• S.

    Prof. Dr. Freud                                                          
    Wien, IX. Berggasse 19.

    Königssee 7.9.15

    Lieber Freund

    Ich werde Ihnen morgen den Empfang Ihrer 
    beiden Briefe aus Györ telegraphisch 
    bestätigen. Auf den ersten hatte ich der ver-
    meintlichen Raschheit wegen mit einer 
    Karte geantwortet.

    Wir gedenken hier bis zum 11 oder 13t 
    zu bleiben, dem Wetter nach, dem wir
     durchaus noch einige schönere Tage abpressen 
    wollen. Dann gehe ich nach Hamburg, bis Berlin 
    mit meiner Schwägerin, und werde wol 
    einige Tage vor Monatsende zurückkom̄en. 
    In diesen letzten Tagen gedenke ich Sie zu 
    besuchen – soweit sich heuer Pläne machen 
    lassen. Von den beiden Jungen sind gute 
    aber spärliche Nachrichten; mit Verkehr 
    ist der Verkehr ungefähr wie mit Amerika. 
    Ernst ist uns näher gerückt, seitdem wir 
    wissen, daß er auf dem Karst nicht weit 
    von einer großen Hafenstadt sitzt.

    Ich habe ebenso wie Sie in diesen Tagen 
    gar nichts mehr gearbeitet, aber mehr 
    unter dem Einfluß des Waldes als der 
    Weltlage. Die Schwammernte, mein Jagd-
    vergnügen, hat unter dem kalten Wetter 
    allerdings sehr gelitten. Heute habe ich 
    meine beiden Töchter nach Salzburg 
    auf dem Heimwege begleitet, und war 

  • S.

    doch ziemlich überrascht, an dem Stimmungsfall 
    nach dem Abschied zu bemerken, wie sehr meine 
    Libido sich an ihnen gesättigt hatte. Die Kleine 
    ist aber auch ein besonders liebes und inter-
    essantes Geschöpf. Nun sind mir nur die beiden 
    Alten geblieben.

    Von Imago und Zeitschrift treffen jetzt wieder 
    Korrekturen ein. Heller scheint also nach 
    seiner Zurückstellung sein Gleichgewicht 
    wieder gefunden zu haben. Sachs ist nach 10 
    tägigem Dienst als untauglich zurückge-
    kom̄en u verspricht, am zweiten Teil des 
    „Geistersehers“ zu arbeiten. Tausk ist im 
    Spital in Rzészow u schreibt mir von 
    dort düstere Briefe.

    I won’t be plucked of my feathers, sagte 
    Lord Bacon, als man ihm in seinem Prozeß 
    die Fortsetzung seiner bisherigen liberalen 
    Lebensführung vorwarf. So wehre ich mich 
    auch dagegen, daß mir der Krieg nicht alle 
    meine Liebhabereien ausrupfe. Am 4 Okt 
    tritt allerdings wieder der Ernst des Lebens 
    an. Es wird Sie interessiren zu hören, daß Oli
    jetzt Ingenieur in fester Stellung sich mit 
    einer Medizinerin verlobt hat, die er auf 
    der Universitätsreise nach Egypten kennen 
    gelernt hatte. Sie denken an baldige Heirat, 
    der nur die Unsicherheit, ob er noch einberufen 
    wird, im Wege steht. Ich hoffe Gutes für ihn

    In notgedrungener Abkürzung mit den 
    herzlichsten Grüßen Ihr 
    Freud

    Nächste Adresse: 
    Hmbg Parkallee 18

    Vorläufige Anmerkung Ernst Falzeder:
    Francis Bacon, Baron Verulam, Viscount Saint Albans (1561-1626), englischer Philosoph, Schriftsteller, Jurist und Staatsmann (1618 Lordkanzler); 1621 wegen Korruption aus allen öffentlichen Ämtern entlassen. Vertreter einer streng empirischen Forschung (im Gegensatz zu deduktiven Methoden). Die Hypothese, er sei der Verfasser der Shakespeare zugeschriebenen Werke gewesen, brachte Freud nach seinen eigenen Worten „immer etwas aus der Fassung“ (Jones III, S. 499). Den Ausspruch Bacons – dessen Reaktion auf die Korruptionsanklage – hat Freud öfter zitiert, z.B. noch einmal Ferenczi gegenüber (686 F) und 1931 in einem Brief an Max Eitingon (Schur, Freud, S. 660).

    Oliver und die Medizinstudentin Ella Haim heirateten am 19.12.1915 in Wien (581 F und Freud an Eitingon, 1.1.1916 [SFC]). Die Ehe dauerte jedoch nur kurz; Oliver kam `Ende Mai@ 1916 (607 F) wegen der staatlichen Scheidungsformalitäten nach Wien, am 10.9.1916 wurde die Ehe rituell geschieden (Kalendernotiz Freuds, LOC). Siehe Einleitung