Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (Separatabdruck) 1911-001/1911.2
1911-001/1911.2 Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (Separatabdruck)
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    Sonderabdruck aus dem Jahrbuch für psychoanalytische
    und psychopathologische Forschungen, Band III.

    Formulierungen über die zwei Prinzipien
    des psychischen Geschehens.

    Von Sigm. Freud (Wien).

     

    Wir haben seit langem gemerkt, daß jede Neurose die Folge,
    also wahrscheinlich die Tendenz habe, den Kranken aus dem realen
    Leben herauszudrängen, ihn der Wirklichkeit zu entfremden. Eine der-
    artige Tatsache konnte auch der Beobachtung P. Janets nicht ent-
    gehen; er sprach von einem Verluste „de la fonction du réel als von
    einem besonderen Charakter der Neurotiker, ohne aber den Zusammen-
    hang dieser Störung mit den Grundbedingungen der Neurose auf-
    zudecken.1

    Die Einführung des Verdrängungsprozesses in die Genese der
    Neurose hat uns gestattet, in diesen Zusammenhang Einsicht zu nehmen.
    Der Neurotiker wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie –
    ihr Ganzes oder Stücke derselben – unerträglich findet. Den extrem-
    sten Typus dieser Abwendung von der Realität zeigen uns gewisse
    Fälle von halluzinatorischer Psychose, in denen jenes Ereignis ver-
    leugnet werden soll, welches den Wahnsinn hervorgerufen hat (Grie-
    singer)
    . Eigentlich tut aber jeder Neurotiker mit einem Stückchen
    der Realität das gleiche.2 Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Be-
    ziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität
    auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Be-
    deutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren aufzu-
    nehmen.

    1 P. Janet, Les Névroses. 1909. Bibliothèque de Philosophie scientifique.

    2 Eine merkwürdig klare Ahnung dieser Verursachung hat kürzlich Otto
    Rank
    in einer Stelle Schopenhauers aufgezeigt. (Die Welt als Wille und
    Vorstellung, 2. Band. Siehe Zentralblatt für Psychoanalyse, Heft 1/2, 1910.)

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    Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psychologie
    gewöhnt, die unbewußten seelischen Vorgänge zum Ausgang zu nehmen,
    deren Eigentümlichkeiten uns durch die Analyse bekannt worden sind.
    Wir halten diese für die älteren, primären, für Überreste aus einer
    Entwicklungsphase, in welcher sie die einzige Art von seelischen Vor-
    gängen waren. Die oberste Tendenz, welcher diese primären Vor-
    gänge gehorchen, ist leicht zu erkennen; sie wird als das Lust‑Unlust‑
    Prinzip (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge
    streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust
    erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück (Verdrän-
    gung). Unser nächtliches Träumen, unsere Wachtendenz, uns von
    peinlichen Eindrücken loszureißen, sind Reste von der Herrschaft
    dieses Prinzips und Beweise für dessen Mächtigkeit.

    Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer Stelle
    (im allgemeinen Abschnitt der Traumdeutung) entwickelt habe, wenn
    ich supponiere, daß der psychische Ruhezustand anfänglich durch die
    gebieterischen Forderungen der inneren Bedürfnisse gestört wurde. In
    diesem Falle wurde das Gedachte (Gewünschte) einfach halluzinatorisch
    gesetzt, wie es heute noch allnächtlich mit unseren Traumgedanken
    geschieht.1 Erst das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die Ent-
    täuschung, hatte zur Folge, daß dieser Versuch der Befriedigung auf
    halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde. Anstatt seiner mußte
    sich der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse der
    Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzustreben. Damit
    war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde
    nicht mehr vorgestellt was angenehm, sondern was real war, auch
    wenn es unangenehm sein sollte2. Diese Einsetzung des Realitäts-
    prinzips
     erwies sich als ein folgenschwerer Schritt.

    1 Der Schlafzustand kann das Ebenbild des Seelenlebens vor der An-
    erkennung der Realität wiederbringen, weil er die absichtliche Verleugnung
    derselben (Schlafwunsch) zur Voraussetzung nimmt.

    Ich will versuchen, die obige schematische Darstellung durch einige
    Ausführungen zu ergänzen: Es wird mit Recht eingewendet werden, daß eine
    solche Organisation, die dem Lustprinzip fröhnt und die Realität der Außenwelt
    vernachlässigt, sich nicht die kürzeste Zeit am Leben erhalten könnte, so daß sie
    überhaupt nicht hätte entstehen können. Die Verwendung einer derartigen Fiktion
    rechtfertigt sich aber durch die Bemerkung, daß der Säugling, wenn man nur die
    Mutterpflege hinzunimmt, ein solches psychisches System nahezu realisiert. Er
    halluziniert wahrscheinlich die Erfüllung seiner inneren Bedürfnisse, verrät seine
    Unlust bei steigendem Reiz und ausbleibender Befriedigung durch die motorische
    Abfuhr des Schreiens und Zappelns und erlebt darauf die halluzinierte Befriedigung.
    Er erlernt es später als Kind, diese Abfuhräußerungen absichtlich als Ausdrucks-
    mittel zu gebrauchen. Da die Säuglingspflege das Vorbild der späteren Kinder-
    fürsorge ist, kann die Herrschaft des Lustprinzips eigentlich erst mit der vollen -
    psychischen Ablösung von den Eltern ein Ende nehmen. – Ein schönes Beispiel
    eines von den Reizen der Außenwelt abgeschlossenen psychischen Systems, welches
    selbst seine Ernährungsbedürfnisse autistisch (nach einem Worte Bleulers)
    befriedigen kann, gibt das mit seinem Nahrungsvorrat in die Eischale einge-
    schlossene Vogelei, für das sich die Mutterpflege auf die Wärmezufuhr einschränkt. –
    Ich werde es nicht als Korrektur, sondern nur als Erweiterung des in Rede
    stehenden Schemas ansehen, wenn man für das nach dem Lustprinzip lebende
    System Einrichtungen fordert, mittels deren es sich den Reizen der Realität
    entziehen kann. Diese Einrichtungen sind nur das Korrelat der „Verdrängung“,
    welche innere Unlustreize so behandelt, als ob sie äußere wären, sie also zur Außen-
    welt schlägt.

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    1. Zunächst machten die neuen Anforderungen eine Reihe von
    Adaptierungen des psychischen Apparates nötig, die wir infolge von
    ungenügender oder unsicherer Einsicht nur ganz beiläufig aufführen
    können.

    Die erhöhte Bedeutung der äußeren Realität hob auch die Be-
    deutung der jener Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane und des
    an sie geknüpften Bewußtseins, welches außer den bisher allein
    interessanten Lust‑ und Unlustqualitäten die Sinnesqualitäten auf-
    fassen lernte. Es wurde eine besondere Funktion eingerichtet, welche
    die Außenwelt periodisch abzusuchen hatte, damit die Daten derselben
    im vorhinein bekannt wären, wenn sich ein unaufschiebbares inneres
    Bedürfnis einstellte, die Aufmerksamkeit. Diese Tätigkeit geht
    den Sinneseindrücken entgegen, anstatt ihr Auftreten abzuwarten.
    Wahrscheinlich wurde gleichzeitig damit ein System von Merken 
    eingesetzt, welches die Ergebnisse dieser periodischen Bewußtseins-
    tätigkeit zu deponieren hatte, ein Teil von dem, was wir Gedächtnis 
    heißen.

    An Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auftauchenden
    Vorstellungen als unlusterzeugend von der Besetzung ausschloß, trat
    die unparteiische Urteilsfällung, welche entscheiden sollte, ob eine
    bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, d. h. im Einklang mit der
    Realität sei oder nicht, und durch Vergleichung mit den Erinnerungs-
    spuren der Realität darüber entschied.

    Die motorische Abfuhr, die während der Herrschaft des Lust-
    prinzips zur Entlastung des seelischen Apparates von Reizzuwächsen 

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    gedient hatte und dieser Aufgabe durch ins Innere des Körpers ge-
    sandte Innervationen (Mimik, Affektäußerungen) nachgekommen war,
    erhielt jetzt eine neue Funktion, indem sie zur zweckmäßigen Ver-
    änderung der Realität verwendet wurde. Sie wandelte sich zum 
    Handeln.

    Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr
    (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt, welcher sich
    aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften
    ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der er-
    höhten Reizspannung während des Aufschubes der Abfuhr ermöglichten.
    Es ist im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer
    Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) der-
    selben. Dazu war eine Überführung der frei verschiebbaren Besetzungen
    in gebundene erforderlich, und eine solche wurde mittels einer Niveau-
    erhöhung des ganzen Besetzungsvorganges erreicht. Das Denken war
    wahrscheinlich ursprünglich unbewußt, insoweit es sich über das bloße
    Vorstellen erhob und sich den Relationen der Objekteindrücke zu-
    wendete, und erhielt weitere für das Bewußtsein wahrnehmbare Qua-
    litäten erst durch die Bindung an die Wortreste.

    2. Eine allgemeine Tendenz unseres seelischen Apparates, die man
    auf das ökonomische Prinzip der Aufwandersparnis zurückführen
    kann, scheint sich in der Zähigkeit des Festhaltens an den zur Ver-
    fügung stehenden Lustquellen und an der Schwierigkeit des Verzichtes
    auf dieselben zu äußern. Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips
    wurde eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung
    frei gehalten und allein dem Lustprinzip unterworfen blieb1. Es ist
    dies das Phantasieren, welches bereits mit dem Spielen der Kinder
    beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt die Anlehnung
    an reale Objekte aufgibt.

    3. Die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip mit
    den aus ihr hervorgehenden psychischen Folgen, die hier in einer schema-
    tisierenden Darstellung in einen einzigen Satz gebannt ist, vollzieht
    sich in Wirklichkeit nicht auf einmal und nicht gleichzeitig auf der
    ganzen Linie. Während aber diese Entwicklung an den Ichtrieben

    1 Ähnlich wie eine Nation, deren Reichtum auf der Ausbeutung ihrer
    Bodenschätze beruht, doch ein bestimmtes Gebiet reserviert, das im Urzustande
    belassen und von den Veränderungen der Kultur verschont werden soll (Yellow-
    stonepark).

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    vor sich geht, lösen sich die Sexualtriebe in sehr bedeutsamer Weise
    von ihnen ab. Die Sexualtriebe benehmen sich zunächst autoerotisch,
    sie finden ihre Befriedigung am eigenen Leib und gelangen daher nicht
    in die Situation der Versagung, welche die Einsetzung des Realitäts-
    prinzips erzwungen hat. Wenn dann später bei ihnen der Prozeß der
    Objektfindung beginnt, erfährt er alsbald eine lange Unterbrechung
    durch die Latenzzeit, welche die Sexualentwicklung bis zur Pubertät
    verzögert. Diese beiden Momente – Autoerotismus und Latenzperiode
    – haben zur Folge, daß der Sexualtrieb in seiner psychischen Aus-
    bildung aufgehalten wird und weit länger unter der Herrschaft des
    Lustprinzips verbleibt, welcher er sich bei vielen Personen überhaupt
    niemals zu entziehen vermag.

    Infolge dieser Verhältnisse stellt sich eine nähere Beziehung her
    zwischen dem Sexualtrieb und der Phantasie einerseits, den Ichtrieben
    und den Bewußtseinstätigkeiten anderseits. Diese Beziehung tritt uns
    bei Gesunden wie Neurotikern als eine sehr innige entgegen, wenngleich
    sie durch diese Erwägungen aus der genetischen Psychologie als eine 
    sekundäre erkannt wird. Der fortwirkende Autoerotismus macht es
    möglich, daß die leichtere momentane und phantastische Befriedigung
    am Sexualobjekte so lange an Stelle der realen, aber Mühe und Auf-
    schub erfordernden, festgehalten wird. Die Verdrängung bleibt im
    Reiche des Phantasierens allmächtig; sie bringt es zustande, Vor-
    stellungen in statu nascendi, ehe sie dem Bewußtsein auffallen können,
    zu hemmen, wenn deren Besetzung zur Unlustentbindung Anlaß geben
    kann. Dies ist die schwache Stelle unserer psychischen Organisation,
    die dazu benutzt werden kann, um bereits rationell gewordene Denk-
    vorgänge wieder unter die Herrschaft des Lustprinzips zu bringen.
    Ein wesentliches Stück der psychischen Disposition zur Neurose
    ist demnach durch die verspätete Erziehung des Sexualtriebs zur Be-
    achtung der Realität und des weiteren durch die Bedingungen, welche
    diese Verspätung ermöglichen, gegeben.

    4. Wie das Lust‑Ich nichts anderes kann als wünschen, nach
    Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das
    Real‑Ich nichts anderes zu tun als nach Nutzen zu streben und sich
    gegen Schaden zu sichern1. In Wirklichkeit bedeutet die Ersetzung des 

    1 Den Vorzug des Real‑Ichs vor dem Lust‑Ich drückt Bernard Shaw 
    treffend in den Worten aus: To be able to choose the line of greatest advan-
    tage instead of yielding in the direction of the least resistance
    . (Man and
    Superman. A comedy and a philosophy.)

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    Lustprinzips durch das Realitätsprinzip keine Absetzung des Lust-
    prinzips, sondern nur eine Sicherung desselben. Eine momentane,
    in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum,
    um auf dem neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu
    gewinnen. Doch ist der endo­psychische Eindruck dieser Ersetzung
    ein so mächtiger gewesen, daß er sich in einem besonderen
    religiösen Mythus spiegelt. Die Lehre von der Belohnung im Jen-
    seits für den – freiwilligen oder aufgezwungenen – Verzicht auf
    irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion dieser
    psychischen Umwälzung. Die Religionen haben in konsequenter
    Verfolgung dieses Vorbildes den absoluten Lustverzicht im Leben
    gegen Versprechen einer Entschädigung in einem künftigen Dasein
    durchsetzen können; eine Überwindung des Lustprinzips haben sie
    auf diesem Wege nicht erreicht. Am ehesten gelingt diese Über-
    windung der Wissenschaft, die aber auch intellektuelle Lust während
    der Arbeit bietet und endlichen praktischen Gewinn verspricht.

    5. Die Erziehung kann ohne weitere Bedenken als Anregung
    zur Überwindung des Lustprinzips, zur Ersetzung desselben durch das
    Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will also jenem das Ich be-
    treffenden Entwicklungsprozeß eine Nachhilfe bieten, bedient sich
    zu diesem Zwecke der Liebesprämien von seiten der Erzieher, und
    schlägt darum fehl, wenn das verwöhnte Kind glaubt, daß es diese
    Liebe ohnedies besitzt und ihrer unter keinen Umständen verlustig
    werden kann.

    6. Die Kunst bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Ver-
    söhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist ursprünglich
    ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit
    dem von ihr zunächst geforderten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht
    befreunden kann, und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im
    Phantasieleben gewähren läßt. Er findet aber den Rückweg aus dieser
    Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen
    seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten gestaltet, die
    von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung
    zugelassen werden. Er wird so auf eine gewisse Weise wirklich der
    Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den ge-
    waltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt ein-
    zuschlagen. Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen
    Menschen die nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen
    Verzicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung des Lustprinzips

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    durch das Realitätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst
    ein Stück der Realität ist.1

    7. Während das Ich die Umwandlung vom Lust‑Ich zum Real‑
    Ich 
    durchmacht, erfahren die Sexualtriebe jene Veränderungen, die
    sie vom anfänglichen Autoerotismus durch verschiedene Zwischen-
    phasen zur Objektliebe im Dienste der Fortpflanzungsfunktion führen.
    Wenn es richtig ist, daß jede Stufe dieser beiden Entwicklungsgänge
    zum Sitz einer Disposition für spätere neurotische Erkrankung werden
    kann, liegt es nahe, die Entscheidung über die Form der späteren Er-
    krankung (die Neurosenwahl) davon abhängig zu machen, in welcher
    Phase der Ich‑ und der Libidoentwicklung die disponierende Entwicklungs-
    hemmung eingetroffen ist. Die noch nicht studierten zeitlichen Cha-
    raktere der beiden Entwicklungen, deren mögliche Verschiebung gegen-
    einander, kommen so zu unvermuteter Bedeutung.

    8. Der befremdendste Charakter der unbewußten (verdrängten)
    Vorgänge, an den sich jeder Untersucher nur mit großer Selbstüber-
    windung gewöhnt, ergibt sich daraus, daß bei ihnen die Realitätsprüfung
    nichts gilt, die Denkrealität gleichgesetzt wird der äußeren Wirklich-
    keit, der Wunsch der Erfüllung, dem Ereignis, wie es sich aus der Herr-
    schaft des alten Lustprinzips ohne weiteres ableitet. Darum wird es
    auch so schwer, unbewußte Phantasien von unbewußt gewordenen
    Erinnerungen zu unterscheiden. Man lasse sich aber nie dazu ver-
    leiten, die Realitätswertung in die verdrängten psychischen Bildungen
    einzutragen und etwa Phantasien darum für die Symptombildung
    gering zu schätzen, weil sie eben keine Wirklichkeiten sind, oder ein
    neurotisches Schuldgefühl anderswoher abzuleiten, weil sich kein
    wirklich ausgeführtes Verbrechen nachweisen läßt. Man hat die Ver-
    pflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das
    man durchforscht, eben die herrschende ist, in unserem Falle der 
    neurotischen Währung. Man versuche z. B., einen Traum wie
    den folgenden zu lösen. Ein Mann, der einst seinen Vater während
    seiner langen und qualvollen Todeskrankheit gepflegt, berichtet, daß
    er in den nächsten Monaten nach dessen Ableben wiederholt geträumt
    habe: der Vater sei wieder am Leben und er spreche mit ihm
    wie sonst. Dabei habe er es aber äußerst schmerzlich emp-
    funden, daß der Vater doch schon gestorben war und es
    nur nicht wußte
    . Kein anderer Weg führt zum Verständnis des

    1 Vgl. Ähnliches bei O. Rank, Der Künstler, Wien 1907.

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    widersinnig klingenden Traumes, als die Anfügung „nach seinem
    Wunsch“ oder „infolge seines Wunsches“ nach den Worten „daß
    der Vater doch schon gestorben war“ und der Zusatz „daß er es wünschte“
    zu den letzten Worten. Der Traumgedanke lautet dann: Es sei eine
    schmerzliche Erinnerung für ihn, daß er dem Vater den Tod (als Er-
    lösung) wünschen mußte, als er noch lebte, und wie schrecklich, wenn
    der Vater dies geahnt hätte. Es handelt sich dann um den bekannten
    Fall der Selbstvorwürfe nach dem Verlust einer geliebten Person, und
    der Vorwurf greift in diesem Beispiel auf die infantile Bedeutung des
    Todeswunsches gegen den Vater zurück.

    Die Mängel dieses kleinen, mehr vorbereitenden als ausführenden
    Aufsatzes sind vielleicht nur zum geringen Anteil entschuldigt, wenn
    ich sie für unvermeidlich ausgebe. In den wenigen Sätzen über die
    psychischen Folgen der Adaptierung an das Realitätsprinzip mußte
    ich Meinungen andeuten, die ich lieber noch zurückgehalten hätte
    und deren Rechtfertigung gewiß keine kleine Mühe kosten wird. Doch
    will ich hoffen, daß es wohlwollenden Lesern nicht entgehen wird, wo
    auch in dieser Arbeit die Herrschaft des Realitätsprinzips beginnt.