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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.17 Okt 10.
Lieber Freund
Ich nahm mir vor Ihnen erst zu schreiben,
wenn das Zentralblatt vorläge, aber ich
habe heute einen müden Tag u bin nur zum
Briefschreiben zu gebrauchen. So sind Sie das
Opfer.Sie vertreten also noch immer Ihren Standpunkt,
u wie ich zugebe, mit Wärme u guten Argumenten.
Aber es ist nichts für mich Verbindliches dabei.
Wahrscheinlich stellen Sie sich ganz andere
Geheimniße vor, als ich mir reservirt habe,
oder meinen, es sei ein besonderes Leiden
damit verknüpft, während ich mich allem
gewachsen fühle u die Überwindung meiner
Homosexualität mit dem Ergebnis der größeren
Selbständigkeit gutheiße.Es fällt mir noch ein, daß ein lähmender
Einfluß von Ihnen insoferne ausging, als
Sie im̄er bereit waren, mich zu bewundern.
Da ich auf meine Selbstkritik gerade in
wissenschaftlichen Dingen sehr eifersüchtig bin,
gab ich dann natürlich zum Bewundern
keinen Anlaß. Die Selbstkritik ist keine
angenehme Gabe, aber nächst meinem Mut
das Beste an mir und sie hat unter meinen
Publikationen eine strenge Auswal
getroffen. Ohne sie hätte ich dreimal soviel
der Öffentlichkeit geben können. Sie ist
mir um so wertvoller, als fast niemand
sie bei mir vermutet. -
S.
Ich bin jetzt voll besetzt, von 8‑8½h, und finde die
Thätigkeit bereits etwas monoton. Es giebt
aber immer kleine Ernten. Dem Bericht über
Ihre Thätigkeit habe ich nichts ähnlich Vielseitiges
an die Seite zu stellen. Sehr viel Zeit kostet
mich jetzt der Briefverkehr. Bleuler hat mir
mit einem 8 Seiten langen Brief geantwortet,
ich darauf mit einem 10 Seiten langen replizirt.
Seine Argumente sind merkwürdig däm̄erig.
Wenn er mir Aussichten giebt, den Riß zu
vernähen, gehe ich vielleicht über Weihnacht
nach Zürich.Jones’ Hamlet liegt mir in deutscher Übersetzg
vor. Ich werde ihn als 10 Heft der Schriften
bringen, wie Deuticke vorgeschlagen hat.Wenn Sie Ihrem Kollegen eine heftige Ab-
fertigung verschaffen wollen, so habe ich gewiß
nichts dagegen. Sie werden einer Zensur
nicht bedürfen. Ich will nur nicht, daß die
Energie meiner Wiener in die Kanäle der
Polemik geleitet werde u halte sie wie
die Hunde an der Koppel. Ihren Vortrag von
Nürnberg anzuhören ist das größere Publikum
wol nicht reif. Er war durchaus intern.Ich grüße Sie herzlich u hoffe auf
gute Nachrichten.
Ihr
Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsebét-kőrut 54
Budapest 1073
Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16294248 Autogr. 1053/8(1–12) HAN MAG