Formulierungen über zwei Prinzipien des psychischen Geschehens 1911-001/1921
1911-001/1921 Formulierungen über zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
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    Formulierungen über die zwei Prinzipien 
    des psychischen Geschehens1.

    Wir haben seit langem gemerkt, daß jede Neurose
    die Folge, also wahrscheinlich die Tendenz, habe den Kranken aus
    dem realen Leben herauszudrängen, ihn der Wirklichkeit zu
    entfremden. Eine derartige Tatsache konnte auch der Beobach-
    tung P. Janets nicht entgehen; er sprach von einem Verluste
    de la fonction du réel als von einem besonderen Charakter
    der Neurotiker, ohne aber den Zusammenhang dieser Störung
    mit den Grundbedingungen der Neurose aufzudecken2.

    Die Einführung des Verdrängungsprozesses in die Genese
    der Neurose hat uns gestattet, in diesen Zusammenhang Ein-
    sicht zu nehmen. Der Neurotiker wendet sich von der Wirklich-
    keit ab, weil er sie – ihr Ganzes oder Stücke derselben –
    unerträglich findet. Den extremsten Typus dieser Abwendung
    von der Realität zeigen uns gewisse Fälle von halluzinatorischer
    Psychose, in denen jenes Ereignis verleugnet werden soll, wel-
    ches den Wahnsinn hervorgerufen hat (Griesinger). Eigentlich
    tut aber jeder Neurotiker mit einem Stückchen der Realität
    das gleiche3. Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Beziehung

    1 Jahrbuch f. psychoanalyt. u. psychopath. Forschungen, Bd. III, 1911.

    2 P. Janet, Les Névroses. 1909. Bibliothèque de Philosophie
    scientifique.

    3 Eine merkwürdig klare Ahnung dieser Verursachung hat kürzlich
    Otto Rank in einer Stelle Schopenhauers aufgezeigt. (Die Welt
    als Wille und Vorstellung, 2. Band. Siehe Zentralblatt für Psychoanalyse,
    Heft 1/2, 1910.)

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    des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität auf
    ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Be-
    deutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren
    aufzunehmen.

    Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten
    Psychologie gewöhnt, die unbewußten seelischen Vorgänge zum
    Ausgang zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die
    Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren,
    primären, für Überreste aus einer Entwicklungsphase, in welcher
    sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die oberste
    Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen, ist leicht
    zu erkennen; sie wird als das Lust‑Unlust‑Prinzip (oder kürzer
    als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge streben da-
    nach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust
    erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück
    (Verdrängung). Unser nächtliches Träumen, unsere Wachtendenz,
    uns von peinlichen Eindrücken loszureißen, sind Reste von der
    Herrschaft dieses Prinzips und Beweise für dessen Mächtigkeit.

    Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer
    Stelle (im allgemeinen Abschnitt der Traumdeutung) entwickelt
    habe, wenn ich supponiere, daß der psychische Ruhezustand
    anfänglich durch die gebieterischen Forderungen der inneren
    Bedürfnisse gestört wurde. In diesem Falle wurde das Gedachte
    (Gewünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt, wie es heute noch
    allnächtlich mit unseren Traumgedanken geschieht1). Erst das
    Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die Enttäuschung, hatte
    zur Folge, daß dieser Versuch der Befriedigung auf halluzina-
    torischem Wege aufgegeben wurde. Anstatt seiner mußte sich
    der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse
    der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzu-
    streben. Damit war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit
    eingeführt; es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, son-
    dern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte2).

    1) Der Schlafzustand kann das Ebenbild des Seelenlebens vor der
    Anerkennung der Realität wiederbringen, weil er die absichtliche Verleug-
    nung derselben (Schlafwunsch) zur Voraussetzung nimmt.

    2) Ich will versuchen, die obige schematische Darstellung durch
    einige Ausführungen zu ergänzen: Es wird mit Recht eingewendet werden,
    daß eine solche Organisation, die dem Lustprinzip frönt und die Realität
    der Außenwelt vernachlässigt, sich nicht die kürzeste Zeit am Leben er-
    halten könnte, so daß sie überhaupt nicht hätte entstehen können. Die Ver-
    wendung einer derartigen Fiktion rechtfertigt sich aber durch die Bemer-
    kung, daß der Säugling, wenn man nur die Mutterpflege hinzunimmt, ein
    solches psychisches System nahezu realisiert. Er halluziniert wahrscheinlich
    die Erfüllung seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine Unlust bei steigen-
    dem Reiz und ausbleibender Befriedigung durch die motorische Abfuhr des
    Schreiens und Zappelns und erlebt darauf die halluzinierte Befriedigung.
    Er erlernt es später als Kind, diese Abfuhräußerungen absichtlich als
    Ausdrucksmittel zu gebrauchen. Da die Säuglingspflege das Vorbild der
    späteren Kinderfürsorge ist, kann die Herrschaft des Lustprinzips eigentlich
    erst mit der vollen psychischen Ablösung von den Eltern ein Ende nehmen.
    – Ein schönes Beispiel eines von den Reizen der Außenwelt abgeschlos-
    senen psychischen Systems, welches selbst seine Ernährungsbedürfnisse
    autistisch (nach einem Worte Bleulers) befriedigen kann, gibt das mit
    seinem Nahrungsvorrat in die Eischale eingeschlossene Vogelei, für das sich
    die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt. – Ich werde es nicht
    als Korrektur, sondern nur als Erweiterung des in Rede stehenden Schemas
    ansehen, wenn man für das nach dem Lustprinzip lebende System Einrich-
    tungen fordert, mittels deren es sich den Reizen der Realität entziehen
    kann. Diese Einrichtungen sind nur das Korrelat der „Verdrängung“, welche
    innere Unlustreize so behandelt, als ob sie äußere wären, sie also zur
    Außenwelt schlägt.

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    Diese Einsetzung des Realitätsprinzips erwies sich als ein
    folgenschwerer Schritt.

    1. Zunächst machten die neuen Anforderungen eine Reihe
    von Adaptierungen des psychischen Apparates nötig, die wir
    infolge von ungenügender oder unsicherer Einsicht nur ganz
    beiläufig aufführen können.

    Die erhöhte Bedeutung der äußeren Realität hob auch
    die Bedeutung der jener Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane
    und des an sie geknüpften Bewußtseins, welches außer den
    bisher allein interessanten Lust‑ und Unlustqualitäten die
    Sinnesqualitäten auffassen lernte. Es wurde eine besondere
    Funktion eingerichtet, welche die Außenwelt periodisch abzu-
    suchen hatte, damit die Daten derselben im vorhinein bekannt
    wären, wenn sich ein unaufschiebbares inneres Bedürfnis ein-
    stellte, die Aufmerksamkeit. Diese Tätigkeit geht den Sinnes-
    eindrücken entgegen, anstatt ihr Auftreten abzuwarten. Wahr-
    scheinlich wurde gleichzeitig damit ein System von Merken 

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    eingesetzt, welches die Ergebnisse dieser periodischen Bewußt-
    seinstätigkeit zu deponieren hatte, ein Teil von dem, was wir 
    Gedächtnis heißen.

    An Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auf-
    tauchenden Vorstellungen als unlusterzeugend von der Besetzung
    ausschloß, trat die unparteiische Urteilsfällung, welche ent-
    scheiden sollte, ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch,
    das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht, und durch
    Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der Realität darüber
    entschied.

    Die motorische Abfuhr, die während der Herrschaft des
    Lustprinzips zur Entlastung des seelischen Apparates von Reiz-
    zuwächsen gedient hatte und dieser Aufgabe durch ins Innere
    des Körpers gesandte Innervationen (Mimik, Affektäußerungen)
    nachgekommen war, erhielt jetzt eine neue Funktion, indem sie
    zur zweckmäßigen Veränderung der Realität verwendet wurde.
    Sie wandelte sich zum Handeln.

    Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen
    Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt,
    welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken
    wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen
    Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des
    Aufschubes der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein
    Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten,
    unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben. Dazu war eine
    Überführung der frei verschiebbaren Besetzungen in gebundene
    erforderlich, und eine solche wurde mittels einer Niveauerhö-
    hung des ganzen Besetzungsvorganges erreicht. Das Denken
    war wahrscheinlich ursprünglich unbewußt, insoweit es sich
    über das bloße Vorstellen erhob und sich den Relationen der
    Objekteindrücke zuwendete, und erhielt weitere für das Bewußt-
    sein wahrnehmbare Qualitäten erst durch die Bindung an die
    Wortreste.

    2. Eine allgemeine Tendenz unseres seelischen Apparates,
    die man auf das ökonomische Prinzip der Aufwandersparnis
    zurückführen kann, scheint sich in der Zähigkeit des Festhal-
    tens an den zur Verfügung stehenden Lustquellen und in der
    Schwierigkeit des Verzichtes auf dieselben zu äußern. Mit der 

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    Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denktätigkeit
    abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei gehalten und
    allein dem Lustprinzip unterworfen blieb.1) Es ist dies das 
    Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder
    beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anlehnung
    an reale Objekte aufgibt.

    3. Die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitäts-
    prinzip mit den aus ihr hervorgehenden psychischen Folgen, die
    hier in einer schematisierenden Darstellung in einen einzigen
    Satz gebannt ist, vollzieht sich in Wirklichkeit nicht auf einmal
    und nicht gleichzeitig auf der ganzen Linie. Während aber diese
    Entwicklung an den Ichtrieben vor sich geht, lösen sich die
    Sexualtriebe in sehr bedeutsamer Weise von ihnen ab. Die
    Sexualtriebe benehmen sich zunächst autoerotisch, sie finden
    ihre Befriedigung am eigenen Leib und gelangen daher nicht
    in die Situation der Versagung, welche die Einsetzung des
    Realitätsprinzips erzwungen hat. Wenn dann später bei ihnen
    der Prozeß der Objektfindung beginnt, erfährt er alsbald eine
    lange Unterbrechung durch die Latenzzeit, welche die Sexual-
    entwicklung bis zur Pubertät verzögert. Diese beiden Momente –
    Autoerotismus und Latenzperiode – haben zur Folge, daß der
    Sexualtrieb in seiner psychischen Ausbildung aufgehalten wird 
    und weit länger unter der Herrschaft des Lustprinzips verbleibt,
    welcher er sich bei vielen Personen überhaupt niemals zu ent-
    ziehen vermag.

    Infolge dieser Verhältnisse stellt sich eine nähere Beziehung
    her zwischen dem Sexualtrieb und der Phantasie einerseits, den
    Ichtrieben und den Bewußtseinstätigkeiten anderseits. Diese Be-
    ziehung tritt uns bei Gesunden wie Neurotikern als eine sehr
    innige entgegen, wenngleich sie durch diese Erwägungen aus
    der genetischen Psychologie als eine sekundäre erkannt wird.
    Der fortwirkende Autoerotismus macht es möglich, daß die
    leichtere momentane und phantastische Befriedigung am Sexua-
    lobjekte so lange an Stelle der realen, aber Mühe und Aufschub 

     1) Ähnlich wie eine Nation, deren Reichtum auf der Ausbeutung ihrer
    Bodenschätze beruht, doch ein bestimmtes Gebiet reserviert, das im Ur-
    zustande belassen und von den Veränderungen der Kultur verschont werden
    soll (Yellowstonepark).

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     erfordernden, festgehalten wird. Die Verdrängung bleibt im
    Reiche des Phantasierens allmächtig; sie bringt es zustande,
    Vorstellungen in statu nascendi, ehe sie dem Bewußtsein auf-
    fallen können, zu hemmen, wenn deren Besetzung zur Unlust-
    entbindung Anlaß geben kann. Dies ist die schwache Stelle
    unserer psychischen Organisation, die dazu benutzt werden
    kann, um bereits rationell gewordene Denkvorgänge wieder unter
    die Herrschaft des Lustprinzips zu bringen. Ein wesentliches
    Stück der psychischen Disposition zur Neurose ist demnach
    durch die verspätete Erziehung des Sexualtriebs zur Beachtung
    der Realität und des weiteren durch die Bedingungen, welche
    diese Verspätung ermöglichen, gegeben.

    4. Wie das Lust‑Ich nichts anderes kann als wünschen,
    nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht
    das Real‑Ich nichts anderes zu tun als nach Nutzen zu streben
    und sich gegen Schaden zu sichern.1) In Wirklichkeit bedeutet die
    Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine
    Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung des-
    selben. Eine momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird
    aufgegeben, aber nur darum, um auf dem neuen Wege eine
    später kommende, gesicherte zu gewinnen. Doch ist der endo­-
    psychische Eindruck dieser Ersetzung ein so mächtiger gewesen,
    daß er sich in einem besonderen religiösen Mythus spiegelt.
    Die Lehre von der Belohnung im Jenseits für den – freiwil-
    ligen oder aufgezwungenen – Verzicht auf irdische Lüste ist
    nichts anderes als die mythische Projektion dieser psychischen
    Umwälzung. Die Religionen haben in konsequenter Verfolgung
    dieses Vorbildes den absoluten Lustverzicht im Leben gegen
    Versprechen einer Entschädigung in einem künftigen Dasein
    durchsetzen können; eine Überwindung des Lustprinzips haben
    sie auf diesem Wege nicht erreicht. Am ehesten gelingt diese
    Überwindung der Wissenschaft, die aber auch intellektuelle
    Lust während der Arbeit bietet und endlichen praktischen Ge-
    winn verspricht.

    1) Den Vorzug des Real‑Ichs vor dem Lust‑Ich drückt Bernard 
    Shaw
     treffend in den Worten aus: To be able to choose the line of grea-
    test advantage instead of yielding in the direction of the least resistance

    (Man and Superman. A comedy and a philosophy.)

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    5. Die Erziehung kann ohne weitere Bedenken als An-
    regung zur Überwindung des Lustprinzips, zur Ersetzung des-
    selben durch das Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will
    also jenem das Ich betreffenden Entwicklungsprozeß eine Nach-
    hilfe bieten, bedient sich zu diesem Zwecke der Liebesprämien
    von seiten der Erzieher, und schlägt darum fehl, wenn das ver-
    wöhnte Kind glaubt, daß es diese Liebe ohnedies besitzt und
    ihrer unter keinen Umständen verlustig werden kann.

    6. Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine
    Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist
    ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität ab-
    wendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten Ver-
    zicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann, und seine
    erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren
    läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phantasiewelt zur
    Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phanta-
    sien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten gestaltet, die von
    den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung
    zugelassen werden. Er wird so auf eine gewisse Weise wirklich
    der Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne
    den gewaltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der
    Außenwelt einzuschlagen. Er kann dies aber nur darum errei-
    chen, weil die anderen Menschen die nämliche Unzufriedenheit
    mit dem real erforderlichen Verzicht verspüren wie er selbst,
    weil diese bei der Ersetzung des Lustprinzips durch das Rea-
    litätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst ein Stück
    der Realität ist.1)

    7. Während das Ich die Umwandlung vom Lust‑Ich zum 
    Real‑Ich durchmacht, erfahren die Sexualtriebe jene Verände-
    rungen, die sie vom anfänglichen Autoerotismus durch verschie-
    dene Zwischenphasen zur Objektliebe im Dienste der Fort-
    pflanzungsfunktion führen. Wenn es richtig ist, daß jede Stufe
    dieser beiden Entwicklungsgänge zum Sitz einer Disposition für
    spätere neurotische Erkrankung werden kann, liegt es nahe, die
    Entscheidung über die Form der späteren Erkrankung (die 
    Neurosenwahl) davon abhängig zu machen, in welcher Phase

    1) Vgl. Ähnliches bei O. Rank, Der Künstler, Wien 1907.

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    der Ich‑ und der Libidoentwicklung die disponierende Ent-
    wicklungshemmung eingetroffen ist. Die noch nicht studierten
    zeitlichen Charaktere der beiden Entwicklungen, deren mögliche
    Verschiebung gegeneinander, kommen so zu unvermuteter Be-
    deutung.

    8. Der befremdendste Charakter der unbewußten (ver-
    drängten) Vorgänge, an den sich jeder Untersucher nur mit
    großer Selbstüberwindung gewöhnt, ergibt sich daraus, daß bei
    ihnen die Realitätsprüfung nichts gilt, die Denkrealität gleich-
    gesetzt wird der äußeren Wirklichkeit, der Wunsch der Erfüllung,
    dem Ereignis, wie es sich aus der Herrschaft des alten Lust-
    prinzips ohneweiters ableitet. Darum wird es auch so schwer,
    unbewußte Phantasien von unbewußt gewordenen Erinnerungen
    zu unterscheiden. Man lasse sich aber nie dazu verleiten, die
    Realitätswertung in die verdrängten psychischen Bildungen ein-
    zutragen und etwa Phantasien darum für die Symptombildung
    gering zu schätzen, weil sie eben keine Wirklichkeiten sind, oder
    ein neurotisches Schuldgefühl anderswoher abzuleiten, weil sich
    kein wirklich ausgeführtes Verbrechen nachweisen läßt. Man hat
    die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem
    Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist, in un-
    serem Falle der neurotischen Währung. Man versuche z. B. 
    einen Traum wie den folgenden zu lösen. Ein Mann, der einst
    seinen Vater während seiner langen und qualvollen Todeskrank-
    heit gepflegt, berichtet, daß er in den nächsten Monaten nach
    dessen Ableben wiederholt geträumt habe: der Vater sei
    wieder am Leben und er spreche mit ihm wie sonst.
    Dabei habe er es aber äußerst schmerzlich empfun-
    den, daß der Vater doch schon gestorben war und es
    nur nicht wußte
    . Kein anderer Weg führt zum Verständnis
    des widersinnig klingenden Traumes, als die Anfügung „nach
    seinem Wunsch“ oder „infolge seines Wunsches“ nach den
    Worten „daß der Vater doch schon gestorben war“ und der Zusatz,
    „daß er es wünschte“ zu den letzten Worten. Der Traum-
    gedanke lautet dann: Es sei eine schmerzliche Erinnerung für
    ihn, daß er dem Vater den Tod (als Erlösung) wünschen mußte,
    als er noch lebte, und wie schrecklich, wenn der Vater dies ge-
    ahnt hätte. Es handelt sich dann um den bekannten Fall der

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    Selbstvorwürfe nach dem Verlust einer geliebten Person, und
    der Vorwurf greift in diesem Beispiel auf die infantile Bedeu-
    tung des Todeswunsches gegen den Vater zurück.

    Die Mängel dieses kleinen, mehr vorbereitenden als aus-
    führenden Aufsatzes sind vielleicht nur zum geringen Anteil
    entschuldigt, wenn ich sie für unvermeidlich ausgebe. In den
    wenigen Sätzen über die psychischen Folgen der Adaptierung
    an das Realitätsprinzip mußte ich Meinungen andeuten, die ich
    lieber noch zurückgehalten hätte und deren Rechtfertigung
    gewiß keine kleine Mühe kosten wird. Doch will ich hoffen,
    daß es wohlwollenden Lesern nicht entgehen wird, wo auch in
    dieser Arbeit die Herrschaft des Realitätsprinzips beginnt.