• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    5.6.10.

    Lieber Freund

    Soeben erhalte ich den beiliegenden sehr 
    interessanten Brief von Brill. Ich hoffe Sie 
    also jetzt im Juni in Wien zu sehen u über-
    lasse Ihnen die Sondirung Brills in Betreff 
    der Reise. Seine Theilnahme wird allerdings 
    durch diesen Besuch wenig wahrscheinlich. 

    Ich anerkenne Ihre intensiven Bemühungen 
    die Bpester Gruppe zu schaffen, doch finde 
    ich, daß Sie sich mit den Vorlesungen 9‑11 h 
    3mal in der Woche zuviel Plage auferlegt 
    haben. Denken Sie, daß Sie erst im Sept. 
    Urlaub nehmen wollen, u daß ein heißer 
    Sommer bevorsteht.

    Jung hat in Z. noch im̄er Schwierigkeiten, deren 
    er nicht Herr geworden ist. Die Gruppe ist 
    rudimentär und das Korresp.blatt verzögert 
    sich. Doch sind das jetzt wesentlich seine 
    Sorgen. Wie berechtigt die Gründung des 
    Zentralblattes war, beweist die Praxis 
    des neuen Alzheimer’schen, Arbeiten in 
    unserem Sinne als nicht wissenschaftlich zu-
    rückzuweisen.

    Zwei interessante Besuche in letzter Zeit. 
    Am 28/5 Friedländer (!), der von 9h‑1h 
    nachts bei mir war, u gestern Ossipow 
    aus Moskau. Die Schilderung F’s ver-
    spare ich mir aufs Mündliche; es war 

  • S.

    mir ein Genuß zu sehen, was für Lügner, Gauner 
    u Ignorant er ist (keine Diskretion von Nöten). 
    Ich habe ihn sehr schlecht behandelt. Der Russe 
    ist ein prächtiger Kerl, klarer Kopf, ehrlich 
    überzeugter Anhänger, u wird eine gute Ak-
    quisition sein. Er wird die Worcester ΨΑ ins 
    Russische übersetzen.

    Ich habe mich nach zwei schlechten Wochen zur 
    ärztlichen Behandlg entschloßen, befinde 
    mich seither auch viel besser. Es soll gewiß 
    nur eine Kolitis sein ohne Appendixbetheiligg; 
    ich halte Diät, gebrauche Thermophore etc. 
    Ich möchte Ihnen nämlich den Ärger nicht 
    anthun, mit einem Kranken die Ferien 
    zu verreisen.

    Meine Frau u Sophie sind heute früh von Karlsbad 
    zurückgekommen. Ein Theil der Familie geht schon 
    im Juni zu Jekels nach Bistrai wohin 
    ich am 14 Juli nachkomme. Nach Noortwijk 
    gehen wir erst am 1 August.

    Ich grüße Sie herzlich und hoffe Ihre Äußerg 
    über den Leonardo bald von Ihnen persönlich 
    zu hören. 
    Ihr Freud