Die Ichspaltung im Abwehrvorgang 1938-102/1938
1938-102/1938 Die Ichspaltung im Abwehrvorgang
Zurück zum Werk
  • S.

    1

     2/I 38

    Die Ichspaltung als im Abwehrmechanismusvorgang

    von
    Sigm Freud

     

    Ich befinde mich einen Moment lang in 
    der interessanten Lage nicht zu wissen, 
    ob das, was ich mitteilen will, als längst 
    bekannt und selbstverständlich oder als 
    völlig neu und befremdend gewertet 
    werden soll. Ich glaube aber eher 
    das letztere.

    Es ist mir endlich aufgefallen, dass das 
    jugendliche Ich der Person, die man 
    Jahrzehnte später als analytischen Patienten 
    kennen lernt, sich in bestim̄ten Situationen 
    der Bedrängnis in merkwürdiger Weise 
    benommen hat. Die Bedingung hiefür 
    kann man allgemein und eher unbestim̄t 
    angeben, wenn man sagt, es geschieht 
    unter der Einwirkung eines psychischen 
    Traumas. Ich ziehe es vor, einen scharf 
    umschriebenen Einzelfall hervorzuheben, 
    der gewiss nicht alle Möglichkeiten 
    der Verursachung deckt. Das Ich des 
    Kindes befinde sich also im Dienste 
    eines mächtigen Triebanspruchs, den 
    zu befriedigen es gewohnt ist, und wird 
    plötzlich durch ein Erlebnis geschreckt, das 
    ihn lehrt, die Fortsetzung dieser Befried-
    igung werde eine schwer erträgliche 
    reale Gefahr zur Folge haben. Es soll 
    sich nun entscheiden: entweder die 
    reale Gefahr anerken̄en, sich vor ihr 
    beugen und auf die Triebbefriedigung 
    verzichten, oder die Realität verleug-
    nen, sich glauben machen, dass kein 
    Grund zum Fürchten besteht, damit 
    es an der Befriedigung festhalten 
    kann. Es ist also ein Konflikt zwischen 
    dem Anspruch des Triebes und dem 
    Einspruch der Realität. Das Kind thut 
    aber keines von beiden, oder viel-
    mehr, es thut gleichzeitig beides, was 
    auf dasselbe hinaus kom̄t. Es antwortet 
    auf den Konflikt mit zwei entgegen-
    gesetzten Reaktionen, beide giltig 
    und wirksam. Einerseits weist es 
    mit Hilfe bestim̄ter Mechanismen die 
    Realität ab und läßt sich nichts ver-
    bieten, anderseits anerkennt es im 
    gleichen Atem die Gefahr der Realität, 

  • S.

    2

    nim̄t die Angst vor ihr als Leidenssymptom 
    auf sich und sucht sich später ihrer zu erwehren. 

    Man muss zugeben, das ist eine sehr ge-
    schickte Lösung der Schwierigkeit. Beide 
    streitende Parteien haben ihr Teil be-
    kom̄en; der Trieb darf seine Befriedigung 
    behalten, der Realität ist der gebührende 
    Respekt gezollt worden. Aber umsonst 
    ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg 
    wurde erreicht auf Kosten eines Einrißes 
    im Ich, der nie wieder verheilen 
    aber sich mit der Zeit vergrößern wird. Die 
    beiden entgegengesetzten Reaktionen 
    auf den Konflikt bleiben als Kern 
    einer Ichspaltung bestehen. Der ganze 
    Vorgang erscheint ¿ uns so sonderbar 
    weil wir die Synthese der Ichvorgänge 
    für etwas Selbstverständliches halten. 
    Aber wir haben offenbar darin 
    Unrecht. Die so außerordentlich wichtige 
    synthetische Funktion des Ichs hat ihre 
    besonderen Bedingungen und unter-
    liegt einer ganzen Reihe von 
    Störungen.

    Es kann nur von Vorteil sein, wenn 
    ich in diese schematische Darstellung die 
    Daten einer besonderen Krankengeschichte 
    einsetze. Ein Knabe hat im Alter zwischen 
    drei und vier Jahren das weibliche Geni-
    tale ken̄en gelernt durch Verführung 
    von Seiten eines älteren Mädchens. Nach 
    Abbruch dieser Beziehungen setzt er die 
    so empfangene sexuelle Anregung in 
    eifriger manueller Onanie fort, wird 
    aber bald von der energischen Kinderpfleg-
    erin ertappt und mit der Kastration 
    bedroht, deren Ausführung, wie gewöhnlich, 
    dem Vater zugeschoben wird. Die Be-
    dingungen für eine ungeheure Schreck-
    wirkung sind in diesem Falle gegeben. 
    Die Kastrationsdrohung für sich allein 
    muß nicht viel Eindruck machen, das 
    Kind verweigert ihr den Glauben, es kann 
    sich nicht leicht vorstellen, dass eine 
    Trennung von dem so hoch eingeschätzten 
    Körperteil möglich ist. Beim Anblick 
    des weiblichen Genitales hätte sich das 
    Kind von einer solchen Möglichkeit 
    überzeugen können, aber das Kind 
    hatte damals den Schluß nicht gezogen, 

  • S.

    3

    weil die Abneigung dagegen zu groß war 
    und kein Motiv vorhanden war, das ihn 
    erzwang. Im Gegenteile, was sich etwa 
    an Unbehagen regte, wurde durch die 
    Auskunft beschwichtigt, was da fehlt, wird 
    noch kom̄en, es – das Glied – wird ihr später 
    wachsen. Wer genug kleine Knaben beob-
    achtet hat, kann sich als an eine solche 
    Äußerung beim Anblick des Genitales 
    der kleinen Schwester erinnern. Anders 
    aber, wenn beide Momente zusam̄en-
    getroffen sind. Dann weckt die Drohung 
    die Erinnerung an die für harmlos 
    gehaltene Beob Wahrnehmung und findet 
    in ihr die gefürchtete Bestätigung. Der 
    Knabe glaubt jetzt zu verstehen, warum 
    das Genitale des Mädchens keinen Penis 
    zeigte und wagt es nicht mehr zu be-
    zweifeln, daß seinem eigenen Genitale 
    das Gleiche widerfahren kann. Er muß 
    fortan an an die Realität der Kastrations-
    gefahr glauben.

    Die gewöhnliche, die als normal geltende 
    Folge des Kastrationsschrecks ist nun, daß 
    der Knabe der Drohung nachgiebt, im vollen 
    oder wenigstens im partiellen Gehorsam, 
    – indem er nicht mehr die Hand ans 
    Genitale führt – entweder sofort oder 
    nach längerem Kampf, also auf die 
    Befriedigung des Triebes ganz oder teil-
    weise verzichtet. Wir sind aber darauf 
    vorbereitet, daß unser Patient sich anders 
    zu helfen wußte. Er schuf sich einen Ersatz 
    für den vermißten Penis des Weibes, 
    einen Fetisch. Damit hatte er zwar die Realität 
    verleugnet, aber seinen eigenen Penis 
    gerettet. Wenn er nicht anerken̄en mußte, 
    daß das Weib seinen ihren Penis verloren hatte, 
    so büßte die ihm erteilte Drohung ihre 
    Glaubwürdigkeit ein, dann brauchte er 
    auch für seinen Penis nicht zu fürchten, 
    konnte ungestört seine Masturbation 
    fortsetzen. Dieser Akt unseres Patienten 
    imponiert uns als eine Abwendung von 
    der Realität, als ein Vorgang, den wir 
    gern der Psychose vorbehalten auffassen 
    möchten. Er ist auch nicht viel anderes, 
    aber wir wollen doch unser Urteil 
    suspendiren, denn bei näherer Betrach-
    tung entdecken wir einen nicht un-
    wichtigen Unterschied. Der Knabe 

  • S.

    4

    hat nicht einfach seiner Wahrnehmung wider-
    sprochen, einen Penis dorthin halluzinirt, wo 
    keiner zu sehen war, sondern er hat nur 
    eine Wertverschiebung vorgenom̄en, die 
    Penisbedeutung einem anderen Körper-
    teil übertragen, wobei ihm – in hier nicht 
    anzuführender Weise – der Mechanismus 
    der Regression zu Hilfe kam. Freilich 
    betraf diese Verschiebung nur den Körper 
    des Weibes, für den eigenen Penis 
    änderte sich nichts., 

    Diese, man möchte sagen, kniffige Behand-
    lung der Realität entscheidet über 
    das praktische Benehmen des Knaben. 
    Er betreibt seine Masturbation weiter, als 
    ob sie seinem Penis keine Gefahr bringen 
    könnte aber gleichzeitig entwickelt er 
    in vollem Widerspruch zu seiner anschein-
    enden Tapferkeit oder Unbeküm̄ertheit 
    ein Symptom, welches beweist, dass er diese 
    Gefahr doch anerkennt. Es ist ihm ange-
    droht worden, dass der Vater ihn kastriren 
    wird, und unmittelbar nachher, gleich-
    zeitig mit der Schöpfung des Fetisch, tritt 
    bei ihm eine intensive Angst vor der 
    Bestrafung durch den Vater auf, die 
    ihn lange beschäftigen wird, die er 
    nur mit großem dem ganzen Aufwand seiner Männlichkeit bewältigen 
    und überkompensiren kann. 
    Auch diese Angst 
    vor dem Vater schweigt von der 
    Kastration. mit Hilfe der Regression 
    auf eine orale Phase erscheint sie 
    als Angst vom Vater gefreßen zu 
    werden. Es ist unmöglich hier nicht 
    eines urtümlichen Stücks der griech-
    ischen Mythologie zu gedenken, das 
    berichtet, wie der alte Vatergott 
    Kronos seine Kinder verschlingt und 
    auch den jüngsten Sohn Zeus verschlingen 
    will und wie der durch die List 
    der Mutter gerettete Zeus später 
    den Vater entmannt. Um aber 
    zu unserem Fall zurückzukehren 
    fügen wir hinzu, dass er noch ein ande-
    res, wenn auch geringfügiges Symptom 
    produzirte, das er bis auf den heutigen 
    Tag festgehalten hat, eine ängstliche 
    Empfindlichkeit seiner beiden kleinen 
    Zehen gegen Berührung, als ob in dem 
    sonstigen Hin und Her von Verleug-
    nung und Anerken̄ung der Kastration 
    doch noch ein deutlicherer Ausdruck zukäme.

  • S.
  • S.
  • S.