Das Briefwerk von Sigmund Freud umfasst alle erhaltenen Briefe, Postkarten, Ansichtskarten, Telegramme, Briefumschläge und Beilagen.
Nicht nur seine wissenschaftlichen Werke, sondern auch seine Briefe weisen Freud als Schriftsteller ersten Ranges aus. Poetisch, komplex, konnotationsreich und tiefgründig in Sprache und Denken, zeugen sie – oft noch mehr als seine wissenschaftlichen Essays und Krankengeschichten – von seiner stilistischen Größe, seiner meisterhaften Sprachbeherrschung, seinem Witz und seiner beißenden Schärfe, seiner Beobachtungsgabe, aber auch seinen persönlichen Stärken und Schwächen.
Selbst „noch der kleinste und unwichtigste Brief trägt den Stempel seiner Sprache und seines Denkens“ (1) und zeigt „die Pranke des Löwen“ (2).
Die Briefe sind aber nicht nur ein literarisches und zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges, sondern auch eine einzigartige historische Quelle, und zwar vor allem für Freuds Biografie und die der hier erwähnten Personen und AdressatInnen, die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, die psychoanalytische Ideengeschichte, die Entwicklung der psychoanalytischen Methode und natürlich für die Zeit, in der Freud lebte.
Die Briefe werden damit gleichsam zu einem parallelen Œuvre und stellen, vor allem was die großen Schülerkorrespondenzen betrifft, eine unverzichtbare Ergänzung und Vervollständigung des wissenschaftlichen Werkes dar. (3)
Im Rahmen dieser digitalen Edition wird erstmals eine derart enge Verknüpfung der gesamten Korrespondenz Freuds mit seinen theoretischen Arbeiten möglich, was eine ganz neue Form der Durchdringung der Texte mit sich bringt, da sich diese beiden Œuvres gegenseitig potenzieren.
Freuds Korrespondenz übertrifft in ihrem Umfang deutlich den seiner wissenschaftlichen Arbeiten: Seriöse Schätzungen aufgrund der erhaltenen Briefe, aber auch z.B. aufgrund von Listen, die Freud über seinen Briefverkehr geführt hat, gehen von über 20.000 Briefen aus, die Freud im Laufe seines Lebens geschrieben hat. Von diesen dürften über die Hälfte erhalten sein – einer groben Schätzung nach sind über 8.000 davon inzwischen wohl publiziert.
In ihrer Mehrheit befinden sich die Originale oder Fotokopien der originalen Briefe in der ›Library of Congress‹ in Washington. Über einen umfangreichen Bestand (zumeist in Kopie) verfügt auch das Freudmuseum in London. Der Briefwechsel zwischen Freud und Ferenczi ist in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Von den gedruckten Briefen finden sich einige in (aus editorischer Perspektive) herausragenden Ausgaben, jedoch sind einige auch voll von Lesefehlern, sie sind gekürzt oder nur in Übersetzung erschienen, nicht wenige Briefe sind an schwer zugänglichen Orten (z.B. in Auktionskatalogen) dokumentiert.
Auf Basis der Originale sollen im Rahmen dieser digitalen Edition Freuds Briefe nach Möglichkeit als Faksimile und in diplomatischer Umschrift ediert, mit einem differenzierten Register- und Anmerkungsapparat versehen und über Querverweisen mit dem gesamten Werk verbunden werden. Die von Freud nicht auf Deutsch (sondern auf Englisch, Französisch oder Spanisch) verfassten Texte und Briefe werden sowohl in ihrer ursprünglichen Sprache als auch in deutscher Übersetzung aufgenommen.
Gerhard Fichtner hat umfangreiche Recherchen zum Briefbestand hinterlassen. Die bis zum 15.11.2013 publizierten Briefe finden sich verzeichnet in:
- Meyer-Palmedo, Ingeborg; Fichtner, Gerhard (1999): Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag
- Fichtner, Gerhard; Hirschmüller, Albrecht (2013/14): Freud-Bibliographie. Ergänzungen zur zweiten Auflage von 1999. Bearbeitet von Gerhard Fichtner † und Albrecht Hirschmüller, Stand: 15. 11. 2013, online zugänglich.
work in progress
Im Rahmen dieser Edition werden (Teil-)Ergebnisse für Forschung, Lehre und die Leserschaft kontinuierlich zur Verfügung gestellt – mit dem Risiko der Unvollkommenheit, des Vorläufigen und des Fehlerhaften, aber auch getragen von der Überzeugung, dass Kritik und Unterstützung für ein Vorhaben dieser Art unverzichtbar sind.
Noch für einige Zeit wird der Schwerpunkt der Arbeiten die Einbringung der in der Library of Congress archivierten Briefkonvolute, ihre Digitalisierung und ihre Aufnahme in die Editionsdatenbank.
Das digitale Medium erlaubt es, dass in dieser Edition im Sinne eines wissenschaftlichen und gestaltenden Prinzips nach Möglichkeit jeder Text als Abbild des Originals und in diplomatischer Umschrift vorliegt. Das braucht Zeit.
Beim Briefwerk liegen derzeit nur zwei Briefkonvolute exemplarisch als Faksimile und in diplomatischer Umschrift vor, aber bei vielen der zum Teil noch unveröffentlichten Briefe stehen der Edition die Transkriptionen von Ernst Falzeder zur Verfügung.
Vollständig edierte Korrespondenzen werden in exemplarischen Fällen in nächster Zeit erstellt werden. Aber der Schwerpunkt der Arbeiten wird noch für lange Zeit auf der Erfassung der Quellen und der Erstellung von diplomatischen Umschriften liegen.
(1) Gerhard Fichtner (1989): Freuds Briefe als historische Quelle. Psyche 43: 803–29, S. 806.
(2) Ernst Falzeder (2010): Freuds Briefwechsel als paralleles Œuvre. Zeitschrift des Salzburger Arbeitskreises für Psychoanalyse, Nr. 17, August 2010, S. 1.
(3) Vgl. Falzeder, op. cit.; Michael Schröter: Briefe. In: Freud-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung. Herausgegeben von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer (Kapitel 12). Stuttgart: Metzler, 2006.
[EF, CD; 2014-2021]