Der Dichter und das Phantasieren 1908-005/1908
1908-005/1908 Der Dichter und das Phantasieren
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    Der Dichter und das Phantasieren.

    Von
    Prof. Dr. Sigm. Freud (Wien).

    Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese merkwürdige
    Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt – etwa im Sinne der Frage, die jener
    Kardinal an den Ariosto richtete –, und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen
    so zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht

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    einmal für fähig gehalten hätten. Unser Interesse hierfür wird nur gesteigert durch
    den Umstand, daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen, uns keine oder keine
    befriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht gestört durch unser Wissen, daß die
    beste Einsicht in die Bedingungen der dichterischen Stoffwahl und in das Wesen
    der poetischen Gestaltungskunst nichts dazu beitragen würde, uns selbst zu Dichtern
    zu machen.

    Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsergleichen eine dem Dichten irgend-
    wie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung derselben ließe uns
    hoffen, eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und
    wirklich, dafür ist Aussicht vorhanden; – die Dichter selbst lieben es ja, den Ab-
    stand zwischen ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern;
    sie versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke; und daß
    der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben werde.

    Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde
    suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Viel-
    leicht dürfen wir sagen: jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, in-
    dem es sich eine eigene Welt erschafft, oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt
    in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen,
    es nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr ernst,
    es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst,
    sondern – Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz
    aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt seine imaginierten Objekte und
    Verhältnisse gerne an greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an. Nichts
    anderes als diese Anlehnung unterscheidet das „Spielen“ des Kindes noch vom
    „Phantasieren“.

    Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine
    Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen ausstattet 
    während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert. Und die Sprache hat diese
    Verwandtschaft von Kinderspiel und poetischem Schaffen festgehalten, indem sie
    solche Veranstaltungen des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objekte
    bedürfen, welche der Darstellung fähig sind, als SpieleLustspielTrauerspiel,
    und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet. Aus der Un-
    wirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr wichtige Folgen für die
    künstlerische Technik, denn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann
    dies doch im Spiele der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen 
    können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.

    Verweilen wir einer anderen Beziehung wegen noch einen Augenblick bei dem
    Gegensatze von Wirklichkeit und Spiel! Wenn das Kind herangewachsen ist und
    aufgehört hat zu spielen, wenn es sich durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die

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    Wirklichkeiten des Lebens mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen, so kann es
    eines Tages in eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen
    Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich darauf besinnen,
    mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er nun
    seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die
    allzu schwere Bedrückung durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lust-
    gewinn des Humors.

    Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf
    den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des
    Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der
    Verzicht auf einmal gekannte Lust. Eigentlich können wir auf nichts verzichten,
    wir vertauschen nur einer mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist
    in Wirklichkeit eine Ersatz‑ oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwach-
    sende, wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung an reale
    Effekte; anstatt zu spielen phantasiert er jetzt. Er baut sich Luftschlösser,
    schafft das, was man Tagträume nennt. Ich glaube, daß die meisten Menschen
    zuzeiten ihres Lebens Phantasien bilden. Es ist das eine Tatsache, die man lange
    Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht genug gewürdigt hat.

    Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als das
    Spielen der Kinder. Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet mit andern
    Kindern ein geschlossenes psychisches System zum Zwecke des Spieles, aber wenn
    es auch den Erwachsenen nichts vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht
    vor ihnen. Der Erwachsene aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie
    vor anderen, er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel
    lieber seine Vergehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen. Es mag vor-
    kommen, daß er sich darum für den einzigen hält, der solche Phantasien bildet,
    und von der allgemeinen Verbreitung ganz ähnlicher Schöpfungen bei anderen nichts
    ahnt. Dies verschiedene Verhalten des Spielenden und des Phantasierenden findet seine
    gute Begründung in den Motiven der beiden einander doch fortsetzenden Tätigkeiten.

    Das Spielen des Kindes wurde von Wünschen dirigiert, eigentlich von dem
    einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft, vom Wunsche: groß und erwachsen
    zu sein. Es spielt immer „groß sein“, imitiert im Spiel, was ihm vom Leben der
    Großen bekannt geworden ist. Es hat nun keinen Grund, diesen Wunsch zu ver-
    bergen. Anders der Erwachsene: dieser weiß einerseits, daß man von ihm er-
    wartet, nicht mehr zu spielen oder zu phantasieren, sondern in der wirklichen
    Welt zu handeln, und anderseits sind unter den seine Phantasien erzeugenden
    Wünschen manche, die es überhaupt zu verbergen not tut; darum schämt er sich
    seines Phantasierens als kindisch und als unerlaubt.

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    Sie werden fragen, woher man denn über das Phantasieren der Menschen so
    genau Bescheid wisse, wenn es von ihnen mit soviel Geheimtun verhüllt wird? 
    Nun, es gibt eine Gattung von Menschen, denen zwar nicht ein Gott, aber eine
    strenge Göttin – die Notwendigkeit – den Auftrag erteilt hat, zu sagen, was sie
    leiden und woran sie sich erfreuen. Es sind dies die Nervösen, die dem Arzte,
    von dem sie Herstellung durch psychische Behandlung erwarten, auch ihre Phan-
    tasien eingestehen müssen; aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und
    wir sind dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt, daß unsere Kranken
    uns nicht anderes mitteilen, als was wir auch von den Gesunden erfahren könnten.

    Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens kennen zu lernen.
    Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte
    Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine
    Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden
    Wünsche sind verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der
    phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang nach zwei Haupt-
    richtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige Wünsche, welche der Erhöhung
    der Persönlichkeit dienen, oder erotische. Beim jungen Weibe herrschen die eroti-
    schen Wünsche fast ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebes-
    streben aufgezehrt; beim jungen Mann sind neben den erotischen die eigensüchtigen
    und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. Doch wollen wir nicht den Gegen-
    satz beider Richtungen, sondern vielmehr deren häufige Vereinigung betonen; wie
    in vielen Altarbildern in einer Ecke das Bildnis des Stifters sichtbar ist, so können
    wir an den meisten ehrgeizigen Phantasien in irgend einem Winkel die Dame ent-
    decken, für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er alle Erfolge
    zu Füßen legt. Sie sehen, hier liegen genug starke Motive zum Verbergen vor;
    dem wohlerzogenen Weibe wird ja überhaupt nur ein Minimum von erotischer Be-
    dürftigkeit zugebilligt, und der junge Mann soll das Übermaß von Selbstgefühl,
    welches er aus der Verwöhnung der Kindheit mitbringt, zum Zwecke der Ein-
    ordnung in die an ähnlich anspruchsvollen Individuen so reiche Gesellschaft unter-
    drücken lernen.

    Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die einzelnen Phantasien, Luft-
    schlösser oder Tagträume dürfen wir uns nicht als starr und unveränderlich vor-
    stellen. Sie schmiegen sich vielmehr den wechselnden Lebenseindrücken an, ver-
    ändern sich mit jeder Schwankung der Lebenslage, empfangen von jedem wirk-
    samen, neuen Eindrucke eine sogenannte „Zeitmarke“. Das Verhältnis der Phan-
    tasie zur Zeit ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie
    schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres Vorstellens.
    Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen Anlaß in der Gegen-
    wart an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, 

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    greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses
    zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft
    bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben
    den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlaß 
    und von der Erinnerung an sich trägt. Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zu-
    künftiges wie an der Schnur des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht.

    Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung erläutern. Nehmen Sie
    den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, dem Sie die Adresse eines
    Arbeitgebers genannt haben, bei dem er vielleicht eine Anstellung finden kann.
    Auf dem Wege dahin mag er sich in einem Tagtraum ergehen, wie er angemessen
    aus seiner Situation entspringt. Der Inhalt dieser Phantasie wird etwa sein, daß
    er dort angenommen wird, seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unent-
    behrlich macht, in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende Töchterchen
    des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer wie später als Nachfolger das
    Geschäft leitet. Und dabei hat sich der Träumer ersetzt, was er in der glück-
    lichen Kindheit besessen, das schützende Haus, die liebenden Eltern und die ersten
    Objekte seiner zärtlichen Neigung. Sie sehen an solchem Beispiel, wie der Wunsch
    einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der Vergangenheit
    ein Zukunftsbild zu entwerfen.

    Es wäre noch vielerlei über die Phantasien zu sagen; ich will mich aber auf
    die knappsten Andeutungen beschränken. Das Überwuchern und Übermächtig-
    werden der Phantasien stellt die Bedingungen für den Verfall in Neurose oder
    Psychose her; die Phantasien sind auch die nächsten seelischen Vorstufen der
    Leidenssymptome, über welche unsere Kranken klagen. Hier zweigt ein breiter
    Seitenweg zur Pathologie ab.

    Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum Traume.
    Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als solche Phantasien, wie
    wir durch die Deutung der Träume evident machen können.*) Die Sprache hat in
    ihrer unübertrefflichen Weisheit die Frage nach dem Wesen der Träume längst 
    entschieden, indem sie die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch „Tagträume
    nennen ließ. Wenn trotz dieses Fingerzeiges der Sinn unserer Träume uns zu-
    meist undeutlich bleibt, so rührt dies von dem einen Umstande her, daß nächtlicher-
    weise auch solche Wünsche in uns rege werden, deren wir uns schämen, und die
    wir vor uns selbst verbergen müssen, die eben darum verdrängt, ins Unbewußte
    geschoben wurden. Solchen verdrängten Wünschen und ihren Abkömmlingen kann
    nun kein anderer als ein arg entstellter Ausdruck gegönnt werden. Nachdem die
    Aufklärung der Traumentstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war,

    *) Vg. des Verfassers „Traumdeutung“, Wien 1907.

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    fiel es nicht mehr schwer zu erkennen, daß die nächtlichen Träume ebensolche
    Wunscherfüllungen sind wie die Tagträume, die uns allen so wohl bekannten
    Phantasien.

    Soviel von den Phantasien, und nun zum Dichter! Dürfen wir wirklich den
    Versuch machen, den Dichter mit dem „Träumer am hellichten Tag“, seine
    Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? Da drängt sich wohl eine erste
    Unterscheidung auf; wir müssen die Dichter, die fertige Stoffe übernehmen wie die
    alten Epiker und Tragiker, sondern von jenen, die ihre Stoffe frei zu schaffen
    scheinen. Halten wir uns an die letzteren und suchen wir für unsere Vergleichung
    nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden,
    sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten,
    die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden. An den
    Schöpfungen dieser Erzähler muß uns vor allem ein Zug auffällig werden; sie
    alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der
    Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit
    einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. Wenn ich am Ende eines
    Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden blutend verlassen habe,
    so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten in sorgsamster Pflege und auf dem
    Wege der Herstellung zu finden, und wenn der erste Band mit dem Untergange des
    Schiffes im Seesturme geendigt hat, auf dem unser Held sich befand, so bin ich
    sicher, zu Anfang des zweiten Bandes von seiner wunderbaren Rettung zu lesen,
    ohne die der Roman ja keinen Fortgang hätte. Das Gefühl der Sicherheit, mit
    dem ich den Helden durch seine gefährlichen Schicksale begleite, ist das nämliche,
    mit dem ein wirklicher Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu
    retten, oder sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen; 
    jenes eigentliche Heldengefühl, dem einer unserer besten Dichter den köstlichen Aus-
    druck geschenkt hat: „Es kann dir nix g’schehen.“*) Ich meine aber, an diesem
    verräterischen Merkmal der Unverletzlichkeit erkennt man ohne Mühe – Seine
    Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane.

    Noch andere typische Züge dieser egozentrischen Erzählungen deuten auf die
    gleiche Verwandtschaft hin. Wenn sich stets alle Frauen des Romans in den Helden
    verlieben, so ist das kaum als Wirklichkeitsschilderung aufzufassen, aber leicht als
    notwendiger Bestand des Tagtraumes zu verstehen. Ebenso wenn die anderen Per-
    sonen des Romans sich scharf in gute und böse scheiden, unter Verzicht auf die
    in der Realität zu beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die „guten“
    sind eben die Helfer, die „bösen“ aber die Feinde und Konkurrenten des zum
    Helden gewordenen Ichs.

    *) Anzengruber.

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    Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische Schöpfungen sich
    von dem Vorbild des naiven Tagtraums weit entfernt halten, aber ich kann doch
    die Vermutung nicht unterdrücken, daß auch die extremsten Abweichungen durch
    eine lückenlose Reihe von Übergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt
    werden könnten. Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir
    aufgefallen, daß nur eine Person, wiederum der Held, von innen geschildert wird;
    in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von
    außen an. Der psychologische Roman verdankt im ganzen wohl seine Besonder-
    heit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in
    Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens
    in mehreren Helden zu personifizieren. In einem ganz besonderen Gegensatz zum
    Typus des Tagtraumes scheinen die Romane zu stehen, die man als „exzentrische“
    bezeichnen könnte, in denen die als Held eingeführte Person die geringste tätige
    Rolle spielt, vielmehr wie ein Zuschauer die Taten und Leiden der anderen an sich
    vorüberziehen sieht. Solcher Art sind mehrere der späteren Romane Zolas. Doch
    muß ich bemerken, daß die psychologische Analyse nicht dichtender, in manchen
    Stücken von der sogenannten Norm abweichender Individuen uns analoge Variationen
    der Tagträume kennen gelehrt hat, in denen sich das Ich mit der Rolle des Zu-
    schauers bescheidet.

    Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der poetischen
    Schöpfung mit dem Tagtraum, wertvoll werden soll, so muß sie sich vor allem in
    irgend einer Art fruchtbar erweisen. Versuchen wir etwa, unseren vorhin auf-
    gestellten Satz von der Beziehung der Phantasie zu den drei Zeiten und zum durch-
    laufenden Wunsche auf die Werke der Dichter anzuwenden und die Beziehungen
    zwischen dem Leben des Dichters und seinen Schöpfungen mit dessen Hilfe zu
    studieren. Man hat in der Regel nicht gewußt, mit welchen Erwartungsvorstel-
    lungen man an dieses Problem herangehen soll; häufig hat man sich diese Be-
    ziehung viel zu einfach vorgestellt. Von der an den Phantasien gewonnenen Ein-
    sicht her müßten wir folgenden Sachverhalt erwarten: Ein starkes aktuelles Erlebnis
    weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges
    Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung
    seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen
    Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.

    Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser Formel; ich vermute,
    daß sie sich in Wirklichkeit als ein zu dürftiges Schema erweisen wird, aber eine
    erste Annäherung an den realen Sachverhalt könnte doch in ihr enthalten sein,
    und nach einigen Versuchen, die ich unternommen habe, sollte ich meinen, daß
    eine solche Betrachtungsweise dichterischer Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen
    kann. Sie vergessen nicht, daß die vielleicht  befremdende Betonung der Kindheitserinnerung

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    im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der Voraussetzung ableitet,
    daß die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen
    Spielens ist.

    Versäumen wir nicht, auf jene Klasse von Dichtungen zurückzugreifen, in denen
    wir nicht freie Schöpfungen, sondern Bearbeitungen fertiger und bekannter Stoffe
    erblicken müssen. Auch dabei verbleibt dem Dichter ein Stück Selbständigkeit, das
    sich in der Auswahl des Stoffes und in der oft weitgehenden Abänderung desselben
    äußern darf. Soweit die Stoffe aber gegeben sind, entstammen sie dem Volksschatze
    an Mythen, Sagen und Märchen. Die Untersuchung dieser völkerpsychologischen
    Bildungen ist nun keineswegs abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen
    durchaus wahrscheinlich, daß sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien
    ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit, entsprechen.

    Sie werden sagen, daß ich Ihnen von den Phantasien weit mehr erzählt habe,
    als vom Dichter, den ich doch im Titel meines Vortrages vorangestellt. Ich weiß
    das und versuche es durch den Hinweis auf den heutigen Stand unserer Erkenntnis
    zu entschuldigen. Ich konnte Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen,
    die von dem Studium der Phantasien her auf das Problem der dichterischen Stoff-
    wahl übergreifen. Das andere Problem, mit welchen Mitteln der Dichter bei uns
    die Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schöpfungen hervorruft, haben wir
    überhaupt noch nicht berührt. Ich möchte Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher
    Weg von unseren Erörterungen über die Phantasien zu den Problemen der poetischen
    Effekte führt.

    Sie erinnern sich, wir sagten, daß der Tagträumer seine Phantasien vor anderen
    sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt, sich ihrer zu schämen. Ich füge nun
    hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen würde, könnte er uns durch solche Ent-
    hüllung keine Lust bereiten. Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie
    erfahren, abgestoßen oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter
    uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen
    Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus
    vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie der Dichter das zustande bringt, das
    ist sein eigenstes Geheimnis; in der Technik der Überwindung jener Abstoßung,
    die gewiß mit den Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen
    Ich und den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica. Zweierlei Mittel
    dieser Technik können wir erraten: Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen
    Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein
    formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn, den er uns in der Darstellung seiner Phan-
    tasien bietet. Man nennt einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit
    ihm die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu
    ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust. Ich bin der Meinung, 

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    daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft, den Charakter solcher
    Vorlust trägt, und daß der eigentliche Genuß des Dichtwerkes aus der Befreiung
    von Spannungen in unserer Seele hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem
    Erfolg nicht wenig bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen
    Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen. Hier stünden
    wir nun am Eingange neuer interessanter und verwickelter Untersuchungen, aber,
    wenigstens für diesmal, am Ende unserer Erörterungen.