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    Prof. Dr. Freud                                                          

    Wien, IX. Berggasse 19.

    31 Okt 15

    Lieber Freund

    Ich nötige mich heute zum Schreiben, um mich 
    abzulenken, u beginne mit der Versicherung, 
    daß ich Ihren schmackhaften wissenschaftl 
    Speisezettel unter deutlichem Mundwässern 
    zur Kenntnis genom̄en habe. Für die Pub-
    likationsform möchte ich Ihnen vorschlagen, 
    das Ganze in den nächsten Band des 
    Jahrb zu stecken und es gleichzeitig als 
    Buch zu veröffentlichen, was leicht geht 
    u doppeltes Honorar bedeutet. Sie wissen 
    daß Jung es ebenso gemacht hat. Voraus-
    setzung ist natürlich, daß wir D dazu be-
    koD[euticke]en, rechtzeitig einen neuen Band 
    des Jahrb herauszugeben, für den aber 
    nichts da ist als meine große Krankenge-
    schichte u eine Arbeit von Abraham. Mit 
    dem Ihrigen kann es sich dann sehen lassen.

    Ich weiß nicht, wie lange ich Ihnen nicht 
    geschrieben habe u bin darum in Gefahr 
    Nachrichten zu wiederholen. Ich glaube, es 
    war am 17/X. So werde ich Ihnen wol er-
    zält haben, daß Martin für einen 
    halben Tag hier war. Er schreibt seitdem 
    aus friedlicher Ruhe zwischen Palmen 
    und Magnolien, also wahrscheinlich Riva
    Arco usw. Hingegen dürfte ich nicht erwähnt 
    haben, daß mein sehr lieber Patient aus 
    Ihrer Nähe (Herény bei Szombathely
    am Typhus gestorben ist und daß mir 

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    ein anderer, ein junger Bremer, durch die letzte 
    deutsche Musterung entzogen wurde. Meine 
    Thätigkeit ist demnach sehr bescheiden. Die Vor-
    mittage sind fast völlig frei. In dieser Muße 
    habe ich mich bestim̄en lassen, die Vorlesungen 
    zu eröffnen, und fand mich am 23/X wie am 
    30/X einem Kolleg von etwa 70 Personen 
    gegenüber, darunter zwei Töchter und eine 
    Schwiegertochter. So wurde mir nahegelegt 
    aus der Vorlesung etwas mehr zu machen 
    als sonst, mich ordentlich vorzubereiten 
    und in weiterem Verlauf kam ich zu der 
    Absicht, die so gehaltenen Vorlesungen 
    auch zu veröffentlichen. Rank hat mir 
    diese Absicht sofort aufgeklärt; ich will es 
    mir unmöglich machen, diese „Einführung 
    in die ΨA“ noch einmal vorzutragen. Trotz 
    der Aufklärung ist der Plan erhalten 
    geblieben. Ich habe bereits mit Heller 
    gesprochen, der sich bald entscheidend darüber 
    äußern wird und denke daran, die 
    Publikationen in Lieferungen, 2 ‑ 3 lectures auf 
    einmal noch während des Krieges vor sich 
    gehen zu lassen. Qu’en pensez‑vous
    Es ist zwar der alte Stoff, der mir greulich 
    ist, aber ich versuche ihn neu zu gruppiren 
    und auf dialektische Unterweisung ein-
    zurichten u kom̄e so wenigstens über 
    das quälende Gefül, den halben Tag 
    nichts vorzuhaben, gut hinweg.

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    Was mich stört und peinlich 
    beschäftigt, ist die Lebensgefahr, in der ich 
    Ernst weiß. Am 24/X erhielten wir die Nach-
    richt, daß er schweren Beschießungen Stand 
    hält und der einzige von seinem Geschütz 
    übriggeblieben ist. Zwei Tage später teilte 
    er ausführlich mit, was geschehen war. Flieger 
    hatten ihren Unterstand ausgekundschaftet 
    u während des letzten von ihm als furchtbar 
    bezeichneten Feuers der Italiener wurde 
    der Unterstand seiner Mannschaft von einem 
    Volltreffer getroffen u die 5 Mann, mit 
    denen er seit Monaten lebt, verschüttet 
    und begraben. Durch einen Zufall war er 
    in diesem Augenblick nicht im Unterstand. 
    Er schreibt aus einer Ruhepause, in der er 
    wieder schlafen u sich waschen konnte, ist zum 
    Kadetten eingegeben, auch für eine kleine 
    Auszeichnung vorgeschlagen u hält das Ärgste 
    für überstanden. Wir wissen aber, daß 
    das Höllenfeuer auf das Doberdoplateau 
    (über Monfalcone) seither wieder kräftig 
    begonnen hat. Wüßte man nur sicher, daß 
    das Glückhaben eine konstante Eigen-
    schaft des Menschen ist! Auch mein Schwieger-
    sohn in Hamburg ist endlich für den 2/XI 
    einberufen. Minna hat darum ihren Auf-
    enthalt dort verlängert. Es ist natürlich 

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    auch eine kleine Katastrophe. So bin ich jetzt 
    durch die Ereigniße, denen meine Stim̄ung 
    eigentlich bisher widerstanden hatte, mürbe 
    gemacht u fühle mich so abhängig von dem,
    was geschehen wird.

    Tausk ist nach Kowel versetzt worden. 
    Rank prophezeit seine Übersiedlung 
    nach Krakau. Die Verleihung des Nobel-
    preises an Bárany, den ich seinerzeit als 
    Schüler abwies, weil er mir zu abnorm 
    und unsympathisch erschien, hat wahrscheinlich 
    auch trübe Gedanken über die Hilflosig-
    keit eines Einzelnen gegen die Acht 
    der Menge geweckt. Sie wissen, es läge 
    mir nur an dem Preisgeld u vielleicht 
    an der Rache, die sich aus dem Ärger einiger 
    Kompatrioten ergeben würde. Aber es 
    wäre lächerlich, ein Zeichen der Anerken-
    nung zu erwarten, wenn man 7/8 der 
    Welt gegen sich hat. Das Urteil ist ruhig 
    geblieben u weigert sich, die ΨA gegen 
    otiatrischen Kleinkram zu messen.

    Mein Bruder ist enthoben worden. Wenn 
    wir diese Zeiten überstehen, geht unsere 
    nächste Reise doch nach Konstantinopel.

    Herzliche Grüße, lassen Sie mich 
    bald etwas hören, am liebsten Gutes.
    Ihr 
    Freud

    Anmerkungen 
    Qu’en pensez‑vous?: Was denken Sie?
    D: Deuticke
    Jahrb: Jahrbuch für Psychoanalyse

    Anmkerungen Ernst Falzeder:
    odiatrisch: Die Ohrenheilkunde betreffend.

    Max Halberstadt, der Gatte Sophies. 

    Im Jänner 1916 ging Rank nach Krakau, wo er für die folgenden drei Jahre Redakteur der Krakauer Zeitung, der einzigen deutschen Tageszeitung in Galizien, wurde. Galizien hatte damals etwa 8 Millionen Einwohner, wovon 54 % polnisch-, 43 % ruthenisch- und 3 % deutschsprachig waren.

    Robert Bárány (1876-1936), österr. Mediziner ungarischer Abstammung; Professor an der Wiener Universität, ab 1917 in Uppsala. Er erarbeitete neue diagnostische und chirurgische Methoden in der Ohrenheilkunde und erhielt im Dezember 1914 für seine Arbeiten über die Physiologie und Pathologie des Vestibularapparats den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Bárány sollte dann selbst – erfolglos – Freud für den Nobelpreis vorschlagen (Clark, Freud, S. 432).

    Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Freud 1916-17a [1915-17]). Vgl. Jones II, S. 261ff., und die editorische Vorbemerkung in Studienausgabe 1, S. 34-36.

    Anna (Gay, Freud, S. 368), Mathilde und Ella Haim.

    Vgl. 352 Fer, Anm. 7.

    Es sollte kein Jahrbuch mehr geben. Freuds `große Krankengeschichte@, die Analyse des `Wolfsmannes@ (Freud 1918b [1914]), erschien erst 1918 in der vierten Folge seiner Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Abrahams heute als klassisch angesehenen EUntersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der LibidoD (Abraham 1916, 52) kamen dann 1916 in der Zeitschrift (1916, 4: S. 71-97) heraus (siehe 594 F).