Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens 1911-001/1931
1911-001/1931 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
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    FORMULIERUNGEN ÜBER DIE
    ZWEI PRINZIPIEN DES
    PSYCHISCHEN GESCHEHENS

    (1911)

    Wir haben seit langem gemerkt, daß jede Neurose die Folge,
    also wahrscheinlich die Tendenz habe, den Kranken aus dem
    realen Leben herauszudrängen, ihn der Wirklichkeit zu ent-
    fremden. Eine derartige Tatsache konnte auch der Beobachtung
    P. Janets nicht entgehen; er sprach von einem  Verluste „de
    la fonction du réel
     als von einem besonderen Charakter der
    Neurotiker, ohne aber den Zusammenhang dieser Störung mit
    den Grundbedingungen der Neurose aufzudecken.1

    Die Einführung des Verdrängungsprozesses in die Genese
    der Neurose hat uns gestattet, in diesen Zusammenhang Ein-
    sicht zu nehmen. Der Neurotiker wendet sich von der Wirk-
    lichkeit ab, weil er sie – ihr Ganzes oder Stücke derselben –
    unerträglich findet. Den extremsten Typus dieser Abwendung
    von der Realität zeigen uns gewisse Fälle von halluzinatori-
    scher Psychose, in denen jenes Ereignis verleugnet werden soll,
    welches den Wahnsinn hervorgerufen hat (Griesinger).
    Eigentlich tut aber jeder Neurotiker mit einem Stückchen der

    1 P. Janet, Les Névroses. 1909. Bibliothèque de Philosophie
    scientifique.

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    Realität das gleiche.2 Es erwächst uns nun die Aufgabe, die
    Beziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur
    Realität auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psy-
    chologische Bedeutung der realen Außenwelt in das Gefüge
    unserer Lehren aufzunehmen.

    Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psy-
    chologie gewöhnt, die unbewußten seelischen Vorgänge zum
    Ausgange zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die
    Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren,
    primären, für Überreste aus einer Entwicklungsphase, in wel-
    cher sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die
    oberste Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen,
    ist leicht zu erkennen; sie wird als das Lust‑Unlust‑Prinzip
    (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge
    streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche
    Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zu-
    rück (Verdrängung). Unser nächtliches Träumen, unsere Wach-
    tendenz, uns von peinlichen Eindrücken loszureißen, sind Reste von
    der Herrschaft dieses Prinzips und Beweise für dessen Mächtigkeit.

    Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer
    Stelle (im allgemeinen Abschnitt der Traumdeutung) ent-
    wickelt habe, wenn ich supponiere, daß der psychische Ruhe-
    zustand anfänglich durch die gebieterischen Forderungen der
    inneren Bedürfnisse gestört wurde. In diesem Falle wurde das
    Gedachte (Gewünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt, wie
    es heute noch allnächtlich mit unseren Traumgedanken ge-
    schieht.3 Erst das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die

    2 Eine merkwürdig klare Ahnung dieser Verursachung hat kürz-
    lich Otto Rank in einer Stelle Schopenhauers aufgezeigt.
    (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Band. Siehe Zentralblatt
    für Psychoanalyse, Heft 1/2, 1910.)

    3 Der Schlafzustand kann das Ebenbild des Seelenlebens vor der
    Anerkennung der Realität wiederbringen, weil er die absichtliche
    Verleugnung derselben (Schlafwunsch) zur Voraussetzung nimmt.

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    Enttäuschung, hatte zur Folge, daß dieser Versuch der Be-
    friedigung auf halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde.
    Anstatt seiner mußte sich der psychische Apparat entschließen,
    die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die
    reale Veränderung anzustreben. Damit war ein neues Prinzip
    der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde nicht mehr vor-
    gestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es
    unangenehm sein sollte.4 Diese Einsetzung des Realitäts-
    prinzips
     erwies sich als ein folgenschwerer Schritt.

    1) Zunächst machten die neuen Anforderungen eine Reihe
    von Adaptierungen des psychischen Apparats nötig, die wir

    4 Ich will versuchen, die obige schematische Darstellung durch
    einige Ausführungen zu ergänzen: Es wird mit Recht eingewendet
    werden, daß eine solche Organisation, die dem Lustprinzip frönt
    und die Realität der Außenwelt vernachlässigt, sich nicht die kür-
    zeste Zeit am Leben erhalten könnte, so daß sie überhaupt nicht
    hätte entstehen können. Die Verwendung einer derartigen Fiktion
    rechtfertigt sich aber durch die Bemerkung, daß der Säugling, wenn
    man nur die Mutterpflege hinzunimmt, ein solches psychisches Sy-
    stem nahezu realisiert. Er halluziniert wahrscheinlich die Erfüllung
    seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine Unlust bei steigendem Reiz
    und ausbleibender Befriedigung durch die motorische Abfuhr des
    Schreiens und Zappelns und erlebt darauf die halluzinierte Befrie-
    digung. Er erlernt es später als Kind, diese Abfuhräußerungen ab-
    sichtlich als Ausdrucksmittel zu gebrauchen. Da die Säuglings-
    pflege das Vorbild der späteren Kinderfürsorge ist, kann die Herr-
    schaft des Lustprinzips eigentlich erst mit der vollen psychischen
    Ablösung von den Eltern ein Ende nehmen. – Ein schönes Beispiel
    eines von den Reizen der Außenwelt abgeschlossenen psychischen
    Systems, welches selbst seine Ernährungsbedürfnisse autistisch (nach
    einem Worte Bleulers) befriedigen kann, gibt das mit seinem
    Nahrungsvorrat in die Eischale eingeschlossene Vogelei, für das sich
    die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt. – Ich werde
    es nicht als Korrektur, sondern nur als Erweiterung des in Rede
    stehenden Schemas ansehen, wenn man für das nach dem Lust-
    prinzip lebende System Einrichtungen fordert, mittels deren es sich
    den Reizen der Realität entziehen kann. Diese Einrichtungen sind
    nur das Korrelat der „Verdrängung“, welche innere Unlustreize so
    behandelt, als ob sie äußere wären, sie also zur Außenwelt schlägt.

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    infolge von ungenügender oder unsicherer Einsicht nur ganz
    beiläufig aufführen können.

    Die erhöhte Bedeutung der äußeren Realität hob auch die
    Bedeutung der jener Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane
    und des an sie geknüpften Bewußtseins, welches außer
    den bisher allein interessanten Lust‑ und Unlustqualitäten die
    Sinnesqualitäten auffassen lernte. Es wurde eine besondere
    Funktion eingerichtet, welche die Außenwelt periodisch ab-
    zusuchen hatte, damit die Daten derselben im vorhinein be-
    kannt wären, wenn sich ein unaufschiebbares inneres Be-
    dürfnis einstellte, die Aufmerksamkeit. Diese Tätig-
    keit geht den Sinneseindrücken entgegen, anstatt ihr Auftreten
    abzuwarten. Wahrscheinlich wurde gleichzeitig damit ein Sy-
    stem von Merken eingesetzt, welches die Ergebnisse dieser
    periodischen Bewußtseinstätigkeit zu deponieren hatte, ein
    Teil von dem, was wir Gedächtnis heißen.

    An Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auf-
    tauchenden Vorstellungen als unlusterzeugend von der Be-
    setzung ausschloß, trat die unparteiische Urteilsfällung,
    welche entscheiden sollte, ob eine bestimmte Vorstellung wahr
    oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder
    nicht, und durch Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der
    Realität darüber entschied.

    Die motorische Abfuhr, die während der Herrschaft des
    Lustprinzips zur Entlastung des seelischen Apparats von Reiz-
    zuwächsen gedient hatte und dieser Aufgabe durch ins Innere
    des Körpers gesandte Innervationen (Mimik, Affektäußerun-
    gen) nachgekommen war, erhielt jetzt eine neue Funktion,
    indem sie zur zweckmäßigen Veränderung der Realität ver-
    wendet wurde. Sie wandelte sich zum Handeln.

    Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Ab-
    fuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß be-
    sorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das

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    Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem
    seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung
    während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im
    wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Be-
    setzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr)
    derselben. Dazu war eine Überführung der frei verschieb-
    baren Besetzungen in gebundene erforderlich, und eine solche
    wurde mittels einer Niveauerhöhung des ganzen Besetzungs-
    vorganges erreicht. Das Denken war wahrscheinlich ursprüng-
    lich unbewußt, insoweit es sich über das bloße Vorstellen er-
    hob und sich den Relationen der Objekteindrücke zuwendete,
    und erhielt weitere für das Bewußtsein wahrnehmbare Quali-
    täten erst durch die Bindung an die Wortreste.

    2) Eine allgemeine Tendenz unseres seelischen Apparats,
    die man auf das ökonomische Prinzip der Aufwandersparnis
    zurückführen kann, scheint sich in der Zähigkeit des Fest-
    haltens an den zur Verfügung stehenden Lustquellen und in
    der Schwierigkeit des Verzichts auf dieselben zu äußern. Mit
    der Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denk-
    tätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei
    gehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen blieb.5 Es
    ist dies das Phantasieren, welches bereits mit dem
    Spielen der Kinder beginnt und später als Tagträumen 
    fortgesetzt die Anlehnung an reale Objekte aufgibt.

    3) Die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitäts-
    prinzip mit den aus ihr hervorgehenden psychischen Folgen,
    die hier in einer schematisierenden Darstellung in einen ein-
    zigen Satz gebannt ist, vollzieht sich in Wirklichkeit nicht auf
    einmal und nicht gleichzeitig auf der ganzen Linie. Während

    5 Ähnlich wie eine Nation, deren Reichtum auf der Ausbeutung
    ihrer Bodenschätze beruht, doch ein bestimmtes Gebiet reserviert,
    das im Urzustand belassen und von den Veränderungen der Kultur
    verschont werden soll (Yellowstonepark).

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    aber diese Entwicklung an den Ichtrieben vor sich geht, lösen
    sich die Sexualtriebe in sehr bedeutsamer Weise von ihnen
    ab. Die Sexualtriebe benehmen sich zunächst autoerotisch, sie
    finden ihre Befriedigung am eigenen Leib und gelangen daher
    nicht in die Situation der Versagung, welche die Einsetzung
    des Realitätsprinzips erzwungen hat. Wenn dann später bei
    ihnen der Prozeß der Objektfindung beginnt, erfährt er als-
    bald eine lange Unterbrechung durch die Latenzzeit, welche
    die Sexualentwicklung bis zur Pubertät verzögert. Diese bei-
    den Momente – Autoerotismus und Latenzperiode – haben
    zur Folge, daß der Sexualtrieb in seiner psychischen Aus-
    bildung aufgehalten wird und weit länger unter der Herr-
    schaft des Lustprinzips verbleibt, welcher er sich bei vielen
    Personen überhaupt niemals zu entziehen vermag.

    Infolge dieser Verhältnisse stellt sich eine nähere Beziehung
    her zwischen dem Sexualtrieb und der Phantasie einerseits, den
    Ichtrieben und den Bewußtseinstätigkeiten anderseits. Diese
    Beziehung tritt uns bei Gesunden wie Neurotikern als eine sehr
    innige entgegen, wenngleich sie durch diese Erwägungen aus
    der genetischen Psychologie als eine sekundäre erkannt
    wird. Der fortwirkende Autoerotismus macht es möglich, daß
    die leichtere momentane und phantastische Befriedigung am
    Sexualobjekte so lange an Stelle der realen, aber Mühe und
    Aufschub erfordernden, festgehalten wird. Die Verdrängung
    bleibt im Reiche des Phantasierens allmächtig; sie bringt es
    zustande, Vorstellungen in statu nascendi, ehe sie dem Be-
    wußtsein auffallen können, zu hemmen, wenn deren Besetzung
    zur Unlustentbindung Anlaß geben kann. Dies ist die
    schwache Stelle unserer psychischen Organisation, die dazu
    benutzt werden kann, um bereits rationell gewordene Denk-
    vorgänge wieder unter die Herrschaft des Lustprinzips zu
    bringen. Ein wesentliches Stück der psychischen Disposition
    zur Neurose ist demnach durch die verspätete Erziehung des

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    Sexualtriebs zur Beachtung der Realität und des weiteren
    durch die Bedingungen, welche diese Verspätung ermöglichen,
    gegeben.

    4) Wie das Lust‑Ich nichts anderes kann als wünschen,
    nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so
    braucht das Real‑Ich nichts anderes zu tun als nach Nutzen 
    zu streben und sich gegen Schaden zu sichern.6 In Wirklich-
    keit bedeutet die Ersetzung des Lustprinzips durch das Reali-
    tätsprinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine
    Sicherung desselben. Eine momentane, in ihren Folgen un-
    sichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum, um auf dem
    neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu gewinnen.
    Doch ist der endo­psychische Eindruck dieser Ersetzung ein so
    mächtiger gewesen, daß er sich in einem besonderen religiösen
    Mythus spiegelt. Die Lehre von der Belohnung im Jenseits
    für den – freiwilligen oder aufgezwungenen – Verzicht auf
    irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion
    dieser psychischen Umwälzung. Die Religionen haben in
    konsequenter Verfolgung dieses Vorbildes den absoluten Lust-
    verzicht im Leben gegen Versprechen einer Entschädigung in
    einem künftigen Dasein durchsetzen können; eine Überwin-
    dung des Lustprinzips haben sie auf diesem Wege nicht er-
    reicht. Am ehesten gelingt diese Überwindung der Wissen-
    schaft
    , die aber auch intellektuelle Lust während der Arbeit
    bietet und endlichen praktischen Gewinn verspricht.

    5) Die Erziehung kann ohne weitere Bedenken als An-
    regung zur Überwindung des Lustprinzips, zur Ersetzung des-
    selben durch das Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will
    also jenem das Ich betreffenden Entwicklungsprozeß eine

    6 Den Vorzug des Real‑Ichs vor dem Lust‑Ich drückt Bernard
    Shaw treffend in den Worten aus: To be able to choose the line
    of greatest advantage instead of yielding in the direction of the
    least resistance
    .
    (Man and Superman. A comedy and a philosophy.)​​​​​​​

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    Nachhilfe bieten, bedient sich zu diesem Zwecke der Liebes-
    prämien von seiten der Erzieher und schlägt darum fehl, wenn
    das verwöhnte Kind glaubt, daß es diese Liebe ohnedies be-
    sitzt und ihrer unter keinen Umständen verlustig werden
    kann.

    6) Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine
    Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist
    ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität ab-
    wendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst geforderten
    Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann, und
    seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben
    gewähren läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phan-
    tasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen
    seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten ge-
    staltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der
    Realität zur Geltung zugelassen werden. Er wird so auf eine
    gewisse Weise wirklich der Held, König, Schöpfer, Liebling,
    der er werden wollte, ohne den gewaltigen Umweg über die
    wirkliche Veränderung der Außenwelt einzuschlagen. Er kann
    dies aber nur darum erreichen, weil die anderen Menschen die
    nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen Ver-
    zicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung des
    Lustprinzips durch das Realitätsprinzip resultierende Un-
    zufriedenheit selbst ein Stück der Realität ist.7

    7) Während das Ich die Umwandlung vom Lust‑Ich 
    zum Real‑Ich durchmacht, erfahren die Sexualtriebe
    jene Veränderungen, die sie vom anfänglichen Autoerotismus
    durch verschiedene Zwischenphasen zur Objektliebe im
    Dienste der Fortpflanzungsfunktion führen. Wenn es richtig
    ist, daß jede Stufe dieser beiden Entwicklungsgänge zum Sitz
    einer Disposition für spätere neurotische Erkrankung werden

    7 Vgl. Ähnliches bei O. Rank, Der Künstler, Wien 1907.

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    kann, liegt es nahe, die Entscheidung über die Form der
    späteren Erkrankung (die Neurosenwahl) davon ab-
    hängig zu machen, in welcher Phase der Ich‑ und der Libido-
    entwicklung die disponierende Entwicklungshemmung ein-
    getroffen ist. Die noch nicht studierten zeitlichen Charaktere
    der beiden Entwicklungen, deren mögliche Verschiebung ge-
    geneinander, kommen so zu unvermuteter Bedeutung.

    8) Der befremdendste Charakter der unbewußten (verdräng-
    ten) Vorgänge, an den sich jeder Untersucher nur mit großer
    Selbstüberwindung gewöhnt, ergibt sich daraus, daß bei ihnen
    die Realitätsprüfung nichts gilt, die Denkrealität gleichgesetzt
    wird der äußeren Wirklichkeit, der Wunsch der Erfüllung,
    dem Ereignis, wie es sich aus der Herrschaft des alten Lust-
    prinzips ohneweiters ableitet. Darum wird es auch so schwer,
    unbewußte Phantasien von unbewußt gewordenen Erinnerun-
    gen zu unterscheiden. Man lasse sich aber nie dazu verleiten,
    die Realitätswertung in die verdrängten psychischen Bildun-
    gen einzutragen und etwa Phantasien darum für die Sym-
    ptombildung gering zu schätzen, weil sie eben keine Wirklich-
    keiten sind, oder ein neurotisches Schuldgefühl anderswoher
    abzuleiten, weil sich kein wirklich ausgeführtes Verbrechen
    nachweisen läßt. Man hat die Verpflichtung, sich jener Wäh-
    rung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht,
    eben die herrschende ist, in unserem Falle der neuro-
    tischen Währung
    . Man versuche z. B., einen Traum
    wie den folgenden zu lösen. Ein Mann, der einst seinen Vater
    während seiner langen und qualvollen Todeskrankheit ge-
    pflegt, berichtet, daß er in den nächsten Monaten nach dessen
    Ableben wiederholt geträumt habe: der Vater sei wieder am
    Leben und er spreche mit ihm wie sonst. Dabei habe er es
    aber äußerst schmerzlich empfunden, daß der Vater doch
    schon gestorben war und es nur nicht wußte
    . Kein anderer
    Weg führt zum Verständnis des widersinnig klingenden

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    Traumes, als die Anfügung „nach seinem Wunsch“ oder „in-
    folge seines Wunsches“ nach den Worten, „daß der Vater
    doch gestorben war“ und der Zusatz, „daß er es wünschte“,
    zu den letzten Worten. Der Traumgedanke lautet dann: Es
    sei eine schmerzliche Erinnerung für ihn, daß er dem Vater
    den Tod (als Erlösung) wünschen mußte, als er noch lebte,
    und wie schrecklich, wenn der Vater dies geahnt hätte. Es
    handelt sich dann um den bekannten Fall der Selbstvorwürfe
    nach dem Verlust einer geliebten Person, und der Vorwurf
    greift in diesem Beispiel auf die infantile Bedeutung des
    Todeswunsches gegen den Vater zurück.

    Die Mängel dieses kleinen, mehr vorbereitenden als aus-
    führenden Aufsatzes sind vielleicht nur zum geringen Anteil
    entschuldigt, wenn ich sie für unvermeidlich ausgebe. In den
    wenigen Sätzen über die psychischen Folgen der Adaptierung
    an das Realitätsprinzip mußte ich Meinungen andeuten, die
    ich lieber noch zurückgehalten hätte und deren Rechtferti-
    gung gewiß keine kleine Mühe kosten wird. Doch will ich
    hoffen, daß es wohlwollenden Lesern nicht entgehen wird,
    wo auch in dieser Arbeit die Herrschaft des Realitätsprin-
    zips beginnt.