S.
716
Der Dichter und das Phantasieren.
Von
Prof. Dr. Sigm. Freud (Wien).Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese merkwürdige
Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt – etwa im Sinne der Frage, die jener
Kardinal an den Ariosto richtete –, und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen
so zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen, deren wir uns vielleicht nichtS.
717
einmal für fähig gehalten hätten. Unser Interesse hierfür wird nur gesteigert durch
den Umstand, daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen, uns keine oder keine
befriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht gestört durch unser Wissen, daß die
beste Einsicht in die Bedingungen der dichterischen Stoffwahl und in das Wesen
der poetischen Gestaltungskunst nichts dazu beitragen würde, uns selbst zu Dichtern
zu machen.Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsergleichen eine dem Dichten irgend-
wie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung derselben ließe uns
hoffen, eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und
wirklich, dafür ist Aussicht vorhanden; – die Dichter selbst lieben es ja, den Ab-
stand zwischen ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern;
sie versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke; und daß
der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde.Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde
suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Viel-
leicht dürfen wir sagen: jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, in-
dem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt
in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen,
es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst,
es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst,
sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz
aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und
Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. Nichts
anderes als diese Anlehnung unterscheidet das „Spielen“ des Kindes noch vom
„Phantasieren“.Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine
Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet
während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat diese
Verwandtschaft von Kinderspiel und poetischem Schaffen festgehalten, indem sie
solche Veranstaltungen des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objekte
bedürfen, welche der Darstellung fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel,
und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus der Un-
wirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für die
künstlerische Technik, denn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann
dies doch im Spiele der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen
können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.Verweilen wir einer anderen Beziehung wegen noch einen Augenblick bei dem
Gegensatze von Wirklichkeit und Spiel! Wenn das Kind herangewachsen ist und
aufgehört hat zu spielen, wenn es sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, dieS.
718
Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen, so kann es
eines Tages in eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen
Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich darauf besinnen,
mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er nun
seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die
allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lust-
gewinn des Humors.Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf
den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des
Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der
Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich können wir auf nichts verzichten,
wir vertauschen nur einer mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist
in Wirklichkeit eine Ersatz‑ oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwach-
sende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an reale
Effekte; anstatt zu spielen phantasiert er jetzt. Er baut sich Luftschlösser,
schafft das, was man Tagträume nennt. Ich glaube, daß die meisten Menschen
zuzeiten ihres Lebens Phantasien bilden. Es ist das eine Tatsache, die man lange
Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genug gewürdigt hat.Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als das
Spielen der Kinder. Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet mit andern
Kindern ein geschlossenes psychisches System zum Zwecke des Spieles, aber wenn
es auch den Erwachsenen nichts vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht
vor ihnen. Der Erwachsene aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie
vor anderen, er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel
lieber seine Vergehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen. Es mag vor-
kommen, daß er sich darum für den einzigen hält, der solche Phantasien bildet,
und von der allgemeinen Verbreitung ganz ähnlicher Schöpfungen bei anderen nichts
ahnt. Dies verschiedene Verhalten des Spielenden und des Phantasierenden findet seine
gute Begründung in den Motiven der beiden einander doch fortsetzenden Tätigkeiten.Das Spielen des Kindes wurde von Wünschen dirigiert, eigentlich von dem
einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft, vom Wunsche: groß und erwachsen
zu sein. Es spielt immer „groß sein“, imitiert im Spiel, was ihm vom Leben der
Großen bekannt geworden ist. Es hat nun keinen Grund, diesen Wunsch zu ver-
bergen. Anders der Erwachsene: dieser weiß einerseits, daß man von ihm er-
wartet, nicht mehr zu spielen oder zu phantasieren, sondern in der wirklichen
Welt zu handeln, und anderseits sind unter den seine Phantasien erzeugenden
Wünschen manche, die es überhaupt zu verbergen not tut; darum schämt er sich
seines Phantasierens als kindisch und als unerlaubt.S.
719
Sie werden fragen, woher man denn über das Phantasieren der Menschen so
genau Bescheid wisse, wenn es von ihnen mit soviel Geheimtun verhüllt wird?
Nun, es gibt eine Gattung von Menschen, denen zwar nicht ein Gott, aber eine
strenge Göttin – die Notwendigkeit – den Auftrag erteilt hat, zu sagen, was sie
leiden und woran sie sich erfreuen. Es sind dies die Nervösen, die dem Arzte,
von dem sie Herstellung durch psychische Behandlung erwarten, auch ihre Phan-
tasien eingestehen müssen; aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und
wir sind dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt, daß unsere Kranken
uns nicht anderes mitteilen, als was wir auch von den Gesunden erfahren könnten.Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens kennen zu lernen.
Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte
Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine
Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden
Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der
phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Haupt-
richtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung
der Persönlichkeit dienen, oder erotische. Beim jungen Weibe herrschen die eroti-
schen Wünsche fast ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebes-
streben aufgezehrt; beim jungen Mann sind neben den erotischen die eigensüchtigen
und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. Doch wollen wir nicht den Gegen-
satz beider Richtungen, sondern vielmehr deren häufige Vereinigung betonen; wie
in vielen Altarbildern in einer Ecke das Bildnis des Stifters sichtbar ist, so können
wir an den meisten ehrgeizigen Phantasien in irgend einem Winkel die Dame ent-
decken, für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er alle Erfolge
zu Füßen legt. Sie sehen, hier liegen genug starke Motive zum Verbergen vor;
dem wohlerzogenen Weibe wird ja überhaupt nur ein Minimum von erotischer Be-
dürftigkeit zugebilligt, und der junge Mann soll das Übermaß von Selbstgefühl,
welches er aus der Verwöhnung der Kindheit mitbringt, zum Zwecke der Ein-
ordnung in die an ähnlich anspruchsvollen Individuen so reiche Gesellschaft unter-
drücken lernen.Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die einzelnen Phantasien, Luft-
schlösser oder Tagträume dürfen wir uns nicht als starr und unveränderlich vor-
stellen. Sie schmiegen sich vielmehr den wechselnden Lebenseindrücken an, ver-
ändern sich mit jeder Schwankung der Lebenslage, empfangen von jedem wirk-
samen, neuen Eindrucke eine sogenannte „Zeitmarke“. Das Verhältnis der Phan-
tasie zur Zeit ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie
schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens.
Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegen-
wart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken,S.
720
greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses
zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft
bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben
den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlaß
und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zu-
künftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht.Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung erläutern. Nehmen Sie
den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, dem Sie die Adresse eines
Arbeitgebers genannt haben, bei dem er vielleicht eine Anstellung finden kann.
Auf dem Wege dahin mag er sich in einem Tagtraum ergehen, wie er angemessen
aus seiner Situation entspringt. Der Inhalt dieser Phantasie wird etwa sein, daß
er dort angenommen wird, seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unent-
behrlich macht, in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende Töchterchen
des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer wie später als Nachfolger das
Geschäft leitet. Und dabei hat sich der Träumer ersetzt, was er in der glück-
lichen Kindheit besessen, das schützende Haus, die liebenden Eltern und die ersten
Objekte seiner zärtlichen Neigung. Sie sehen an solchem Beispiel, wie der Wunsch
einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit
ein Zukunftsbild zu entwerfen.Es wäre noch vielerlei über die Phantasien zu sagen; ich will mich aber auf
die knappsten Andeutungen beschränken. Das Überwuchern und Übermächtig-
werden der Phantasien stellt die Bedingungen für den Verfall in Neurose oder
Psychose her; die Phantasien sind auch die nächsten seelischen Vorstufen der
Leidenssymptome, über welche unsere Kranken klagen. Hier zweigt ein breiter
Seitenweg zur Pathologie ab.Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum Traume.
Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie
wir durch die Deutung der Träume evident machen können.*) Die Sprache hat in
ihrer unübertrefflichen Weisheit die Frage nach dem Wesen der Träume längst
entschieden, indem sie die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch „Tagträume“
nennen ließ. Wenn trotz dieses Fingerzeiges der Sinn unserer Träume uns zu-
meist undeutlich bleibt, so rührt dies von dem einen Umstande her, daß nächtlicher-
weise auch solche Wünsche in uns rege werden, deren wir uns schämen, und die
wir vor uns selbst verbergen müssen, die eben darum verdrängt, ins Unbewußte
geschoben wurden. Solchen verdrängten Wünschen und ihren Abkömmlingen kann
nun kein anderer als ein arg entstellter Ausdruck gegönnt werden. Nachdem die
Aufklärung der Traumentstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war,*) Vg. des Verfassers „Traumdeutung“, Wien 1907.
S.
721
fiel es nicht mehr schwer zu erkennen, daß die nächtlichen Träume ebensolche
Wunscherfüllungen sind wie die Tagträume, die uns allen so wohl bekannten
Phantasien.Soviel von den Phantasien, und nun zum Dichter! Dürfen wir wirklich den
Versuch machen, den Dichter mit dem „Träumer am hellichten Tag“, seine
Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? Da drängt sich wohl eine erste
Unterscheidung auf; wir müssen die Dichter, die fertige Stoffe übernehmen wie die
alten Epiker und Tragiker, sondern von jenen, die ihre Stoffe frei zu schaffen
scheinen. Halten wir uns an die letzteren und suchen wir für unsere Vergleichung
nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden,
sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten,
die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden. An den
Schöpfungen dieser Erzähler muß uns vor allem ein Zug auffällig werden; sie
alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der
Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit
einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. Wenn ich am Ende eines
Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden blutend verlassen habe,
so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten in sorgsamster Pflege und auf dem
Wege der Herstellung zu finden, und wenn der erste Band mit dem Untergange des
Schiffes im Seesturme geendigt hat, auf dem unser Held sich befand, so bin ich
sicher, zu Anfang des zweiten Bandes von seiner wunderbaren Rettung zu lesen,
ohne die der Roman ja keinen Fortgang hätte. Das Gefühl der Sicherheit, mit
dem ich den Helden durch seine gefährlichen Schicksale begleite, ist das nämliche,
mit dem ein wirklicher Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu
retten, oder sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen;
jenes eigentliche Heldengefühl, dem einer unserer besten Dichter den köstlichen Aus-
druck geschenkt hat: „Es kann dir nix g’schehen.“*) Ich meine aber, an diesem
verräterischen Merkmal der Unverletzlichkeit erkennt man ohne Mühe – Seine
Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane.Noch andere typische Züge dieser egozentrischen Erzählungen deuten auf die
gleiche Verwandtschaft hin. Wenn sich stets alle Frauen des Romans in den Helden
verlieben, so ist das kaum als Wirklichkeitsschilderung aufzufassen, aber leicht als
notwendiger Bestand des Tagtraumes zu verstehen. Ebenso wenn die anderen Per-
sonen des Romans sich scharf in gute und böse scheiden, unter Verzicht auf die
in der Realität zu beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die „guten“
sind eben die Helfer, die „bösen“ aber die Feinde und Konkurrenten des zum
Helden gewordenen Ichs.*) Anzengruber.
S.
722
Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische Schöpfungen sich
von dem Vorbild des naiven Tagtraums weit entfernt halten, aber ich kann doch
die Vermutung nicht unterdrücken, daß auch die extremsten Abweichungen durch
eine lückenlose Reihe von Übergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt
werden könnten. Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir
aufgefallen, daß nur eine Person, wiederum der Held, von innen geschildert wird;
in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von
außen an. Der psychologische Roman verdankt im ganzen wohl seine Besonder-
heit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in
Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens
in mehreren Helden zu personifizieren. In einem ganz besonderen Gegensatz zum
Typus des Tagtraumes scheinen die Romane zu stehen, die man als „exzentrische“
bezeichnen könnte, in denen die als Held eingeführte Person die geringste tätige
Rolle spielt, vielmehr wie ein Zuschauer die Taten und Leiden der anderen an sich
vorüberziehen sieht. Solcher Art sind mehrere der späteren Romane Zolas. Doch
muß ich bemerken, daß die psychologische Analyse nicht dichtender, in manchen
Stücken von der sogenannten Norm abweichender Individuen uns analoge Variationen
der Tagträume kennen gelehrt hat, in denen sich das Ich mit der Rolle des Zu-
schauers bescheidet.Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der poetischen
Schöpfung mit dem Tagtraum, wertvoll werden soll, so muß sie sich vor allem in
irgend einer Art fruchtbar erweisen. Versuchen wir etwa, unseren vorhin auf-
gestellten Satz von der Beziehung der Phantasie zu den drei Zeiten und zum durch-
laufenden Wunsche auf die Werke der Dichter anzuwenden und die Beziehungen
zwischen dem Leben des Dichters und seinen Schöpfungen mit dessen Hilfe zu
studieren. Man hat in der Regel nicht gewußt, mit welchen Erwartungsvorstel-
lungen man an dieses Problem herangehen soll; häufig hat man sich diese Be-
ziehung viel zu einfach vorgestellt. Von der an den Phantasien gewonnenen Ein-
sicht her müßten wir folgenden Sachverhalt erwarten: Ein starkes aktuelles Erlebnis
weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges
Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung
seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen
Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser Formel; ich vermute,
daß sie sich in Wirklichkeit als ein zu dürftiges Schema erweisen wird, aber eine
erste Annäherung an den realen Sachverhalt könnte doch in ihr enthalten sein,
und nach einigen Versuchen, die ich unternommen habe, sollte ich meinen, daß
eine solche Betrachtungsweise dichterischer Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen
kann. Sie vergessen nicht, daß die vielleicht befremdende Betonung der KindheitserinnerungS.
723
im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der Voraussetzung ableitet,
daß die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen
Spielens ist.Versäumen wir nicht, auf jene Klasse von Dichtungen zurückzugreifen, in denen
wir nicht freie Schöpfungen, sondern Bearbeitungen fertiger und bekannter Stoffe
erblicken müssen. Auch dabei verbleibt dem Dichter ein Stück Selbständigkeit, das
sich in der Auswahl des Stoffes und in der oft weitgehenden Abänderung desselben
äußern darf. Soweit die Stoffe aber gegeben sind, entstammen sie dem Volksschatze
an Mythen, Sagen und Märchen. Die Untersuchung dieser völkerpsychologischen
Bildungen ist nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen
durchaus wahrscheinlich, daß sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien
ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit, entsprechen.Sie werden sagen, daß ich Ihnen von den Phantasien weit mehr erzählt habe,
als vom Dichter, den ich doch im Titel meines Vortrages vorangestellt. Ich weiß
das und versuche es durch den Hinweis auf den heutigen Stand unserer Erkenntnis
zu entschuldigen. Ich konnte Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen,
die von dem Studium der Phantasien her auf das Problem der dichterischen Stoff-
wahl übergreifen. Das andere Problem, mit welchen Mitteln der Dichter bei uns
die Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schöpfungen hervorruft, haben wir
überhaupt noch nicht berührt. Ich möchte Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher
Weg von unseren Erörterungen über die Phantasien zu den Problemen der poetischen
Effekte führt.Sie erinnern sich, wir sagten, daß der Tagträumer seine Phantasien vor anderen
sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt, sich ihrer zu schämen. Ich füge nun
hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen würde, könnte er uns durch solche Ent-
hüllung keine Lust bereiten. Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie
erfahren, abgestoßen oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter
uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen
Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus
vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie der Dichter das zustande bringt, das
ist sein eigenstes Geheimnis; in der Technik der Überwindung jener Abstoßung,
die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen
Ich und den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica. Zweierlei Mittel
dieser Technik können wir erraten: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen
Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein
formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phan-
tasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit
ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu
ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust. Ich bin der Meinung,S.
724
daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher
Vorlust trägt, und daß der eigentliche Genuß des Dichtwerkes aus der Befreiung
von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem
Erfolg nicht wenig bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen
Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. Hier stünden
wir nun am Eingange neuer interessanter und verwickelter Untersuchungen, aber,
wenigstens für diesmal, am Ende unserer Erörterungen.S.
Neue_Revue_I_1908
716
–724