneinander,
als wir es bisher getan haben. Das Lustprinzip ist dann eine
Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es
zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu
machen, oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder
möglichst niedrig zu erhalten. Wir können uns noch für
keine dieser Fassungen sicher entscheiden, aber wir merken,
daß die so bestimmte Funktion Anteil hätte an dem allge-
meinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen
Welt zurückzukehren. Wir haben alle erfahren, daß die
größte uns erreichbare Lust, die des Sexualaktes, mit demS.
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momentanen Erlöschen einer hochgesteigerten Erregung ver-
bunden ist. Die Bindung der Triebregung wäre aber eine
vorbereitende Funktion, welche die Erregung für ihre end-
gültige Erledigung in der Abfuhrlust zurichten soll.Aus demselben Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob
die Lust‑ und Unlustempfindungen von den gebundenen wie
von den ungebundenen Erregungsvorgängen in gleicher Weise
erzeugt werden können. Da erscheint es denn ganz un-
zweifelhaft, daß die ungebundenen, die Primärvorgänge, weit
intensivere Empfindungen nach beiden Richtungen ergeben
als die gebundenen, die des Sekundärvorganges. Die Primär-
vorgänge sind auch die zeitlich früheren, zu Anfang des
Seelenlebens gibt es keine anderen, und wir können schließen,
wenn das Lustprinzip nicht schon bei ihnen in Wirksamkeit
wäre, könnte es sich überhaupt für die späteren nicht her-
stellen. Wir kommen so zu dem im Grunde nicht einfachen
Ergebnis, daß das Luststreben zu Anfang des seelischen Lebens
sich weit intensiver äußert als späterhin, aber nicht so un-
eingeschränkt; es muß sich häufige Durchbrüche gefallen
lassen. In reiferen Zeiten ist die Herrschaft des Lustprinzips
sehr viel mehr gesichert, aber dieses selbst ist der Bändigung
so wenig entgangen wie die anderen Triebe überhaupt. Jeden-
falls muß das, was am Erregungsvorgange die Empfindungen
von Lust und Unlust entstehen läßt, beim Sekundärvorgang
ebenso vorhanden sein wie beim Primärvorgang.Hier wäre die Stelle, mit weiteren Studien einzusetzen.
Unser Bewußtsein vermittelt uns von innen her nicht nur
die Empfindungen von Lust und Unlust, sondern auch von
einer eigentümlichen Spannung, die selbst wieder eine lust-
volle oder unlustvolle sein kann. Sind es nun die gebun-
denen und die ungebundenen Energievorgänge, die wir mittels
dieser Empfindungen von einander unterscheiden sollen, oder
ist die Spannungsempfindung auf die absolute Größe, eventuellS.
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das Niveau der Besetzung zu beziehen, während die
Lust‑Unlustreihe auf die Änderung der Besetzungsgröße in
der Zeiteinheit hindeutet? Es muß uns auch auffallen, daß
die Lebenstriebe so viel mehr mit unserer inneren Wahr-
nehmung zu tun haben, da sie als Störenfriede auftreten,
unausgesetzt Spannungen mit sich bringen, deren Erledigung
als Lust empfunden wird, während die Todestriebe ihre
Arbeit unauffällig zu leisten scheinen. Das Lustprinzip
scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen; es
wacht allerdings auch über die Reize von außen, die von
beiderlei Triebarten als Gefahren eingeschätzt werden, aber
ganz besonders über die Reizsteigerungen von innen her, die
eine Erschwerung der Lebensaufgabe erzielen. Hieran
knüpfen sich ungezählte andere Fragen, deren Beantwortung
jetzt nicht möglich ist. Man muß geduldig sein und auf
weitere Mittel und Anlässe zur Forschung warten. Auch
bereit bleiben, einen Weg wieder zu verlassen, den man eine
Weile verfolgt hat, wenn er zu nichts Gutem zu führen
scheint. Nur solche Gläubige, die von der Wissenschaft einen
Ersatz für den aufgegebenen Katechismus fordern, werden
dem Forscher die Fortbildung oder selbst die Umbildung
seiner Ansichten verübeln. Im übrigen mag uns ein Dichter
(Rückert in den Makamen des Hariri) über die lang-
samen Fortschritte unserer wissenschaftlichen Erkenntnis
trösten:„Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken.
…
Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken.“
Freud_1931_Theoretische_Schriften_k
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