Das Unbewußte 1915-005/1915.2
1915-005/1915.2 Das Unbewußte
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  • S.

    SEPARATABDRUCK

    aus der

    ._ INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE

    ‚herausg. von Prof. 8. Freud, redig. von Dr. 8. Ferenezi, Dr. O. Rank u. Prof. E. Jones.
    III. Jahrgang 1916. Verlag von Hugo Heller & Co. in Leipzig und Wien, I. Bauernmarkt 3,
    Abonnementspreis ganzjährig M 18.——K 21.60.

    I.

    Das Unbewußte.

    Von Sigm. Freud.

    en in Bewußtes erfahren hat, Die Deychounsitische A Arbeit läßt
    uns alltäglich die Erfahrung machen, daß solche Übersetzung möglich
    ist, Es wird hiezu erfordert, daß der Analysierte gewisse Widerstände
    überwinde, die nämlichen, welche es seinerzeit durch.
    Bewubten, zu einem Verdrängten gemacht h haben.

    tertigung des
    len Seiten Unbewußten.

    bewußten. n natwerdie, und enitim ist, und daß wir für die Existenz
    des Unbewußten mehrfache Beweise besitzen, Sie ist Feige weil

    J ’
    icht zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und
    die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Symptome und
    Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken — unsere persönlichste tägliche

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    190 Sigm, Freud.

    Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht
    kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns verborgen ge-
    blieben ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhangslos und
    unverständlich, wenn wir den Anspruch festhalten wollen, daß wir auch
    alles durchs Bewußtsein erfahren müssen, was an seelischen Akten in
    uns vorgeht, und ordnen sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein,
    wenn wir die erschlossenen unbewußten Akte interpolieren. Gewinn an
    Sinn und Zusammenhang ist aber ein vollberechtigtes Motiv, das uns
    über die unmittelbare Erfahrung hinaus führen darf. Zeigt es sich dann
    noch, daß wir auf die Annahme des Unbewußten ein erfolgreiches
    Handeln aufbauen können, durch welches wir den Ablauf der bewußten
    Vorgänge zweckdienlich beeinflussen, so haben wir in diesem Erfolg einen
    unanfechtbaren Beweis für die Existenz des Angenommenen gewonnen.
    Man muß sich dann auf den Standpunkt stellen, es sei nichts anderes
    als eine unhaltbare Anmaßung zu fordern, daß alles, was im See-
    lischen. vorgeht, auch dem Bewußtsein bekannt werden müsse,

    'Man-kann, weiter gehen und zur Unterstützung eines unbewußten
    psychischen‘ Zustandes anführen, daß das Bewußtsein in jedem Moment
    nur einen geringen Inhalt umfaßt, so daß der größte Teil dessen, was
    wir bewußte Kenntnis ‚heißen, sich ohnedies über die längsten Zeiten im
    Zustande der Latenz, also in einem Zustande von psychischer Unbewußt-
    heit befinden muß. Der Widerspruch gegen das Unbewußte würde mit
    Rücksicht auf alle unsere latenten Erinnerungen völlig unbegreiflich
    werden. Wir stoßen dann auf den Einwand, daß diese latenten Erin-
    nerungen nichtmehr als psychisch zu bezeichnen seien, sondern den
    Resten von somatischen Vorgängen entsprechen, aus denen das Psychische
    wieder hervorgehen kann. Es liegt nahe zu erwidern, die latente Erin-
    nerung sei im Gegenteil ein unzweifelhafter Rückstand eines psychischen
    Vorganges. Wichtiger ist es aber, sich klarzumachen, daß der Einwand
    auf der nicht ausgesprochenen, aber von vornherein fixierten Gleich-
    stellung des Bewüußten mit dem Seelischen ruht. Diese Gleichstellung
    ist entweder eine petitio prineipü, welche die Frage, ob alles Psychische
    auch bewußt sein müsse, nicht zuläßt, oder eine Sache der Konvention,
    der Nomenklatur. In letzterem Charakter ist sie natürlich wie jede Kon-
    vention unwiderlegbar. Es bleibt nur die Frage offen, ob sie sich als so
    zweckmäßig erweist, daß man sich ihr anschließen muß. Man darf ant-
    worten, die konventionelle Gleichstellung des Psychischen mit dem Be-
    wußten ist durchaus unzweckmäßig. Sie zerreißt die psychischen Kon-
    tinuitäten, stürzt uns in die unlösbaren Schwierigkeiten des psycho-
    physischen Parallelismus, unterliegt dem Vorwurf, daß sie ohne einsicht-
    liche Begründung die Rolle des Bewußtseins überschätzt, und nötigt uns,
    das Gebiet der psychologischen Forschung vorzeitig zu verlassen, ohne
    uns von anderen Gebieten her Entschädigung bringen zu können

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    Das Unbewußte. 191

    Immerhin ist es klar, daß die Frage, ob man die unabweisbaren la-
    tenten Zustände des Seelenlebens als unbewußte seelische oder als phy-
    sische auffassen soll, auf einen Wortstreit hinauszulaufen droht. Es ist
    darum ratsamer, das in den Vordergrund zu rücken, was uns von der
    Natur dieser fraglichen Zustände mit Sicherheit bekannt ist. Nun sind
    sie uns nach ihren physischen Charakteren vollkommen unzugänglich ;
    keine physiologische Vorstellung, kein chemischer Prozeß kann uns eine
    Ahnung von ihrem Wesen vermitteln. Auf der anderen Seite steht fest,
    daß sie mit den bewußten seelischen Vorgängen die ausgiebigste Be-
    rührung haben; sie lassen sich mit einer gewissen Arbeitsleistung in sie
    umsetzen, durch sie ersetzen, und sie können mit all den Kategorien be-
    schrieben werden, die wir auf die bewußten Seelenakte anwenden, als
    Vorstellungen, Strebungen, Entschließungen u. dgl. Ja von manchen
    dieser latenten Zustände müssen wir aussagen, sie unterscheiden sich
    von den bewußten eben nur durch den Wegfall des Bewußtseins.
    Wir werden also nicht zögern, sie als Objekte psychologischer Forschung
    und in innigstem Zusammenhang mit den bewußten seelischen Akten zu
    behandeln.

    Die hartnäckige Ablehnung des psychischen Charakters der latenten
    seelischen Akte erklärt sich daraus, daß die meisten der in Betracht
    kommenden Phänomene außerhalb der Psychoanalyse nicht Gegenstand
    des Studiums geworden sind. Wer die pathologischen Tatsachen nicht
    kennt, die Fehlhandlungen der Normalen als Zufälligkeiten gelten läßt
    und sich bei der alten Weisheit bescheidet, Träume seien Schäume, der
    braucht dann nur noch einige Rätsel der Bewußtseinpsychologie zu ver-
    nachlässigen, um sich die Annahme unbewußter seelischer Tätigkeit zu
    ersparen. Übrigens haben die hypnotischen Experimente, besonders die
    posthypnotische Suggestion, Existenz und Wirkungsweise des seelisch Un-
    bewußten bereits vor der Zeit der Psychoanalyse sinnfällig demonstriert,

    Die Annahme des Unbewußten ist aber auch eine völlig legitime,
    insofern wir bei ihrer Aufstellung keinen Schritt von unserer gewohnten,
    für korrekt gehaltenen Denkweise abweichen. Das Bewußtsein vermittelt
    jedem einzelnen von uns nur die Kenntnis von eigenen Seelenzuständen;
    daß auch ein anderer Mensch ein Bewußtsein hat, ist ein Schluß, der
    par analögiam auf Grund der wahrnehmbaren Äußerungen und Handlun-
    gen dieses anderen gezogen wird, um uns dieses Benehmen des anderen
    verständlich zu machen. (Psychologisch richtiger ist wohl die Beschreibung,
    daß wir ohne besondere Überlegung jedem anderen außer uns unsere
    eigene Konstitution, und also auch unser Bewußtsein, beilegen, und daß
    diese Identifizierung die Voraussetzung unseres Verständnisses ist.) Dieser
    Schluß — oder diese Identifizierung — wurde einst vom Ich auf andere
    Menschen, Tiere, Pflanzen, Unbelebtes und auf das Ganze der Welt aus-
    gedehnt und erwies sich als brauchbar, solange die Ähnlichkeit mit dem

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    192 Sigm, Freud.

    Einzel-Ich eine überwältigend große war, wurde aber in dem Maße un-
    verläßlicher, als sich das Andere vom Ich entfernte. Unsere‘ heutige
    Kritik wird bereits beim Bewußtsein der Tiere unsicher, verweigert sich
    dem Bewußtsein der Pflanzen und weist die Annahme eines Bewußtseins
    des Unbelebten der Mystik zu. Aber auch, wo die ursprüngliche Identi-
    fizierungsneigung die kritische Prüfung bestanden hat, bei dem uns
    nächsten menschlichen Anderen, ruht die Annahme eines Bewußtseins
    auf einem Schluß und kann nid die unmittelbare Sicherheit unseres
    eigenen Bewußtseins teilen.

    Die Psychoanalyse fordert nun nichts anderes, als daß dieses Schluß-
    verfahren auch gegen die eigene Person gewendet werde, wozu eine
    konstitutionelle Neigung allerdings nicht besteht. Geht man so vor, so
    muß man sagen, alle die Akte und Äußerungen, die ich an mir bemerke
    und mit meinem sonstigen psychischen Leben nicht zu verkntipfen weiß,
    müssen beurteilt werden, als ob sie einer anderen Person angehörten,
    und sollen. durch ein ihr zugeschriebenes Seelenleben Aufklärung finden.
    Die Erfahrung zeigt auch, daß man. dieselben Akte, denen man bei der
    eigenen: Person. die psychische Anerkennung verweigert, bei anderen
    sehr "wohl" zu deuten, d. b, in den. seelischen. Zusammenhang einzu-
    reihen. versteht. Unsere Forschüng wird hier offenbar durch ein be-
    sonderes Hindernis von der eigenen Person abgelenkt und an deren
    richtigen: Erkenntnis behindert.

    Dies trotz inneren Widerstrebens gegen die eigene Person gewendete
    Schlußverfahren führt nun nicht zur Aufdeckung eines Unbewußten,
    sondern korrekterweise zur Annahme eines anderen, zweiten Bewußt-
    seins, welches mit dem mir bekannten in meiner Person vereinigt ist.
    Allein hier findet die Kritik berechtigten Anlaß, einiges einzuwerfen. Erstens
    ist ein Bewußtsein, von dem der eigene Träger nichts weiß, noch etwas
    anderes als ein fremdes Bewußtsein, und es wird fraglich, ob ein solches
    Bewußtsein, dem der wichtigste Charakter abgeht, überhaupt noch
    Diskussion verdient. Wer sich gegen die Annahme eines unbewußten
    Psychischen gesträubt hat, der wird nicht zufrieden sein können, dafür
    ein unbewußtes Bewußtsein einzutauschen. Zweitens weist die
    Analyse darauf hin, daß die einzelnen latenten Seelenvorgänge, die wir
    erschließen, sich eines hohen Grades von gegenseitiger Unabhängigkeit
    erfreuen, so als ob sie miteinander nicht in Verbindung stünden und
    nichts voneinander wüßten. Wir müssen also bereit sein, nicht nur ein
    zweites Bewußtsein in uns anzunehmen, sondern auch ein drittes, viertes,
    vielleicht eine unabschließbare Reihe von Bewußtseinszuständen, die
    sämtlich uns und miteinander unbekannt sind. Drittens kommt als
    schwerstes Argument in Betracht, daß wir durch die analytische Unter-
    suchung erfahren, ein Teil dieser latenten Vorgänge besitze Charaktere
    und Eigentümlichkeiten, welche uns fremd, selbst unglaublich erscheinen

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    Das Unbewußte. 193

    und den uns bekannten Eigenschaften des Bewußtseins direkt zuwider-
    laufen. Somit werden wir Grund haben, den gegen die eigene Person
    gewendeten Schluß dahin abzuändern, er beweise uns nicht ein zweites
    Bewußtsein in uns, sondern die Existenz von psychischen Akten, welche
    des Bewußtseins entbehren. Wir werden auch die Bezeichnung eines
    „Unterbewußtseins“ als inkorrekt und irreführend ablehnen dürfen. Die
    bekannten Fälle von „Double conscience“ (Bewußtseinsspaltung) be-
    weisen nichts gegen unsere Auffassung. Sie lassen sich am zutreffendsten
    beschreiben als Fälle von Spaltung der seelischen Tätigkeiten in zwei
    Gruppen, wobei sich dann das nämliche Bewußtsein alternierend dem
    einen oder dem anderen Lager zuwendet.

    Es bleibt uns in der Psychoanalyse gar nichts anderes übrig, als
    die seelischen Vorgänge für an sich unbewußt zu erklären und ihre
    Wahrnehmung durch das Bewußtsein mit der Wahrnehmung der Außen-
    welt durch die Sinnesorgane zu vergleichen. Wir hoffen sogar aus diesem
    Vergleich einen Gewinn für unsere Erkenntnis zu ziehen. Die psycho-
    analytische Annahme der unbewußten Seelentätigkeit erscheint uns einer-
    seits als eine weitere Fortbildung des primitiven Animismus, der uns
    überall Ebenbilder unseres Bewußtseins vorspiegelte, und anderseits als
    die Fortsetzung der Korrektur, die Kant an unserer Auffassung der
    äußeren Wahrnehmung vorgenommen hat. Wie Kant uns gewarnt hat,
    die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung nicht zu übersehen
    und unsere Wahrnehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren
    'Wahrgenommenen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseins-
    wahrnehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vor-
    ganges zu setzen, welcher ihr Objekt ist. Wie das Physische, so
    braucht: auch. das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es
    uns: erscheint. Wir werden uns aber mit Befriedigung auf die Erfahrung
    vorbereiten, daß die Korrektur der inneren Wahrnehmung nicht ebenso
    große-Schwierigkeit: bietet wie die der äußeren, daß das innere Objekt
    zninder' unerkennbar ist als die Außenwelt.

    Ehe wir weitergehen, wollen wir die wichtige, aber auch beschwer- Die Vieldeutig-
    liche Tatsache feststellen, daß die Unbewußtheit nur ein Merkmal des een.
    Psychischen ist, welches für dessen Charakteristik keineswegs ausreicht.

    Es gibt psychische Akte von sehr verschiedener Dignität, die doch in
    dem Charakter, unbewußt zu sein, übereinstimmen. Das Unbewußte um-
    faßt einerseits Akte, die bloß latent, zeitweilig unbewußt sind, sich aber
    sonst von den bewußten in nichts unterscheiden, und anderseits Vor-
    gänge wie die verdrängten, die, wenn sie bewußt würden, sich von den
    übrigen bewußten aufs grellste abheben müßten. Es würde allen Miß-
    verständnissen ein Ende machen, wenn wir von nun an bei der Be-
    schreibung der verschiedenartigen psychischen Akte ganz davon absehen
    würden, ob sie bewußt oder unbewußt sind, und sie bloß nach ihrer

    Zeitschr. £. ärztl, Psychoanalyse, IIT/4. 13

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    Der topische
    Gesichtspunkt.

    194 Sigm. Freud.

    Beziehung zu den Trieben und Zielen, nach ilgger Zusammensetzung und
    Angehörigkeit zu den einander übergeordneten psychischen Systemen klassi-
    fizieren und in Zusammenhang bringen würden. Dies ist aber aus ver-
    schiedenen Gründen undurchführbar, und somit können wir der Zwei-
    deutigkeit nicht entgehen, daß wir die Worte bewußt und unbewußt bald
    im deskriptiven Sinne gebrauchen, bald im systematischen, wo sie dann
    Zugehörigkeit zu bestimmten Systemen und Begabung mit gewissen
    Eigenschaften bedeuten. Man könnte noch den Versuch machen, die Ver-
    wirung dadurch zu vermeiden, daß man die erkannten psychischen
    Systeme mit willkürlich gewählten Namen bezeichnet, in denen die Be-
    wußtheit nicht gestreift wird. Allein man müßte vorher Rechenschaft ab-
    legen, worauf man die Unterscheidung der Systeme gründet, und könnte
    dabei die Bewußtheit nicht umgehen, da sie den Ausgangspunkt aller
    unserer Untersuchungen bildet. Wir können vielleicht einige Abhilfe von
    dem Vorschlag erwarten, wenigstens in der Schrift Bewußtsein durch die
    Darstellung Bw und Unbewußtes durch die entsprechende Abkürzung
    Ubw zu ersetzen, wenn wir die beiden Worte im systematischen Sinne
    gebrauchen,

    In positiver Darstellung sagen wir nun als Ergebnis der Psycho-
    änalyse aus, daß ein psychischer Akt im allgemeinen zwei Zustands-
    phasen durchläuft, zwischen welche eine Art Prüfung (Zensur) ein-
    geschaltet ist. In der: ersten Phase ist er unbewußt und gehört dem
    System Ubw an; wird er bei der Prüfung von der Zensur abgewiesen,
    so ist ihm der Übergang in die zweite Phase versagt; er heißt: dann
    „verdrängt“ und muß unbewußt bleiben. Besteht er aber diese Prüfung,
    so tritt er in die zweite Phase ein und wird dem zweiten System zu-
    gehörig, welches wir das System Bw nennen wollen. Sein Verhältnis
    zum Bewußtsein ist aber durch diese Zugehörigkeit noch nicht eindeutig
    bestimmt. Er ist noch nicht bewußt, wohl aber bewußtseinsfähig
    (nach dem Ausdruck von J. Breuer), d. h. er kann nun ohne beson-
    deren Widerstand beim Zutreffen gewisser Bedingungen Objekt des
    Bewußtseins werden. Mit Rücksicht auf diese Bewußtseinsfähigkeit
    heißen wir das System Bw auch das „Vorbewußte“. Sollte es sich
    herausstellen, daß auch das Bewußtwerden des Vorbewüßten durch eine
    gewisse Zensur mitbestimmt wird, so werden wir die Systeme Vbw undBw
    strenger voneinander sondern. Vorläufig genüge es festzuhalten, daß das
    System Vbw die Eigenschaften des Systems Bw teilt, und daß die strenge
    Zensur am Übergang vom Ubw zum Vbw (oder Bw) ihres Amtes waltet.

    Mit der Aufnahme dieser (2 oder 3) psychischen Systeme hat sich
    die Psychoanalyse einen Schritt weiter von der deskriptiven Bewußtseins-
    psychologie entfernt, sich eine neue Fragestellung und einen neuen Inhalt
    beigelegt. Sie unterschied sich von der Psychologie bisher hauptsächlich
    durch die dynamische Auffassung der seelischen Vorgänge; nun kommt

  • S.

    Das Unbewußte. 195

    hinzu, daß sie auch die psychische Topik berücksichtigen und von
    einem beliebigen seelischen Akt angeben will, innerhalb welches Systems
    oder zwischen welchen Systemen er sich abspielt. Wegen dieses Be-
    strebens hat sie auch den Namen einer Tiefenpsychologie er-
    halten. Wir werden hören, daß sie auch noch um einen anderen Ge-
    sichtspunkt bereichert werden kann.

    Wollen wir mit einer Topik der seelischen Akte Ernst machen, so
    müssen wir unser Interesse einer an dieser Stelle auftauchenden Zweifel-
    frage zuwenden. Wenn ein psychischer Akt (beschränken wir uns hier
    auf einen solchen von der Natur einer Vorstellung) die Umsetzung aus
    dem System Ubw in das System Bw (oder Vbw) erfährt, sollen wir an-
    nehmen, daß mit dieser Umsetzung eine neuerliche Fixierung, gleichsam
    eine zweite Niederschrift der betreffenden Vorstellung verbunden ist, die
    also auch an einer neuen psychischen Lokalität enthalten sein kann, und
    neben welcher die ursprüngliche unbewußte Niederschrift fortbesteht?
    Oder sollen wir eher glauben, daß die Umsetzung in einer Zustands-
    änderung besteht, welche sich an dem nämlichen Material und an der-
    selben Lokalität vollzieht? Die Frage kann abstrus erscheinen, muß
    aber aufgeworfen werden, wenn wir uns von der psychischen Topik, der
    psychischen Tiefendimension, eine bestimmtere Idee bilden wollen. Sie
    ist schwierig, weil sie über das rein Psychologische hinausgeht und die
    Beziehungen des seelischen Apparats zur Anatomie streift. Wir wissen,
    daß solche Beziehungen im Gröbsten existieren. Es ist ein unerschütter-
    liches Resultat der Forschung, daß die seelische Tätigkeit an die Funktion
    des Gehirns gebunden ist wie an kein anderes Organ. Ein Stück weiter
    — es ist nicht bekaunt, wie weit — führt die Entdeckung von der Un-
    gleichwertigkeit der Gehirnteile und deren Sonderbeziehung zu bestimmten
    Körperteilen und geistigen Tätigkeiten. Aber alle Versuche, von da aus
    eine Lokalisation der seelischen Vorgänge zu erraten, alle Bemühungen,
    die Vorstellungen in Nervenzellen aufgespeichert zu denken und die Er-
    regungen auf Nervenfasern wandern zu lassen, sind gründlich gescheitert.
    Dasselbe Schicksal würde einer Lehre bevorstehen, die etwa den ana-
    tomischen Ort des Systems Bw, der bewußten Seelentätigkeit, in der
    Hirnrinde erkennen und die unbewußten Vorgänge in die subkortikalen
    Hirnpartien versetzen wollte. Es klafft hier eine Lücke, deren Ausfüllung
    derzeit nicht möglieh ist, auch nicht zu den Aufgaben der Psychologie
    gehört. Unsere psychische Topik hat vorläufig nichts mit der Anatomie
    zu tun; sie bezieht sich auf Regionen des seelischen Apparats, wo immer
    sie im Körper gelegen sein mögen, und nicht auf anatomische Ört-
    lichkeiten,

    Unsere Arbeit ist also in dieser Hinsicht frei und darf nach ihren
    eigenen Bedürfnissen vorgehen. Es wird auch förderlich sein, wenn wir
    uns daran mahnen, daß unsere Annahmen zunächst nur den Wert von

    13*

  • S.

    196 Sigm. Freud,

    Veranschaulichungen beanspruchen. Die erstere der beiden in Betracht
    gezogenen Möglichkeiten, nämlich daß die bW Phase der Vorstellung
    eine neue, an anderem Orte befindliche Niederschrift derselben bedeute,
    ist unzweifelhaft die gröbere, aber auch die bequemere. Die zweite An-
    nabme, die einer bloß funktionellen Zustandsänderung, ist die von
    vornherein wahrscheinlichere, aber sie ist minder plastisch, weniger
    leicht zu handhaben, Mit der ersten, der topischen Annahme ist die einer
    topischen Trennung der Systeme Ubw und Bw und die Möglichkeit ver-
    knüpft, daß eine Vorstellung gleichzeitig an zwei Stellen des psychischen
    Apparats vorhanden sei, ja daß sie, wenn durch die Zensur ungehemmt,
    regelmäßig von dem einen Ort an den anderen vorrücke, eventuell, ohne
    ibre erste Niederlassung oder Niederschrift zu verlieren. Das mag be-
    fremdlich aussehen, kann sich aber an Eindrücke aus der psychoanalyti-
    schen Praxis anlehnen.

    Wenn man einem Patienten eine seinerzeit von ihm verdrängte
    Vorstellung, die man erraten hat, mitteilt, so ändert dies zunächst an
    seinem psychischen Zustand nichts. Es hebt vor allem nicht die Ver-
    drängüng ‚auf, macht deren Folgen nicht rückgängig, wie man vielleicht
    erwarten konnte, weil die früher unbewußte Vorstellung nun bewußt ge-
    worden ist. Man wird im Gegenteil zunächst nur eine neuerliche Ab-
    lehnung der verdrängten Vorstellung erzielen. Der Patient hat aber jetzt
    tatsächlich dieselbe Vorstellung in zweifacher Form an verschiedenen
    Stellen seines seelischen Apparats, erstens hat er die bewußte Erinnerung an
    die Gehörspur der Vorstellung durch die Mitteilung, zweitens trägt er
    daneben, wie wir mit Sicherheit wissen, die unbewußte Erinnerung an
    das Erlebte in der früheren Form in sich. In Wirklichkeit tritt nun eine
    Aufhebung der Verdrängung nicht eher ein, als bis die bewußte Vor-
    stellung sich nach Überwindung der Widerstände mit der unbewußten
    Erinnerungsspur in Verbindung gesetzt hat, Erst durch das Bewußt-
    machen dieser letzteren selbst wird der Erfolg erreicht. Damit schiene
    ja für oberflächliche Erwägung erwiesen, daß bewußte und unbewußte
    Vorstellungen verschiedene und topisch gesonderte Niederschriften des
    nämlichen Inhalts sind. Aber die nächste Überlegung zeigt, daß die
    Identität der Mitteilung mit der verdrängten Erinnerung des Patienten
    nur eine scheinbare ist. Das Gehörthaben und das Erlebthaben sind zwei
    nach ihrer psychologischen Natur ganz verschiedene Dinge, auch wenn
    sie den nämlichen Inhalt haben.

    Wir sind also zunächst nicht im stande, zwischen den beiden er-
    örterten Möglichkeiten zu entscheiden. Vielleicht treffen wir späterhin
    auf Momente, welche für eine von beiden den Ausschlag geben können.
    Vielleicht steht uns die Entdeckung bevor, daß unsere Fragestellung un-
    zureichend war, und daß die Unterscheidung der unbewußten Vorstellung
    von der bewußten noch ganz anders zu bestimmen ist.

  • S.

    Das Unbewußte, 197

    Wir haben die vorstehende Diskussion auf Vorstellungen ein-
    geschränkt und können nun eine neue Frage aufwerfen, deren Beant-
    wortung zur Klärung unserer theoretischen Ansichten beitragen muß.
    Wir sagten, es gäbe bewußte und unbewußte Vorstellungen; gibt es aber
    auch unbewußte Triebregungen, Gefühle, Empfindungen, oder ist es dies-
    mal sinnlos, solche Zusammensetzungen zu bilden?

    Ich meine wirklich, der Gegensatz von bewußt und unbewußt hat
    auf den Trieb keine Anwendung. Ein Trieb kann nie Objekt des Be-
    wußtseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann
    aber auch im Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung re-
    präsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften
    oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten
    wir nichts von ihm wissen. Wenn wir aber doch von einer unbewußten
    Triebregung oder einer verdrängten Triebregung reden, so ist dies eine
    harmlose Nachlässigkeit des Ausdruckes, Wir können nichts anderes
    meinen als eine Triebregung, deren Vorstellungsrepräsentanz unbewußt
    ist, denn etwas anderes kommt nicht in Betracht.

    Man sollte meinen, die Antwort auf die Frage nach den unbewußten
    Empfindungen, Gefühlen, Affekten sei ebenso leicht zu geben. Zum
    Wesen eines Gefühls gehört es doch, daß es verspürt, also dem Bewußt-
    sein bekannt wird. Die Möglichkeit einer Unbewußtheit würde also für
    Gefühle, Empfindungen, Affekte völlig entfallen. Wir sind aber in der
    psychoanalytischen Praxis gewöhnt, von unbewußter Liebe, Haß, Wut usw.
    zu sprechen und finden selbst die befremdliche Vereinigung „unbewußtes
    Schuldbewußtsein® oder eine paradoxe „unbewußte Angst“ unvermeid-
    lich. Geht dieser Sprachgebrauch an Bedeutung über den im Falle des
    „unbewußten Triebes“ hinaus?

    Der Sachverhalt ist hier wirklich ein anderer. Es kann zunächst
    vorkommen, daß eine -Affekt- oder Gefühlsregung wahrgenommen, aber
    verkannt wird. Sie ist durch die Verdrängung ihrer eigentlichen Re-
    präsentanz zur Verknüpfung mit einer anderen Vorstellung genötigt
    worden und wird nun vom Bewußtsein für die Äußerung dieser letzteren
    gehalten. Wenn wir den richtigen Zusammenhang wieder herstellen,
    heißen wir die ursprüngliche Affektregung eine „unbewußte“, obwohl ihr
    Affekt niemals unbewußt war, nur ihre Vorstellung der Verdrängung er-
    legen ist. Der Gebrauch der Ausdrücke „unbewußter Affekt und Gefühl“
    weist überhaupt auf die Schicksale des quantitativen Faktors der Trieb-
    regung infolge der Verdrängung zurück (siehe die Abhandlung über Ver-
    drängung). Wir wissen, daß dies Schicksal ein dreifaches sein kann; der
    Affekt bleibt entweder — ganz oder teilweise — als solcher bestehen,
    oder er erfährt eine Verwandlung in einen qualitativ anderen Affekt-
    betrag, vor allem in Angst, oder er wird unterdrückt, d. h. seine Ent-
    wicklung überhaupt verhindert. (Diese Möglichkeiten sind an der Traum-

    Gibt es unbe-
    waßteGefühle?

  • S.

    198 Sigm. Freud.

    arbeit vielleicht noch leichter zu studieren als Bei den Neurosen.) Wir
    wissen auch, daß die Unterdrückung der Affektentwicklung das eigent-
    liche Ziel der Verdrängung ist, und daß deren Arbeit unabgeschlossen
    bleibt, wenn dies Ziel nicht erreicht wird. In allen Fällen, wo der Ver-
    drängung die Hemmung der Affektentwicklung gelingt, heißen wir die
    Affekte, die wir im Redressement der Verdrängungsarbeit wieder ein-
    setzen, „unbewußte“. Dem Sprachgebrauch ist also die Konsequenz nicht
    abzustreiten; es besteht aber im Vergleich mit der unbewußten Vor-
    stellung der bedeutsame Unterschied, daß die unbewußte Vorstellung
    nach der Verdrängung als reale Bildung im System Ubw bestehen bleibt,
    während dem unbewußten Affekt ebendort nur eine Ansatzmöglichkeit,
    die nicht zur Entfaltung kommen durfte, entspricht. Streng genommen
    und obwohl der Sprachgebrauch tadellos bleibt, gibt es also keine
    unbewußten Affekte, wie es unbewußte Vorstellungen gibt. Es kann aber
    sehr wohl im System Ubw Affektbildungen geben, die wie andere bewußt
    werden. Der ganze Unterschied rührt daher, daß Vorstellungen Be-
    gen — im Grunde von Erinnerungsspuren — sind, während die

    Affekte und Gefühle Abfuhrvorgängen entsprechen, deren letzte Äuße-

    ungen: als: Empfindungen wahrgenommen werden. Im gegenwärtigen
    Zuständ unserer Kenntnis von den Affekten und Gefühlen können wir
    diesen Unterschied nicht klarer ausdrücken.

    Die Feststellung, daß es der Verdrängung gelingen kann, die Umsetzung
    der Triebregung in Affektäußerung zu hemmen, ist für uns von besonderem
    Interesse. Sie zeigt uns, daß das System Bw normalerweise die Affektivität
    wie den Zugang zur Motilität beherrscht, und hebt den Wert der Ver-
    drängung, indem sie als deren Folgen nicht nur die Abhaltung vom Be-
    wußtsein, sondern auch von der Affektentwicklung und von der Motivierung
    der Muskeltätigkeit aufzeigt. Wir können auch in umgekehrter Dar-
    stellung sagen: Solange das System Bw Affektivität und Motilität be-
    herrscht, heißen wir den psychischen Zustand des Individuums normal.
    Indes ist ein Unterschied in der Beziehung des herrschenden Systems zu
    den beiden einander nahe stehenden Abfuhraktionen unverkennbar.!)
    Während die Herrschaft des Bw über die willkürliche Motilität fest ge-
    gründet ist, dem Ansturm der Neurose regelmäßig widersteht und erst
    in der Psychose zusammenbricht, ist die Beherrschung der Affektentwick-
    lung durch Bw minder gefestigt. Noch innerhalb des normalen Lebens
    läßt sich ein beständiges Ringen der beiden Systeme Bw und Ubw um
    das Primat in der Affektivität erkennen, grenzen sich gewisse Einfluß-
    sphären voneinander ab und stellen sich’ Vermengungen der wirksamen
    Kräfte her.

    3) Die Affektivität äußert sich wesentlich in motorischer (sekretorischer, gefäßregu-
    lierender) Abfuhr zur (inneren) Veränderung des eigenen Körpers ohne Beziehung zur
    Außenwelt, die Motilität in Aktionen, die zur Veränderung der Außenwelt bestimmt sind.

  • S.

    Das Unbewußte. 199

    Die Bedeutung des Systems Bw für die Zugänge zur Affektent-
    bindung und Aktion macht uns auch die Rolle verständlich, welche in
    der Krankheitsgestaltung der Ersatzvorstellung zufällt. Es ist möglich,
    daß die Affektentwicklung direkt vom System Ubw ausgeht, in diesem
    Falle hat sie immer den Charakter der Angst, gegen welche alle „ver-
    drängten“ Affekte eingetauscht werden. Häufig aber muß die Triebregung
    warten, bis sie eine Ersatzvorstellung im System Bw gefunden hat. Dann
    ist die Affektentwicklung von diesem bewußten Ersatz her ermöglicht
    und der qualitative Charakter des Affekts durch dessen Natur bestimmt.
    Wir haben behauptet, daß bei der Verdrängung eine Trennung des
    Affekts von seiner, Vorstellung stattfindet, worauf beide ihren gesonderten
    Schicksalen entgegengehen. Das ist deskriptiv unbestreitbar; der wirk-
    liche Vorgang aber ist in der Regel, daß ein Affekt so lange nicht zu
    stande kommt, bis nicht der Durchbruch zu einer neuen Vertretung im
    System Bw gelungen ist.

    Wir haben das Resultat erhalten, daß die Verdrängung im wesent-
    lichen “ein Vorgang ist, der sich an Vorstellungen an der Grenze der
    Systeme Ubw und Vbw (Bw) vollzieht, und können nun einen neuer-
    lichen Versuch machen, diesen Vorgang eingehender zu beschreiben. Es
    muß sich dabei um eine Entziehung von Besetzung handeln, aber
    es fragt sich, in welchem System findet die Entziehung statt, und welchem
    System gehört die entzogene Besetzung an.

    Die verdrängte Vorstellung bleibt im Ubw aktionsfähig; sie muß also
    ihre Besetzung behalten haben. Das Entzogene muß etwas anderes sein.
    Nehmen wir den Fall der eigentlichen Verdrängung vor (des Nach-
    drängens), wie sie sich än der vorbewußten oder selbst bereits bewußten
    Vorstellung abspielt, dann kann die Verdrängung nur darin bestehen,
    daß der Vorstellung die (vorbewußte Besetzung entzogen wird, die dem
    System Vbw angehört. Die Vorstellung bleibt dann unbesetzt oder sie
    erhält Besetzung vom Ubw her, oder sie behält die ubw Besetzung,
    die sie schon früher hatte. Also Entziehung der vorbewußten, Erhaltung
    der unbewußten Besetzung oder Ersatz der vorbewußten Besetzung durch
    eine unbewußte. Wir bemerken übrigens, daß wir dieser Betrachtung
    wie unabsichtlich die Annahme zu Grunde gelegt haben, der Übergang
    aus dem System Ubw in ein nächstes geschehe nicht durch eine neue
    Niederschrift, sondern durch eine Zustandsänderung, einen Wandel in
    der Besetzung. Die funktionale Annahme hat hier die topische mit leichter
    Mühe aus dem Felde geschlagen.

    Dieser Vorgang der Libidoentziehung reicht aber nicht aus, um
    einen anderen Oharakter der Verdrängung begreiflich zu machen. Es ist
    nicht einzusehen, warum die besetzt gebliebene oder vom Ubw her mit
    Besetzung versehene Vorstellung nicht den Versuch erneuern sollte, kraft
    ihrer Besetzung in das System Vbw einzudringen. Dann müßte sich die

    Topik und
    Dynamik der
    Verdrängung.

  • S.

    200 Sigm. Freud.

    Libidoentziehung an ihr wiederholen, und dassihe Spiel würde sich un-
    abgeschlossen fortsetzen, das Ergebnis aber n®ht das: der Verdrängung
    sein. Ebenso würde der besprochene Mechanismus der Entziehung vor-
    bewußter Besetzung versagen, wenn es sich um die Darstellung der
    Urverdrängung handelt; in diesem Falle liegt ja eine unbewußte Vor-
    stellung vor, die noch keine Besetzung vom Vbw erhalten hat, der eine
    solche also auch nicht entzogen werden kann.

    Wir bedürfen also hier eines anderen Vorganges, welcher im ersten
    Falle die Verdrängung unterhält, im zweiten ihre Herstellung und Fort-
    dauer besorgt, und können diesen nur in der Annahme einer Gegen-
    besetzung finden, durch welche sich das System Vbw gegen das An-
    drängen der unbewußten Vorstellung schützt. Wie sich eine solche Gegen-
    besetzung, die im System Vbw vor sich geht, äußert, werden wir an
    klinischen Beispielen sehen. Sie ist es, welche den Daueraufwand einer
    Urverdrängung repräsentiert, aber auch deren Dauerhaftigkeit verbürgt.
    Die ‚Gegenbesetzung ist der alleinige Mechanismus der Urverdrängung;
    bei. der eigentlichen Verdrängung (dem Nachdrängen) kommt die Ent-
    ziehung der vbw Besetzung hinzu, Es ist sehr wohl möglich, daß gerade
    ‚die, .der,; Vorstellung entzogene Besetzung zur Gegenbesetzung ver-
    ‚wendet: wird.

    Wir merken, wie wir allmählich dazu gekommen sind, in der Dar-
    stellung psychischer Phänomene einen dritten Gesichtspunkt zur Geltung
    zu bringen, außer dem dynamischen und dem topischen den ökonomi-
    schen, der die Schicksale der Erregungsgrößen zu verfolgen und eine
    wenigstens relative Schätzung derselben zu gewinnen strebt. Wir werden
    es nicht unbillig finden, diese Betrachtungsweise, welche die Vollendung
    der psychoanalytischen Forschung ist, durch einen besonderen Namen
    auszuzeichnen. Ich schlage vor, daß es eine metapsychologische
    Darstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen
    Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomi-
    schen Beziehungen zu beschreiben. Es ist vorherzusagen, daß es uns
    bei dem gegenwärtigen Stand unserer Einsichten nur an vereinzelten
    Stellen gelingen wird.

    Machen wir einen zaghaften Versuch, eine metapsychologische Be-
    schreibung des Verdrängungsvorganges bei den drei bekannten Über-
    tragungsneurosen zu geben. Wir dürfen dabei „Besetzung“ durch „Li-
    bido“ ersetzen, weil es sich ja, wie wir wissen, um die Schicksale von
    Sexualtrieben handelt.

    Eine erste Phase des Vorganges bei der Angsthysterie wird häufig
    übersehen, vielleicht auch wirklich übergangen, ist aber bei sorgfältiger
    Beobachtung gut kenntlich. Sie besteht darin, daß Angst auftritt, ohne
    daß wahrgenommen würde, wovor. Es ist anzunehmen, daß im Ubw eine
    Liebesregung vorhanden war, die nach der Umsetzung ins System Vbw

  • S.

    Das Unbewußte. 201

    verlangte; aber die von diesem System her ihr zugewendete Besetzung
    zog sich nach Art eines Fluchtversuches von ihr zurück, und die un-
    bewußte Libidobesetzung der zurückgewiesenen Vorstellung wurde als
    Angst abgeführt. Bei einer etwaigen Wiederholung des Vorganges wurde
    ein erster Schritt zur Bewältigung der unliebsamen Angstentwicklung
    unternommen. Die fliehende Besetzung wendete sich einer Ersatzvorstel-
    lung zu, die einerseits assoziativ mit der abgewiesenen Vorstellung zu-
    sammenhing, anderseits durch die Entfernung von ihr der Verdrängung
    entzogen war (Verschiebungsersatz) und eine Rationalisierung der
    noch unhemmbaren Angstentwicklung gestattete. Die Ersatzvorstellung
    spielt nun für das System Bw die Rolle einer Gegenbesetzung, indem
    sie es gegen das Auftauchen der verdrängten Vorstellung in Bw ver-
    sichert, anderseits ist sie die Ausgangsstelle der nun erst recht unhemm-
    baren Angstaffektentbindung oder benimmt sich als solche. Die klinische
    Beobachtung zeigt, daß z. B. das an der Tierphobie leidende Kind nun
    unter zweierlei Bedingungen Angst verspürt, erstens wenn die verdrängte
    Liebesregung eine Verstärkung erfährt, und zweitens wenn das Angst-
    tier wahrgenommen wird. Die Ersatzvorstellung benimmt sich in dem
    einen Falle wie die Stelle einer Überleitung aus dem System Ubw in
    das System Bw, im anderen wie eine selbständige Quelle der Angstent-
    bindung, Die Ausdehnung der Herrschaft des Systems Bw pflegt sich
    darin zu äußern, daß die exste Erregungsweise der Ersatzvorstellung
    gegen die zweite immer mehr zurücktritt. Vielleicht benimmt sich am
    Ende das Kind so, als hätte es gar keine Neigung zu dem Vater, wäre
    ganz von ihm freigeworden, und als hätte es wirklich Angst vor dem
    Tier. Nur daß diese Tierangst aus der unbewußten Triebquelle gespeist,
    sich widerspenstig und übergroß gegen alle Beeinflussungen aus dem
    System Bw erweist und dadurch ihre Herkunft aus dem System Ubw
    verrät.

    Die Gegenbesetzung aus dem System Bw hat also in der zweiten
    Phase der Angsthysterie zur Ersatzbildung geführt. Derselbe Mechanismus
    findet bald eine neuerliche Anwendung. Der Verdrängungsvorgang ist,
    wie wir wissen, noch nicht abgeschlossen und findet ein weiteres Ziel
    in der Aufgabe, die vom Ersatz ausgehende Angstentwicklung zu hemmen.
    Dies geschieht in der Weise, daß die gesamte assoziierte Umgebung der
    Ersatzvorstellung mit besonderer Intensität besetzt wird, so daß sie eine
    hohe Empfindlichkeit gegen Erregung bezeigen kann. Eine Erregung
    irgend einer Stelle dieses Vorbaues muß zufolge der Verknüpfung mit
    der Ersatzvorstellung den Anstoß zu einer geringen Angstentwicklung
    geben, welche nun als Signal benützt wird, um durch neuerliche Flucht
    der Besetzung den weiteren Fortgang der Angstentwicklung zu hemmen,
    Je weiter weg vom gefürchteten Ersatz die empfindlichen und wachsamen
    Gegenbesetzungen angebracht sind, desto präziser kann der Mechanismus

  • S.

    202 Sigm. Freud. .

    funktionieren, der die Ersatzvorstellung isolieren und neue Erregungen
    von ihr abhalten soll. Diese Vorsichten schützen natürlich nur gegen
    Erregung, die von außen, durch die Wahrnehmung an die Ersatzvorstel-
    lung herantreten, aber niemals gegen die Trieberregung, die von der
    Verbindung mit der verdrängten Vorstellung her die Ersatzvorstellung
    trifft. Sie beginnen also erst zu wirken, wenn der Ersatz die Vertretung
    des Verdrängten gut übernommen hat, und können niemals ganz ver-
    läßlich wirken. Bei jedem Ansteigen der Trieberregung muß der schützende
    Wall um die Ersatzvorstellung um ein Stück weiter hinaus verlegt
    werden. Die ganze Konstruktion, die in analoger Weise bei den anderen
    Neurosen hergestellt wird, trägt den Namen einer Phobie. Der Aus-
    druck der Flucht vor bewußter Besetzung der Ersatzvorstellung sind die
    Vermeidungen, Verzichte und Verbote, an denen man die Angsthysterie
    erkennt. Überschaut man den ganzen Vorgang, so kann man sagen, die
    dritte Phase hat die Arbeit der zweiten in größerem Ausmaß wiederholt.
    Das System Bw schützt sich jetzt gegen die Aktivierung der Ersatzvor-
    stellung durch die Gegenbesetzung der Umgebung, wie es sich vorhin
    durch die Besetzung der Ersatzvorstellung gegen das Auftauchen der
    ingten Vorstellung gesichert hatte. Die Ersatzbildung durch Ver-
    hat sich in solcher Weise fortgesetzt. Man muß auch hinzu-
    ; das System Bw früher nur eine kleine Stelle besaß, die eine
    Einbruchspforte der verdrängten Triebregung wär, die Ersatzvorstellung
    nämlich, daß aber am Ende der ganze phobische Vorbau einer solchen
    Enklave des unbewußten Einflusses entspricht. Man kann ferner den
    interessanten Gesichtspunkt hervorheben, daß durch den ganzen ins Werk
    gesetzten Abwehrmechanismus eine Projektion der Triebgefahr nach
    außen. erreicht: worden ist, Das Ich benimmt sich so, als ob ihm die
    Gefahr der Angstentwicklung nicht von einer Triebregung, sondern von
    einer Wahrnehmung. her drohte, und darf darum gegen diese äußere
    Gefahr mit: den. Fluchtversuchen der phobischen Vermeidungen reagieren.
    Eines. gelingt bei diesem. Vorgang: der Verdrängung: die Entbindung von
    Angst läßt sich. einigermaßen eindänimen, aber nur unter schweren Opfern
    an persönlicher Freiheit. Fluchtversuche vor Triebansprüchen sind aber
    im allgemeinen nutzlos, und das Ergebnis der phobischen Flucht bleibt
    doch unbefriedigend.

    Von den Verhältnissen, die wir bei der Angsthysterie erkannt haben,
    gilt ein großer Anteil auch für die beiden anderen Neurosen, so daß
    wir die Erörterung auf die Unterschiede und die Rolle der Gegenbesetzung
    beschränken können. Bei der Konversionshysterie wird die Triebbesetzung
    der verdrängten Vorstellung in die Innervation des Symptoms umgesetzt.
    Inwieweit und unter welchen Umständen die unbewußte Vorstellung
    durch diese Abfuhr zur Innervation drainiert ist, so daß sie ihr An-
    drängen gegen das System Bw aufgeben kann, diese und ähnliche Fragen

  • S.

    Das Unbewußte. 203

    bleiben besser einer speziellen Untersuchung der Hysterie vorbehalten.
    Die Rolle der Gegenbesetzung, die vom System Bw ausgeht, ist bei der
    Konversionshysterie deutlich und kommt in der Symptombildung zum
    Vorschein. Die Gegenbesetzung ist es, welche die Auswahl trifft, auf
    welches Stück der Triebrepräsentanz die ganze Besetzung derselben kon-
    zentriert werden darf. Dies zum Symptom erlesene Stück erfüllt die Be-
    dingung, daß es dem Wunschziel der Triebregung ebensosehr Ausdruck
    gibt wie dem Abwehr- oder Strafbestreben des Systems Bw; es wird
    also überbesetzt und von beiden Seiten her gehalten wie die Ersatz-
    vorstellung der Angsthysterie. Wir können aus diesem Verhältnis ohne
    weiteres den Schluß ziehen, daß der Verdrängungsaufwand des Sy-
    stems Bw nicht so groß zu sein braucht wie die Besetzungsenergie des

    Symptoms, denn dieStärke der Verdrängung wird durch die aufgewendete
    Gegenbesetzung gemessen, und das Symptom stützt sich nicht: nur auf die
    Gegenbesetzung, sondern auch auf die in ihm verdichtete Triehbesetzung
    aus dem System Ubw,

    Für die Zwangsneurose hätten wir den in der vorigen Abhandlung
    enthaltenen Bemerkungen nur hinzuzufügen, daß hier die Gegenbesetzung
    des Systems Bw am sinnfälligsten in den Vordergrund tritt. Sie ist es,
    die als Reaktionsbildung organisiert. die erste Verdrängung besorgt, und
    an welcher später der Durchbruch der verdrängten Vorstellung erfolgt.
    Man darf der Vermutung Raum geben, daß es an dem Vorwiegen der
    Gegenhesetzung und Ausfallen einer Abfuhr liegt, wenn das Werk der
    Verdrängung bei Angsthysterie und Zwangsneurose weit weniger ge-
    glückt erscheint als bei der Konversionshysterie.

    (Wird fortgesetzt.)

  • S.

    DL