• S.

    Prof. Dr. Freud                           
    Wien, IX. Berggasse 19.

    3.4.10.

    Lieber Freund

    Ich bin gestern mittags mit Steiner nach Hause ge-
    reist, abends hier angekom̄en, fühle mich 
    heute noch sehr müde nach der Ostererholung 
    und habe das Bedürfnis, epilogisch mit Ihnen 
    über den Kongreß zu plaudern. Kein Zweifel, 
    daß er außerordentlich gelungen war, und 
    doch haben wir beide persönlich am wenigsten 
    Glück gehabt. Mein Vortrag fiel offenbar 
    ab, ich weiß nicht, warum; er enthielt doch 
    vieles, was des Interesses wert gewesen 
    wäre. Vielleicht verriet er zu sehr meine 
    innere Müdigkeit. Ihr temperamentvolles 
    und geistreiches Plaidoyer hatte das Unglück 
    soviel Widerspruch zu entfesseln, daß man 
    an den Dank für die bedeutsame Anregung 
    vergaß. Jede Gesellschaft ist undankbar, das 
    macht nichts. Aber wir haben beide ein 
    wenig Schuld daran, da wir die Wirkung 
    auf die Wiener nicht genug vergberechnet 
    haben; es wäre leicht gewesen, die kritischen 
    Anspielungen ganz wegzulassen und das 
    direkte Versprechen wissenschaftlicher Freiheit 
    aufzunehmen, und wir hätten ihnen die 
    Gegenwehr ziemlich erschwert. Ich glaube, 
    meine lang aufgespeicherte Abneigung 
    gegen den Wiener Kreis u Ihr Bruderkom-
    plex haben da mitgewirkt, uns kurzsichtig 
    zu machen.

  • S.

    Aber das ist nicht das Wesentliche. Wichtiger ist, daß 
    wir ein großes Stück Arbeit vollbracht haben, 
    das auf die Gestaltung der Zukunft einen 
    tiefgreifenden Einfluß nehmen wird. Es freut 
    mich zu konstatiren, daß wir beide uns in 
    ungetrübter Übereinstimmung befunden 
    haben, u ich danke Ihnen herzlich für Ihre 
    doch erfolgreiche Unterstützung.

    Die Ereignisse werden jetzt weitergehen. 
    Es ist mir klar geworden, daß jetzt der Mo-
    ment ist, um einen lange keimenden Entschluß 
    auszuführen. Ich lege die Führerschaft der 
    Wiener Gruppe nieder u ziehe mich somit 
    von jeder offiziellen Einflußnahme zurück. 
    Die Führerschaft werde ich Adler übertragen, 
    nicht aus Neigung oder Befriedigung, sondern 
    weil er doch die einzige Persönlichkeit ist 
    und weil in dieser Stellung er möglicher-
    weise genötigt wird, den gemeinsamen 
    Boden mitzuvertheidigen. Ich habe ihm bereits 
    Mittheilung gemacht, den anderen werde 
    ichs am Mittwoch offiziell sagen. Ich glaube 
    nicht einmal, daß sie es sehr bedauern 
    werden; es war schon nahe daran, daß ich 
    in die peinliche Rolle des unzufriedenen 
    und überflüssigen Alten geriet. Das will 
    ich denn doch nicht, u darum gehe ich lieber
    vorzeitig, aber freiwillig. Die Führer sind 
    dann alle von gleichem Alter und Position 
    u können sich frei entfalten und mit 
    einander ausgleichen.

  • S.

    Wissenschaftlich werde ich gewiß bis zum letzten 
    Atemzug mitthun, aber all die Mühe des 
    Dirigirens und Zurückhaltens werde ich mir 
    ersparen können und mein otium cum 
    dignitate genießen. Mit meinem Rücktritt 
    werden gewiß allerlei Änderungen im 
    Verein kommen; die Örtlichkeit wird 
    nicht festgehalten werden usw.

    Ihnen wünsche ich sehr, daß Sie die geeigneten 
    Personen für die Bpester Ortsgruppe finden. 
    Sie sind in der Überwindung des Bruder-
    komplexes noch nicht soweit gekommen 
    wie Sie gewiß bestrebt sind. Leider scheinen 
    mir die beiden, Stein und D, auch nicht die 
    ganz richtigen Mitgründer zu sein. Wollen 
    Sie nicht vielleicht wie Abraham einen 
    Kurs für Ärzte u Studenten ankündigen? 

    Mit Jung hatte ich einen guten Tag in Rothenburg
    Er ist ganz auf der Höhe u wird sich hoffent-
    lich bewähren. Er greift jetzt die Paranoia 
    von der Mythologie an, wie wir gesehen 
    haben, u hat an Honegger einen glänzenden 
    Fang gemacht. Ich habe ihn furchtbar zuge-
    redet, den jungen Mann nicht von sich 
    zu lassen, sondern als Assistent dauernd 
    zu engagiren, was ihm ja seine Verhält-
    nisse gestatten, und hoffe auf seine Bedenk-
    lichkeit Einfluß gewonnen zu haben. Die 
    persönlichen Verhältniße sind bei den 
    Zürichern überhaupt viel respektabler 

  • S.

    als in Wien, wo man sich oft fragt, wo der ver-
    edelnde Einfluß der ΨΑ auf ihre Bekenner 
    eigentlich geblieben ist.

    Mit dem Nürnberger Reichstag schließt die 
    Kindheit unserer Bewegung ab; das ist 
    mein Eindruck. Ich hoffe, jetzt kom̄t eine 
    reiche und schöne Jugendzeit. –

    Zu Hause fand ich die Worcester Vorlesungen 
    im gelben Deckel vor; ich darf sie Ihnen 
    eigentlich vor Mitte des Monats nicht 
    schicken, bis das Heft des Am. J. of Psych. 
    hier angelangt ist. Leonardo geht morgen 
    in Druck, ich werde dann bald die Kleinig-
    keit über die „mütterliche Aetiologie“ 
    niederschreiben, vielleicht auch die Arbeit 
    über die Technik hervorholen. Die Zusendung 
    Ihrer „Niederschläge“ wird mich wie im̄er 
    sehr erfreuen. Meine besten Grüße 
    an Frau G.

    Auf baldiges Wiedersehen!
    Ihr Freud

     

    Anmerkung CD:  
    Stein und D: Stein und Décsi

    Anmerkungen aus: Brabant, Eva; Falzeder, Ernst; Giamperi-Deutsch, Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)

    Zum Kongress in Nürnberg: Der Zweite Internationale Psychoanalytische Kongreß hatte am 30. und 31. März in Nürnberg stattgefunden. Freud hatte ihn mit einem Vortrag über ›Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie‹ (1910d) eröffnet, Ferenczi ein ›Referat über die Notwendigkeit eines engeren Zusammenschlusses der Anhänger der Freudschen Lehre und Vorschläge zur Gründung einer ständigen internationalen Organisation‹ gehalten (1910, 69; unter dem Titel ›Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung‹ in Bausteine I, S. 275-289, veröffentlicht). Freuds und Ferenczis Plan, den Sitz der zu gründenden IPV nach Zürich zu verlegen und Jung als Präsident auf Lebenszeit mit außerordentlichen Machtbefugnissen auszustatten - so sollte ihm jeder Vortrag oder Artikel zur Genehmigung vorgelegt werden -, rief bei den Wienern, vor allem bei Adler und Stekel, Widerstand hervor. Die Macht des Präsidenten wurde daraufhin eingeschränkt und seine Amtszeit auf zwei Jahre begrenzt. Im Gegenzug bot Freud Adler den Vorsitz der Wiener Vereinigung und, mit Stekel, die Schriftleitung des neuen ›Zentralblatts für Psychoanalyse, Medizinische Monatsschrift für Seelenkunde‹ an. Als offizielles Organ der Vereinigung wurde das ›Korrespondenzblatt‹, redigiert von Jung als Präsident und von Riklin als Sekretär der IPV, gegründet.

    otium cum dignitate: Lat., Muße mit Würde, d.h. ein ehrenvoller Lebensabend; von Cicero (106-43 v.C.) öfters gebrauchte Redewendung.

    Kurs für Ärzte und Studenten: Karl Abraham hatte im März an acht Abenden einen Kurs über die Neurosenlehre Freuds in seiner Wohnung abgehalten. (Freud/Abraham, 22.2.1910, Briefwechsel, S. 92).

    Mit Jung in Rothenburg: Im Anschluß an den Nürnberger Kongreß.

    Paranoia, von der Mythologie her: Jung wiegte sich "im beinahe autoerotischen Genuß [s]einer mythologischen Träume" (Freud/Jung, 17.4.1910, Briefwechsel, S. 340f.), was zur Publikation von ›Wandlungen und Symbole der Libido‹ (Jahrbuch, 1911, 3: S. 120-227 und 1912, 4: S. 162-464) führte, jener Arbeit, die den wissenschaftlichen Bruch mit Freud einleitete.

    Johann Jakob Honegger: Johann Jakob Honegger (1885-1911), Züricher Psychiater, Schüler und enger Mitarbeiter Jungs. Er beging ein knappes Jahr später Selbstmord (vgl. 207 F). Freud hielt viel von ihm, der sich "durch einen Versuch an meinem Leibe glänzend eingeführt" (Freud/Jung, 2.2.1910, Briefwechsel, S. 320) hatte.

    Am. J. of Psych.: American Journal of Psychology. 
    Jenes Heft (21, Nr. 2-3), in dem Freuds Amerika-Vorlesungen publiziert wurden.

    „mütterliche Aetiologie“: Freuds Arbeit ›Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne‹ (1910h), die in der folgenden Nummer des ›Jahrbuchs‹ erschien und in der Freud den dort geschilderten Typus auf eine infantile "Fixierung der Zärtlichkeit an die Mutter" (S. 70) zurückführte.